Manchmal sind die beiläufigsten Momente die wahrsten. Kürzlich in einem Kiosk in Berlin. Der Besitzer unterhält sich mit einer jungen Frau, beide kennen sich offenbar flüchtig.
Er: "Du als Mutter bist doch auch für Tempo 30 in der Stadt, oder?"
Sie (entrüstet): "Nein, nur weil ich Mutter bin, bin ich für gar nichts."
Er: "Aber deine Kinder!"
Sie: "Sollen lernen, mit Tempo 50 klarzukommen. Hab ich auch gelernt."
Er: "Bisschen hart für 'ne Mutter."
Sie: "Hör doch auf mit deinem Mutterquatsch. Ich bin auch noch ein Mensch."
Der Mann atmet tief ein und schaut in plötzlicher Befremdung auf diese Mutter, diese unsanfte.
Die Mutter ist die letzte Fiktion unserer Zeit. Als würde eine Geburt aus Frauen in all ihrer Verschiedenheit nicht ebenso unterschiedliche Mütter machen, sondern einen Singular: die Mutter. Mit eingebauter Weichheit und erwartbarer Meinung, mit Opferwillen und Gefühlsüberschuss. Von keiner anderen Lebenserfahrung, nicht von Karriere und Krankheit, nicht von Hochzeit und dem Abschied von Sterbenden nehmen wir an, dass sie Menschen derart grundlegend verwandeln wie die Geburt: von der Frau zur Mutter. Und damit zu einer mütterlichen Liebe, die ihresgleichen nicht kennt. Ein Mann, der zum Vater wird, erfährt nicht annähernd eine vergleichbare Umformung und Aufwertung. Kaum ein weiblicher Star versäumt heute nach einer Geburt die Bemerkung, durch das Kind ein besserer, liebevollerer Mensch zu sein. Und die Romanistin Barbara Vinken schrieb ein Buch mit dem programmatischen Titel: "Die deutsche Mutter". Im Singular. Doch diese Fiktion des Mütterlichen steht im dritten Jahrtausend unter Druck. Denn wir können ja immer weniger so tun, als würde der Begriff "Mutter" die Frauen in eine einzige aussagekräftige Kategorie sortieren.
Wir müssten sonst eine fertile Erfolgsmutter wie Ministerin Ursula von der Leyen mit einer Alleinerziehenden im Plattenbau wesensgleich setzen, eine Hausfrau auf dem bayrischen Land mit lesbischen Müttern in Szenebezirken, eine junge Adoptivmutter mit der bislang ältesten Spätgebärenden Deutschlands, einer 64-Jährigen, eine kalte, böse Mutter mit einer exemplarischen. Und eine gebärende mit einer nichtgebärenden.

Von "Möglichkeiten" sprach ihr Mann. Aber Julia Greiner (*Name geändert), damals 36, seit der dramatischen Geburt ihres ersten Kindes ohne Gebärmutter, schob den Gedanken beiseite, fand die Idee "technisch"; allein schon der Begriff: Leihmutter. Aber da gab es diesen Schmerz in ihr, wenn Freundinnen wieder schwanger waren. Die Biologie wolle eben eigene Kinder, eigene Gene weitergeben. Und nicht adoptieren. "Funktionierende Eierstöcke plus gesundes Sperma - wäre es da nicht dumm, das Machbare unversucht zu lassen?", insistierte ihr Mann.
Schließlich flogen sie zum Vorgespräch in die USA, dort ist Leihmutterschaft legal, anders als in Deutschland. "Wer macht so was - für Geld?", fragte Julia Greiner die Chefin der Vermittlungsagentur in der Nähe von San Diego. Frauen aus der Mittelschicht, antwortete die. Um sich etwas leisten zu können: ein größeres Haus, eine Ausbildung für die Kinder. Das Austragen sollte rund 20.000 Dollar kosten.
Bei einem Barbecue lernte die Hannoveranerin Pam kennen: verheiratet, Krankenschwester, zwei Kinder. Pam bekam dann Medikamente für den Aufbau ihrer Gebärmutterschleimhaut, Julia Greiner andere, um die Reifung ihrer Eizellen anzuregen. Beim nächsten Besuch in den USA ließ sie sich die Eizellen entnehmen und im Reagenzglas befruchten. Drei wurden der Leihmutter eingesetzt, um die Chance auf eine Schwangerschaft zu erhöhen. Zweimal trafen sie sich während der Schwangerschaft, aber nur kurz berührte Julia Pams Bauch. Zurück zu Hause, sehnte sie sich wie verrückt nach dem Kind. Gedanken wie "hoffentlich schläft Pam genug, hoffentlich isst sie ausgewogen", gingen ihr durch den Kopf. Nach der Geburt durfte Julia die Nabelschnur durchtrennen. Dann kam etwas, auf das sie nicht vorbereitet war. Der Arzt fragte: "Wer bekommt das Kind?" Julia sah Pam an, sah deren Erschöpfung und deren Stolz. Vielleicht fünf Minuten hielt Pam das Baby im Arm, dann übergab sie es.
Das sei der schwierigste Moment gewesen, sagt Julia Greiner. Weil es so real wurde, dass eine andere ihr Kind zur Welt gebracht hat. Heute, sechs Jahre später, sei dieses Kind, ein Junge, nicht weniger ihr Kind als ihr Erstgeborener. Doch wie wird sie es ihm erklären, dass Pam, die sie bereits zweimal besucht haben, mehr ist als nur eine gute Bekannte? Die Familie, die Nachbarn und enge Freunde wissen Bescheid. Ist es kindgerecht, zu sagen: Sie war so etwas wie eine Nanny für dich, hat neun Monate lang gut auf dich aufgepasst? Die Zeit drängt, die Brüder werden älter.
