Es gibt Inseln, die verändern das Leben. Das der Natur. Und das der Menschen. Auf solch eine Insel steuern wir zu. Wild und zerklüftet erhebt sie sich aus dem Pazifik, 13 Seemeilen jenseits der Küste Panamas. Überwuchert von Regenwald, gesäumt von Korallenriffen und Palmenstränden: Coiba, "La Isla del Diablo". Die Insel des Teufels.
Abstoßend und anziehend. Sie ist ein Fluchtpunkt der Sehnsucht. Unsere Gruppe aus Biologen, dem Fotografen Christian Ziegler und mir hat monatelang darauf hingeträumt, sie zu erkunden. Andere wollten nur von hier weg. Menschen wie Narciso Bastidas.
Hier also liegt meine Zukunft, dachte Bastidas, als er am 27. Januar 1988 auf Coiba ankam – in Handschellen. Die Insel war eine Strafkolonie: Mehr als 1000 Mörder, Drogenhändler, Erpresser und politische Gegner hatte das Militärregime Manuel Noriegas hierher verbannt.
In Panama galt Coiba als Synonym für das Böse. Zurück kämen wenige, hieß es. Flüchten könne man nicht. Zu weit sei die Küste entfernt, zu stark die Strömung, und im Wasser wimmele es von Haien.
Bastidas, 23 Jahre alt, in einen Mordfall verwickelt und dafür zu 17-jähriger Haft verurteilt, hatte davor jedoch keine Angst: Er war ein Fischer vom Volk der Kuna, er kannte das Meer. Auf Coiba erblickte er sofort Bäume, aus denen er sich ein Boot schnitzen könnte, dazu genügend Verstecke im dichten Grün. Die Wellen würden die Flucht übertönen. Hier werde er nicht lange bleiben müssen, freute er sich. In wenigen Wochen wäre er fort.
Coiba scheint seine Geschichte beschützen zu wollen
Der Kapitän manövriert vorsichtig in die Bucht, die wir auf der Karte als einzigen sicheren Ankerplatz dieser Inselseite entdeckt haben. Über dem Wald hängen Schleier aus blassen Wolken. Betäubende Hitze, schon jetzt, früh am Morgen.
Wir lauschen der Brandung, wir sind gewarnt. Die Insel des Teufels scheint ihre Geschichte beschützen zu wollen; sie verschanzt sich. Riffe, Untiefen und Mangroven umgeben die meisten Ufer, dahinter wegloses Dickicht. Und an der Westseite rollen tosend die Wogen aus dem offenen Pazifik heran.
Also warten wir, lesen den Rhythmus der Wellen, nutzen dann ihren Schub. Er trägt uns schlingernd ins seichte Wasser, gerade weit genug, dass wir abspringen und schnell die Ausrüstung abladen können: Zelte und Packsäcke, Forschungsgeräte, Essenskisten. Dann dreht der Kapitän wieder bei.

Gelandet - an einem einsamen, von Kokospalmen flankierten Strand. Ein Ort wie aus einer Fototapete. Und jetzt?
Hinter den Palmen wölbt sich ein Schutzwall aus Schlingpflanzen, Farnen, Lianen auf. Wie sollen wir dort hindurchkommen? Wie zurückfinden? Und was ist mit den Schleifspuren, die vom Meer aus ins Dickicht führen und offensichtlich von ziemlich kräftigen Krokodilen stammen?
Aber die Forscher sind bereits ausgeschwärmt. Mit Macheten, Markierband und GPS-Geräten, Schmetterlingsnetzen und Bienenködern, Kamerafallen, Ferngläsern, Vogelbüchern und Mikrofonen wollen sie versuchen, an den Hängen des Cerro de la Torre, des höchsten Bergs von Coiba, genauer zu klären: Was für Tiere und Pflanzen haben sich auf dieser eigenartigen Insel entwickelt?
