Tonische Immobilität Evolutionärer Ballast? Warum Haie manchmal erstarren und sich selbst gefährden

Weißer Hai unterwasser  nach einem Angriff auf einen Köder
Nicht bei allen Haien klappt der Trick mit der Rückenlage. Doch sollte einmal einer so auf Sie zustoßen, ist es zumindest einen Versuch wert
© Ken Kiefer 2 / Getty Images
Die Rückenlage löst bei manchen Haien einen tranceartigen Zustand aus. Forschende haben untersucht, welchen Sinn das hat

Aus der Dunkelheit des Meeres stößt der Hai hervor, mit weit geöffnetem Maul schwimmt der Räuber geradewegs auf den Taucher zu. Da drückt der Mensch die Nase des Haies herunter, der Hai macht eine Art Salto, er gerät in Rückenlage – und scheint auf einmal handzahm zu werden. 

Tatsächlich erlebt der Hai eine tonische Immobilität: Sein Körper stellt vorübergehend die willkürlichen Bewegungen ein. Verschiedene Videos wie das hier folgende (etwa bei Minute 2:06) dokumentieren das Phänomen.

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Überlebenswillige lieben diesen Trick

Bei anderen Lebewesen ist es als Schreckstarre bekannt. Beispielsweise stellen sich Opossums, Kaninchen, Eidechsen, Schlangen und sogar einige Insekten tot, um sich vor Fressfeinden zu schützen. Der Akt ist weit mehr als nur geschickte Schauspielerei: Die Lebewesen verlieren die Kontrolle über ihren Körper, dieser erstarrt, um den Todeszustand möglichst überzeugend zu imitieren. 

Bei Meeresbewohnern ist das Phänomen schlecht erforscht, wenn auch schon länger bekannt. Bei manchen Haien, aber auch Rochen, wird dieser Zustand ausgelöst, wenn man sie auf den Rücken dreht, in der Fachsprache: dorsoventrale Inversion. Sie hören auf, sich zu bewegen, ihre Muskeln entspannen sich, und sie treten in einen tranceartigen Zustand ein. Forschende nutzen dies aus, wenn sie den Tieren Peilsender anbringen. Und so mancher Taucher konnte sich auf diese Weise vor einem Angriff schützen.

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Viele denken bei Haien unweigerlich an Mäuler voll säbelspitzer Zähne, an stumpfsinnige Räuber, die alles fressen, was ihnen vor die Schnauze schwimmt. Doch diese Vorstellung hat mit der eigentlichen Natur der formschönen Fische nicht viel zu tun. Haie haben atemberaubend feine Sinne, sie sind lernfähig, und sie schließen zuweilen Freundschaften untereinander

Aber welchen Sinn hat dieses Verhalten? Dieser Frage sind nun Jodie L. Rummer und Joel Gayford von der James Cook University in Queensland, Australien, nachgegangen. Die Forschenden der Meeresbiologie untersuchten das Auftreten des Verhaltens bei 13 Knorpelfischen, Chondrichthyes, zu denen Haie und Rochen gehören. Bei sieben Arten konnten sie die tonische Immobilität nachweisen, bei sechs nicht. Daraus rekonstruierten sie die Evolution des Verhaltens bei dieser Überart.

Überlebenstrick? Paarungsverhalten? Eher unwahrscheinlich

Drei mögliche Erklärungen sind für die tonische Immobilität bei Haien verbreitet. Die gängige ist jene, die auch häufig für Landwesen gilt: Die Haie stellten sich tot, um nicht gefressen zu werden. Doch dies sei laut den beiden Forschenden unwahrscheinlich als Erklärung, denn noch nie sei daraus ein Vorteil beobachtet worden, im Gegenteil würden Haie umso leichter zum Opfer. Nach verschiedenen Beobachtungen nutzen Orcas die tonische Immobilität aus, wenn sie Haie angreifen: Sie drehen ihre Beute um, machen sie dadurch wehrlos und haben dadurch leichtes Spiel, an die begehrte nährstoffreiche Leber zu kommen. Die tonische Immobilität erweise sich also eher als Nachteil für die Haie.

Einer anderen Erklärung zufolge würden männliche Haie das Verhalten bei weiblichen Exemplaren während der Paarung auslösen. Doch das erklärt nicht, warum statt nur weiblicher Haie auch männliche den "eingefrorenen" Zustand erleben, zudem macht die Immobilität die Weibchen anfälliger für erzwungene Paarungen. Und auch die dritte Erklärung sei laut den beiden Forschenden ohne jeden Beleg, demnach verfallen die Haie in den Zustand, um sich vor einer Reizüberflutung zu schützen.

Deswegen rekonstruierten Rummer und Gayford das Auftreten des Verhaltens über Hunderte von Millionen Jahren in den Haifamilien. Daraus leiten sie eine unerwartete Erklärung ab: Die Unbeweglichkeit bei Haien könnte ein evolutionärer Ballast sein, ein heute eher nachteiliges Muskelgedächtnis aus sehr, sehr alter Zeit. 

Zu geringer evolutionärer Druck

Ihre Untersuchung ergab, dass die Immobilität ein Merkmal ist, das sich nicht erst ausgebildet hat, als sich die verschiedenen Arten von Haien und Rochen ausdifferenzierten, sondern sei schon beim Urfahren vorhanden gewesen und vermutlich noch viel früher entstanden. Damals muss das Verhalten noch einen Zweck erfüllt haben, doch als sich die Umwelt veränderte, ging dieser wohl verloren. Das ("plesiomorphe") Verhalten aber blieb. 

Zumindest bei vielen Arten. Die zwei Forschenden wiesen hingegen bei fünf Arten nach, dass sich bei diesen die tonische Immobilität zurückgebildet haben muss, und das jeweils unabhängig voneinander. Bei ihnen war der Nachteil schlicht zu groß. Beispielsweise bei Kleinen Riffhaien und bodenbewohnendeb Rochen, die sich innerhalb von Korallen durch enge Spalten quetschen müssen und dabei eher mal in Rückenlage geraten. Würde dann die tonische Immobilität einsetzen, könnten sie stecken bleiben oder leichter gefressen werden. Diese Arten legten daher ihre Fähigkeit zur Unfähigkeit ab. 

Bei manchen Haiarten hingegen habe der gelegentliche Zustand des Einfrierens überlebt, weil es wohl nicht genügend evolutionären Druck dagegen gab. Obwohl Orcas ihn sich ab und zunutze machen. Die Forschenden schreiben dazu: "Es ist eine gute Erinnerung daran, dass nicht jedes Merkmal in der Natur eine Folge der Anpassung ist. Manche sind einfach nur historische Macken."

mls / mit Material von "The Conversation"