Zweifel an ihrer Entscheidung hat Julia Greiner nicht - es sei, sagt sie, die beste ihres Lebens gewesen.
Nie in der Bundesrepublik waren Mütter vielfältiger, nie haben sie so viel maternale Energie und Aufmerksamkeit auf so wenige Kinder gerichtet, nie war unklarer, welches Verhalten eigentlich von ihnen erwartet wird - ja, was überhaupt eine Mutter ist: die ein Kind auf natürliche Weise empfängt, die ihre Eizelle spendet, die eine fremde Eizelle aufnimmt, die das Kind austrägt oder die es aufzieht?
Die es allein oder mit einer anderen Frau, einer Partnerin, versorgt? Oder können gar Väter ebenso gute Mütter sein? Bis vor Kurzem noch nahmen Bindungsforscher an, die Mutter habe eine einzigartige, unvergleichliche Beziehung zum Nachwuchs, die stärkste Bindung. Das wird zunehmend bezweifelt, oder genauer: Auch andere Menschen, nicht nur die leibliche Mutter, können starke Bande zum Kind knüpfen.

Die Fundamente des Mütterlichen sind in Bewegung geraten. Und vielleicht besteht der große Triumph unserer Zeit sogar im Abschied von der Mutter. Nur hat sich das noch nicht herumgesprochen: Ausgerechnet deutsche Mütter halten, scheint es, am energischsten am Singular fest. So jedenfalls sieht es das Ausland. Neben der deutschen Mutter sehen "die französische Maman und die englische Mummy reichlich blass aus", schreibt die Philosophin Elisabeth Badinter aus Paris.
Das ist nicht als Kompliment gemeint: Ein bisschen zu mütterlich, zu angestrengt erscheint die deutsche Mutter aus der Ferne, als Hüterin einer Rolle, die sie zur Sklavin ihrer Kinder macht. Sie mag den Nachwuchs nicht in die Krippe geben, weil sie ihre Mutterliebe in den ersten Lebensjahren für unentbehrlich hält. Muss alles mit den Kindern ausdiskutieren, bis diese um engere Grenzen betteln. Hat verlernt, mit der Faust auf den Tisch zu hauen - und tut sie es doch, ersucht sie anschließend bei ihren Kindern Absolution. Ist liebevoll auf Kosten ihres weiblichen Liebreizes, opfert sich auf und beklagt ihren Opferstatus, macht es allen recht, aber niemandem scheint das recht zu sein.
So in etwa wird die deutsche Mutter skizziert. Ein Klischee? Natürlich.
Und immer auch ein Stück Wahrheit. Sogar für jene, die keine eigenen Kinder haben.
Sonja Lach hätte gern eigene Kinder gehabt. Doch als vor zwölf Jahren eine lange Beziehung zu Ende ging und ihr Beruf als Lehrerin sie nicht mehr erfüllte, bewarb sich die 30-Jährige als Leiterin in einem SOS-Kinderdorf. Für sie eine zeitgemäße Form von Mutterschaft: Man müsse in der heutigen Zeit nicht blutsverwandt sein, um zu einer Familie zu gehören. Die Kinderdörfer, gegründet 1949 für Kriegswaisen, hatten den Sprung in die Moderne längst vollzogen: Anders als früher ist es Kinderdorf-Müttern nun erlaubt, eigenen Nachwuchs zu haben. Sollte der richtige Mann kommen, könnte Sonja Lach Pflegekinder und biologische Kinder gemeinsam aufziehen.
Zunächst absolvierte sie ein Praktikum. Nach neun Monaten kam die Frage, ob sie so weit sei: Ein Neubau war fertig geworden, ein Einfamilienhaus mit Garten. Heute lebt Sonja Lach mit fünf Mädchen und Jungen zwischen fünf und 17 Jahren unter einem Dach. Missbrauch, seelische Erkrankung der Eltern oder Alkoholabhängigkeit - echte Waisen gibt es in den Kinderdörfern kaum noch, die meisten kommen aus dysfunktionalen Familien. Vermittelt werden sie vom Jugendamt an das Kinderdorf mit seinen etwa 60 Plätzen in acht Häusern und zwei Jugendwohngruppen. In der Regel bleiben sie dort bis zur Volljährigkeit.
Sonja Lachs Alltag gleicht dem einer natürlichen Mutter: kochen, waschen, trösten, die Kinder fahren, bei den Hausaufgaben helfen. Hinzu kommt: Entwicklungsberichte schreiben, Mails von Ämtern beantworten. Der Kontakt der Kinder zu den leiblichen Eltern soll nicht abbrechen. Daher müssen die Betreuer eine Balance finden zwischen dem Bedürfnis der Kinder nach Nähe und einer notwendigen Distanz.
Wenn Sonja Lach Weihnachten feiert, bei ihren Eltern, kommen die Kinder mit. In die Ferien fahren sie im Siebensitzer des Kinderdorfs. Wenn sie ein paar Tage allein für sich hat, was ihr zusteht, dann hält sie es wie die meisten Mütter: Hängt daheim vorab Bonbonketten auf für die Kleinen, ruft täglich an. Inzwischen kann sie es ohne Wehmut sagen: Es sind meine Kinder, aber nicht meine eigenen.
Text: Christoph Kucklick
Den gesamten Text lesen Sie in der neuen Ausgabe von GEO WISSEN "Mütter".