Coiba ist eine vergessene Welt. Geboren vor rund 70 Millionen Jahren aus dem vulkanischen Hotspot von Galápagos, ist sie langsam durch den Pazifik nach Osten gewandert – und heute die größte Pazifikinsel Zentralamerikas. Eine Fläche von 503 Quadratkilometern, fünf Mal Sylt: Doch der menschlichen Aufmerksamkeit ist sie beinahe verborgen geblieben. Fast ein Jahrhundert lang.
Seit der Gründung der Strafkolonie im Jahr 1919 wagte außer den Häftlingen und ihren Bewachern niemand, auf Coiba zu siedeln, zu jagen, zu roden. Selbst um die Riffe des Archipels, der noch 38 weitere, kleine Inseln umfasst, schlugen Fischer stets einen Bogen – aus Angst, von Strafgefangenen überfallen zu werden.
So sind die Inseln und Meeresstraßen des Archipels zu einem Refugium für das Leben geworden. Regenwälder, Mangroven, Korallenbänke haben hier weitgehend ungestört überdauert, bis das Gefängnis 2004 schließlich aufgelöst und Coiba zum Nationalpark, 2005 sogar von der UNESCO zum Welterbe erklärt wurde.
Für Wissenschaftler birgt die Inselwelt damit eine einzigartige, kostbare Zeitkapsel: Hier können sie Lebensräume erkunden, die auf dem Festland Zentral amerikas beinahe völlig verschwunden sind.
Allerdings: Bislang ist die Forschung noch ganz am Anfang. Man kennt längst noch nicht alle Pflanzen- und Tierarten des Archipels. Viele der schwer zu erreichenden Täler und Buchten Coibas und ihrer Nebeninseln wurden noch nie untersucht, viele Tiergruppen vollkommen ignoriert.
Deshalb stolpern und kriechen wir nun seit Tagen und Nächten durch grüne Wände, lassen uns von Dornen zerkratzen, von Mücken zerstechen, von Ameisen beißen. In einer Initiative der Fotografenvereinigung iLCP (International League of Conservation Photographers) und von GEO, unterstützt vom weltberühmten Smithsonian Tropical Research Institute, den Umwelt- und Forschungsbehörden Panamas und mehreren Stiftungen, haben wir mehr als zwei Dutzend Experten dafür begeistern können, die Inventur der Natur in Coiba weiterzuschreiben. Wir wollen die Artenlisten ergänzen – und so auch besser die Regeln verstehen, nach denen das Leben sich in den Tropen, den artenreichsten Breitengraden der Erde, verwandelt.
Bastidas lernte die Regeln Coibas schnell. Sein Empfang: ein Spalier, in dem die Wachen mit Knüppeln auf alle Neuankömmlinge einschlugen. „Calle de Honor“, „Straße der Ehre“, nannten die Häftlinge das Empfangsritual, in dem für manche von ihnen die Zeit auf der Insel bereits zu Ende ging. Wer zusammenbrach, stand nicht mehr auf. Wer sich wehrte, verbrachte Tage, manchmal gar Wochen in Isolationshaft: in einer der fensterlosen, winzigen Zellen am Ufer, die bei Flut bis zur Hüfte mit Wasser vollliefen.
Alle anderen wurden auf eines der 23 Lager der Insel verteilt, in denen je 30 bis 50 Gefangene von fünf Polizisten bewacht wurden. Man schlief zu dritt in den Zellen, um vier Uhr früh schallte eine Sirene zum Morgenappell. Dann ging es hinaus auf die Felder.
Die Häftlinge zogen Yukkapalmen, Avocados, Orangen und Reis, hielten Schweine, Pferde und Rinder. Fast alle Erträge aber wurden zum Festland verschifft. Und immer wieder passierte es, dass einige der Gefangenen, vor allem der aufmüpfigen, während der Arbeit „bei einem Fluchtversuch“ in den Wäldern von ihren Bewachern erschossen wurden.
Bastidas begann zu zweifeln: Auf Coiba durfte er niemandem trauen, jede falsche Bewegung konnte die letzte sein. Würde er wirklich von hier entkommen?
Nicht schreien! Das regt die "Killerbienen" nur auf
Aus dem Wald dringt ein gellender Schrei, er hallt weit in die Bucht hinaus, darauf Klingenschläge, rauschende Zweige, ein eigenartiges, hetzendes Summen. Und wieder Stille. Wir eilen den Pfad entlang, den die Forscher geschlagen haben, folgen den Schnittspuren der Macheten und gelben Markierungsbändern. Bis plötzlich der kolumbianische Fledermausforscher Sergio Estrada vor uns steht: Seine Hemdsärmel sind zerschlissen, die Arme blutig zerkratzt. In seinen Augen: Panik.
„Habt ihr Verbandszeug dabei?“, japst er. „Antiallergika?“ Beim Öffnen des Wegs hat Estrada mit der Machete eine Liane getroffen, an der ein Bienennest hing – und damit ein Inferno entfesselt.
Die „afrikanisierte“ Honigbiene, hier auf Coiba? Wissenschaftlich betrachtet, ist das ein spannender Fund: Denn diese hitze tolerante Hybridform ist einem Unfall entsprungen. In den 1950er Jahren wollten Imker in Brasilien afrikanische Bienen mit europäischen kreuzen, ließen jedoch 26 der Königinnen aus dem Labor entkommen. Die dadurch „afrikanisierten“ Bienenvölker verbreiteten sich rasant. Bis in den Süden der USA sind sie ausgeschwärmt, haben Regenwälder und Wüsten erobert – und offenbar selbst Coiba erreicht: eine unglaubliche Invasion, die bezeugt, wie menschliche Schöpfungsexperimente außer Kontrolle geraten können.
Estrada allerdings fehlte im Wald die Muße, um sich Gedanken darum zu machen. Er hatte ein dringenderes Problem: Wenn sich afrikanisierte Honigbienen bedroht fühlen, rasten sie aus. Ihre Schwärme verfolgen Störenfriede über Hunderte Meter und bis zu 24 Stunden lang ohne Pause. Und wenn die Meute ihr Opfer erreicht, lässt sie oft selbst nach Hunderten von Stichen nicht von ihm ab. Allein in Brasilien kommen nach Schätzungen jedes Jahr gut 170 Menschen bei Attacken der „Killerbienen“ zu Tode.
Es gibt Regeln, um einen Angriff zu überleben. Doch sind sie kontraintuitiv: Nicht schreien! Das regt die summenden Ungeheuer nur auf. Nicht mit den Armen fuchteln! Sonst rufen betroffene Bienen die anderen mit chemischen Botenstoffen zu Hilfe. Also verstecken? Schlechte Idee: Der Schwarm wird dich finden.
Estrada wusste dies alles und traf eine schnelle, gute Entscheidung: Er rannte. Nicht den Weg zurück, den er gerade geschlagen hatte (denn dort folgten andere Forscher), sondern querab, Machete voraus, einen Abhang hinunter. Die Bienen jagten ihn. Also Haken nach links, geradeaus, wieder abbiegen. Warten. Weiterrennen. Nach 30 Minuten endlich hatte Estrada die aufgebrachten Verfolger abgeschüttelt.
Aber er zittert noch. 20 Stiche und einen lädierten Knöchel hat er davongetragen. Und im Blut genügend Adrenalin, um die nächste Nachtschicht zur Fledermausforschung ohne Kaffee zu überstehen.
Wir rufen per Funk die Boote – und kehren, mit Estrada zusammen, um.
Den ersten Fluchtversuch unternahm Bastidas nach einem Jahr. Ein Cousin von ihm, der als Häftling im Hafen Coibas arbeitete, konnte Werkzeuge stehlen, sogar einen Motor. Bastidas hatte dazu ein Floß gebaut. Doch in der entscheidenden Nacht stürzte er auf dem Weg zum Versteck einen Abhang hinunter, brach sich den Fuß, kam humpelnd zu spät. Sein Cousin war allein losgefahren.
Zwei Monate später wagte Bastidas noch einen zweiten Versuch. Aber diesmal weihte sein neuer Verbündeter heimlich ein Dutzend andere Häftlinge in die Fluchtpläne ein: Mit Macheten und Messern bewaffnet, wollten sie mitkommen. Das wurde Bastidas zu heiß.
Er gab auf, würde nie mehr zu fliehen versuchen. Verzweifelt schleppte er sich fortan durch die Arbeit, versank nachts in Albträumen, tags in Selbstmordgedanken. Die Insel des Teufels hatte Bastidas gebrochen.
Die Insel des Teufels ist auch eine Artenfabrik
Coibita, die nordöstliche Nachbarinsel Coibas. Hier haben wir unser Basislager errichtet: in der Ruine eines Betongebäudes, das dem Smithsonian-Institut provisorisch als Forschungsstation dient. Immerhin: Es gibt Wasser und Strom, eine Küche, zwei Duschen, Platz für Zelte und Hängematten. Und es gibt Omar López.
Der 49-jährige panamaische Ökologe mit der Statur eines Brillenbären ist der Dirigent unseres Teams: Er lenkt das Kommen und Gehen der Biologen, die von hier aufbrechen, um in Vorstößen von je ein bis drei Tagen verschiedene Teile Coibas zu untersuchen. López hat die Geduld für Details, für Tidenund Bootspläne. Und für Rückschläge.
„Kopf hoch, so schlecht sieht’s zur Halbzeit doch gar nicht aus!“, sagt er, als wir am Abend von unserem ernüchternden Aufstiegsversuch zum Cerro de la Torre zurückkehren und gemeinsam, getröstet von einer schnell zur Neige gehenden Flasche Rum, die Ergebnisse aus den ersten zehn Tagen unserer Expedition überprüfen.
Mehr als ein Dutzend Tierarten, die für die Inselwelt bisher unbekannt waren, haben die Wissenschaftler schon aufgespürt: sechs neue Fledermausarten, zwei Schlangen-, drei Echsen-, eine Schildkrötenspezies, dazu etliche Spinnen, Skorpione, Insekten. Die Funde bestätigen: Die Insel des Teufels ist nicht nur ein Zufluchtsort für Preziosen der Biologie, für rote Ara-Papageien und Würgadler beispielsweise.
Sie ist auch eine Artenfabrik.
Auf Inseln erblüht die Vielfalt: In der Isolation findet das Leben die Chance, neue Wege zu gehen. So mag eine Eidechse beispielsweise, die mit außergewöhnlichen Zähnen geboren wird, auf dem Festland damit nicht viel anfangen können. Auf einer Insel jedoch, in der noch nicht alle Rollen vergeben sind, gelingt es ihr so vielleicht, neue Nahrungsquellen zu erschließen oder sich besser gegen Feinde zu wehren.
Die Besonderheiten der Pioniere setzen sich in den folgenden Generationen fort, verstärken sich gerade auf kleinen, entlegenen Inseln dabei oft rapide – und entwickeln sich letztlich zu neuen Facetten im Artengefüge weiter.
So auch auf Coiba: Mindestens 20 endemische, also nirgendwo sonst auf der Erde zu findende Arten und Unterarten von Vögeln haben sich hier entwickelt. Zudem Varianten von Orchideenbienen und Mücken, Korallenschlangen, Süßwasserringelwürmern, Rauten- und Rötegewächsen. Sogar von Brüllaffen, Beutelratten, Agutis und Weißwedelhirschen gibt es auf Coiba einzigartige Repräsentanten.
Es scheint, als wachse hier im Pazifik eine ganz eigene, neue Welt heran – und zwar mit verblüffendem Tempo, wenn man bedenkt, wie jung die Inseln aus erdhistorischer Perspektive noch sind. Und wie relativ nahe sie vor dem Festland liegen.
Bis vor rund 12 000 Jahren, als das Weltklima kühler, der Meeresspiegel weit niedriger war, verband eine Landbrücke ihre Felsen mit jenen des Festlands. Erst dann stieg der Ozean wieder an, der Coiba-Archipel trennte sich.
Funde von Pfeilspitzen, Tongefäßen und Fischfallen zeigen, dass zumindest die Hauptinsel zudem seit spätestens 250 n. Chr. von Fischern und Bauern besiedelt war. Als die spanischen Konquistadoren Coiba 1516 erreichten, trafen sie Hunderte Guaymí-Krieger an, gepanzert mit Baumwollrüstungen und bewaffnet mit Speeren, deren Spitzen aus Haizähnen hergestellt waren. Nur rund 30 Jahre später allerdings hatten die Spanier den Letzten der Guaymí von Coiba als Sklaven in ihre Goldminen deportiert. Seit dieser Zeit sind die Inseln sich selbst überlassen.
„Auf Coiba erleben wir die Geburt eines neuen Galápagos“, glaubt Omar López. Genau wie sich dort jene Finken und Spottdrosseln, die Charles Darwin zur Evolutionstheorie inspirierten, durch Spezialisierungen immer weiter in unterschiedliche Arten aufspalteten, liefe auch auf Coiba die Evolution wie im Zeitraffer ab – weil es den Raum dafür gebe.
Von zahlreichen Tierarten, die auf dem Festland weit verbreitet sind, fehlt im Archipel bislang nämlich jede Spur: von Raubkatzen, Faultieren, Wickelbären und Stachelschweinen etwa. López nimmt an, dass dies anderen, wandlungsfähigen Tieren und Neubesiedlern entscheidend geholfen hat, sich im Eiltempo auszubreiten.
Doch er räumt ein: Um die Biografien der Arten tatsächlich genauer zu rekonstruieren, müssten die Wissenschaftler sich zum einen erst in die DNS-Analysen vertiefen – und zum anderen länger und häufiger ausschwärmen: auch zu den Nachbarinseln des Archipels. Zum Vergleich.
Als Bastidas sich sicher war, sein Leben könne nicht schlimmer werden, fiel das US-Militär auf Coiba ein: am 30. Dezember 1989. Die Amerikaner hatten das Noriega-Regime gestürzt. Die Häftlinge durften Coiba zwar nicht verlassen, aber sie waren nun weitgehend auf sich selbst gestellt: Sie schliefen nicht mehr in Zellen, sondern in Hängematten in Unterständen, die sie aus Balsastämmen und Palmwedeln errichteten. Ihre Bewacher hingegen, die der neuen Regierung die Treue geschworen hatten, verschanzten sich nachts.
In den Lagern regierten dieselben Verbrecherbanden, die auch Panama City unter sich aufgeteilt hatten. Immer wieder floss Blut zwischen ihnen. Und Bastidas fürchtete mehr denn je um sein Leben – bis die neue Regierung es einer Gruppe von spanischen Taxonomen erstmals erlaubte, Coiba zu erforschen. Bastidas sollte die Expeditionen des Teams begleiten; und darin fand er sein Glück: Er stieg für die Wissenschaftler die steilsten Hänge und reißendsten Flüsse hinauf, hielt in der Nacht schlaflos Wache, schürte die Feuer. Er half, die Blattformen, Samen und Früchte von Dutzenden Baum arten zu kartieren. Er begann, den Wald mit anderen Augen zu sehen.
Und eines Tages, bei einer Forschungstour in den Sümpfen, las Bastidas ein Krokodilbaby auf, das er behalten und aufziehen durfte. Zum ersten Mal hatte er nun auf Coiba auch einen Freund. Er nannte ihn Tito, fütterte ihn mit Essensresten. Bis am 6. August 1998 der Tag der Entlassung kam.
Unser Wasser wird knapp, auch die Kraft
Zwischen Jicarón, dem zweitgrößten Eiland des Archipels, und Coiba verläuft ein von rasender Strömung durchzogener Meerescanyon. Im Wasser jagen hier häufig Haie, Orcas und Thunfische. Und an Land? Das weiß niemand. Noch weit mehr als Coiba nämlich ist Jicarón für die Wissenschaft bislang Terra incognita.
Wir haben die Zelte am Strand aufgeschlagen – so weit wie möglich entfernt von der Flussmündung, in der sicherlich Krokodile lauern. Zur Erkundung der Insel allerdings müssen wir doch einem Wasserlauf folgen, und queren von hier in den Wald hinein.
Eine Wildnis fern aller Fototapeten-Klischees empfängt uns: Tausend Lianen, in denen wir uns verheddern. Barrieren aus umgerissenen, faulenden Baumstämmen. Glitschige, steile Felswände, die uns zu mühsamen Umwegen zwingen.
Meter für Meter: ein Krampf. Immer häufiger legen wir Pausen ein. Fluchen. Schärfen die Klingen unserer Macheten. Und schlagen weiter gegen die unerträgliche Hitze an. Unser Wasser wird knapp, auch die Kraft. Und es darf nichts passieren, das zehrt an den Nerven. Bei einem Unfall wäre das nächste Krankenhaus viele Stunden entfernt.
Dann endlich lichtet sich das Gestrüpp – um uns herum ragen Baumriesen 30, manche gar 40 Meter hoch in den Himmel. Sie verschränken ihre mit Epiphyten besetzten Arme, auf denen Weißschulterkapuziner- und Brüllaffen turnen. Im Unterholz ziehen eigenartige rotäugige Libellen und seltene Schmetterlinge vorbei.
Ein pazifischer Tieflandregenwald, so ursprünglich, wie selbst die Botaniker unseres Teams ihn selten erlebt haben. Und doch ist er bizarr: Zwischen die Baumgiganten mischen sich Palmen und andere Küstenbäume, und den Erdboden haben Krabben durchlöchert, die normalerweise so tief im Wald nicht zu finden sind.
Noch frappierender als auf Coiba zeigt sich auf Jicarón, wie sich das Leben auf Inseln ganz neu sortiert: Vom Zufall gesteuert, kommen hier Arten zusammen, die sonst getrennt sind. So ergeben sich neue Wechselbeziehungen zwischen Jägern und Räubern, Wirten und Parasiten, Feinden und Partnern. So werden die Rollen und Chancen noch einmal verteilt.
Jicarón ist so klein, dass ein einziger Tag genügt, um gleich mehrere solcher Inseleffekte zusammenzutragen. Der Ornithologe George Angehr etwa berichtet am Lagerfeuer, dass er im Dickicht Elfenwaldsänger und Weißkehldrosseln entdeckt habe: Vögel, die auf Panamas Festland nur in freien Flächen im Berg land vorkommen, auf Jicarón (ebenso wie auf Coiba) jedoch auch die Wälder erobert haben.
Peter Houlihan wiederum, ein Biologe aus Florida, erzählt von Laubfröschen einer Spezies, die es zwar auch an der Küste gibt. Hier aber, auf der Insel, seien ihre Vertreter gigantisch: die meisten so groß wie Meerschweinchen. Und womöglich, glaubt Houlihan, verhalten sie sich auch so. Auf Jicarón nämlich sind bislang nur wenige kleine Nagetiere bekannt. Ob die Frösche vielleicht ihren Platz eingenommen haben?
Die verrückteste Beobachtung schließlich hat Claudio Monteza beim Aufstellen der Kamerafallen gemacht. In einem Flusslauf ist er auf Dutzende große Mandelschalen gestoßen, die jemand mit Steinen zertrümmert und ausgekratzt haben muss.
Aber wer? Monteza verdächtigt die Kapuzineraffen. Zwar ist solch ein Verhalten für diese Tiere der Gattung Cebus in den Regenwäldern des Festlands bislang nie beschrieben worden. Auf Coiba jedoch wollen Ranger es schon beobachtet haben: Jeder Affe in einer Horde besitze dafür sogar einen eigenen Stein; und nicht nur Mandeln hätten sie damit geöffnet, sondern auch Flusskrebse oder Krabben.
Es ist bislang nicht gesichert, doch es würde zu diesen Inseln des Teufels passen: dass die kleinen Primaten hier in der Einsamkeit, in der sie am Boden herumtollen können, ohne Raubtierattacken fürchten zu müssen, zu Nussknackern aufgestiegen sind – und ihr erlerntes Wissen seither in jeder Generation an die Jungtiere vererben.
Wie lange werden sie diese verblüffende Tradition fortsetzen können?

Inseln sind überall. Nicht nur im Pazifik, auch auf dem Festland entstehen sie – jeden Tag. Die letzten Waldgebiete der Erde werden zerschnitten, immer kleiner werden die Korridore, in denen Wildtiere sich bewegen können. Der Mensch zerstückelt die Welt.
Orte wie Coiba können helfen, die Folgen unseres Tuns zu verstehen und rechtzeitig gegenzusteuern. Denn sie veranschaulichen uns: Je kleiner der Lebensraum einer Insel ist, desto empfindlicher wird er. Arten entstehen hier, aber sie sterben auch schnell wieder aus – oder werden von Eindringlingen verdrängt, von „Killerbienen“, Ratten und Menschen. Das System kann leicht kippen.
Auch Coibas Zukunft steht auf dem Spiel: Seit einigen Jahren steuern immer mehr Tauchtouristen und Kreuzfahrtschiffe die Inselwelt an. Damit wird auch die Forderung lauter, die Insel mit „Öko-Hotels“ zu bebauen. Wo aber dürften die stehen – und wo besser nicht? Was geschieht auf den Nachbarinseln? Und wie wirkt sich der Tauchtourismus im Archipel aus?
Zu den Riffen der Inselwelt werden wir später noch abtauchen. Und auch die Hänge des Cerro de la Torre gelingt es uns schließlich, in einem zweiten, beherzten Versuch hinaufzusteigen und zu kartieren.
Als ich vom Gipfel die Aussicht genieße, wird mir zum ersten Mal klar, wie groß Coiba tatsächlich ist – und wie viel Ungewisses hier noch verborgen sein muss. In den nur 20 Tagen unserer Expedition haben wir mehr als 50 für den Archipel zuvor unbeschriebene Arten gefunden, dazu zahlreiche Inseleffekte dokumentieren können. Ein Erfolg, der erahnen lässt, was mit größeren Studien vielleicht zu entdecken wäre – wenn Coiba weiter geschützt wird.
López, Estrada und all die anderen Forscher wollen bald wiederkommen, um daran weiterzuarbeiten. Die Insel des Teufels hat sie gebannt. Das verbindet sie.
Auch mit Narciso Bastidas.
Ich treffe ihn in der Ranger-Station von Coiba, einer kleinen, weltvergessenen Ansammlung von Betonbauten im Nordosten der Insel. Ein in sich ruhender, kleiner, kräftiger Mann, Anfang 50, verheiratet: Er ist auf die Insel, die ihm das Leben zur Hölle gemacht hat, zurückgekehrt.
„Als ich aufs Festland entlassen wurde, habe ich nirgendwo Fuß gefasst“, erzählt Bastidas. Drei Jahre lang trieb er durch Panamas Hauptstadt. Vorbestraft. Kuna. Ohne Ausbildung, ohne Ziel. Dann bot ihm die Nationalparkverwaltung an, auf Coiba als Ranger zu arbeiten.