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Kunst und Kultur Aufbruch in eine neue Zeit

Nach dem Untergang des Kaiserreichs und dem Ende von Zensur und Verboten erblüht in Deutschland die Kunst. Vor allem in Berlin, wo junge Literaten, Musiker, Maler, Regisseure mit neuen Formen experimentieren, mit neuen Techniken. Und Werke schaffen, die im Ausland auf Begeisterung stoßen, abseits der Großstädte aber oft auf Unverständnis

Diese Bühne ist eine Maschine, ein technisches Wunder und ein Manifest. Eine Erfindung und eine Kampfansage. Und vor allem ein grandioses Experiment. In ihrer Mitte ragt ein gewaltiges, fahrbares Stahlgerüst gut zwei Stockwerke empor, horizontal und vertikal mehrfach durchteilt. Auf den acht Spielflächen, die sich so ergeben, treffen Schauspieler in schneller Folge zu Szenen aufeinander. Scheinwerfer flammen auf, ersterben wieder, um von Lichtkegeln an anderer Stelle abgelöst zu werden. Musik ertönt von irgendwoher. Zwischendurch schieben sich vor die einzelnen Segmente der Apparatur feine Gazevorhänge, auf denen, in wildem Mosaik, projizierte Filmschnipsel erscheinen: Militärtransporte, explodierende Granaten, zuckende Leiber; Tänzerinnen, die ihre Beine schwingen, Straßenkämpfer, Aufnahmen von der Börse. Am Ende laufen in der Mitte, vor einem hohen Schacht des Gerüsts, eingeblendete Worte entlang, Frage und Antwort, ein Dialog über das Schicksal des Helden, der sich gerade - in seinen politischen Idealen tief enttäuscht - erhängt.

Was hier geschieht, ist radikal und nie gesehen, hypermodern und dringlich, rasant und verstörend. Das spüren auch die 1100 Menschen, die im Parkett und den Rängen sitzen, feine Herrschaften in Smoking, Frack, großem Abendkleid und Pelzkragen, Männer und Frauen in gröberen Stoffen, Jugendliche in kurzen Hosen. Am Ende springen einige der Jüngeren sogar auf und singen die Internationale.

Erwin Piscator, Zeremonienmeister, Ingenieur des Experiments, ein schmaler, fast zarter Intellektueller von 33 Jahren, hat das Theater am Nollendorfplatz in Berlin- Schöneberg erst vor Kurzem übernommen. Die Premiere von "Hoppla, wir leben!", heute, am 3. September 1927, ist der Eröffnungsakt seines Hauses.

Piscators Ehrgeiz ist groß, im Prinzip allumfassend. Von Maß und Konvention lässt sich der bekennende Kommunist kaum einzwängen. Er will nicht nur eine neue Bühnenkunst, er will eine neue Welt. Seine Vision ist das „Totaltheater“, das sich, wie eine Arena gestaltet, aller technischen Möglichkeiten bedient, um die Gesellschaft zu verändern - und das heißt für Piscator: sie zu revolutionieren.

Und tatsächlich ist ja das Theater in dieser Weimarer Republik eine überaus einflussreiche, eine nationale Institution. Uraufführungen werden diskutiert wie Wahlen, die Feuilletons der Zeitungen bestehen zu einem beträchtlichen Teil aus Stückbesprechungen, bekannte Rezensenten liefern sich landesweit verfolgte Fehden über das Richtige und Gute. Berlin, die deutsche Hauptstadt, ist längst eine Weltmetropole des Theaters, mit fast 50 Bühnen, zahlreiche davon von internationalem Spitzenrang.

Kunst und Kultur: Der Kriegsversehrte und die Prostituierten sind Teil des Triptychons "Großstadt", das Otto Dix um 1928 malt. Mit seinen grellen, schonungslosen Gemälden der deutschen Gesellschaft wird er zum Chronisten der taumelnden Republik
Der Kriegsversehrte und die Prostituierten sind Teil des Triptychons "Großstadt", das Otto Dix um 1928 malt. Mit seinen grellen, schonungslosen Gemälden der deutschen Gesellschaft wird er zum Chronisten der taumelnden Republik
© VG Bild-Kunst, Bonn 2015/Artothek

Auch nach der Premiere von "Hoppla, wir leben!" sind die Zeitungen voller Kritiken. Die meisten loben Piscator für seine frische, wuchtige Zeitdiagnose. In den folgenden Wochen läuft das Stück mit großem Erfolg. Im Januar geht es gar auf Deutschland-Tournee. Ein Wermutstropfen ist allerdings, dass nicht, wie vom Regisseur erhofft, die Proletarier in die Säle strömen, sondern vor allem Bürgerliche, die sich an dem innovativen, revolutionären Feuerwerk mit wohligem Schauer ergötzen.

Doch so ist die Kultur der Weimarer Republik: widersprüchlich. Widersprüchlich und überreich. Denn der Theatermacher Erwin Piscator ist nur einer von Hunderten, ja Tausenden höchst Begabten, höchst Ambitionierten, höchst Eigensinnigen, die in diesen 14 Jahren Deutschland eine kulturelle Blüte abringen, die historisch und international herausragend ist. Die in Theater und Malerei, in Literatur und Musik, in Film, Architektur und den diversen leichteren Musen eine gewaltige kreative Eruption bewirken.

Es scheint paradox: So instabil die von Krisen erschütterte Weimarer Republik selbst ist, so sehr befördert sie auf eine eigentümliche Weise die Künste; so schwach diese Ordnung daherkommt, so stark ist die Schöpfungskraft, die aus ihr wächst. Schwer trägt die Republik an alten und neuen Lasten, und doch strebt ihre Kultur wie federleicht in ungeahnte Höhen.

Es ist ein Tasten, ein Experimentieren, ein Abarbeiten an den Zeiten und Umständen, ein Streben nach Lösung und Erlösung in einer schwierigen Welt. Und es ist das große, zwiespältige Ringen mit einer neuen Daseinsform. Denn erstmals kommt in diesen Jahren die deutsche Gesellschaft vollends in der Moderne an. Die Menschen erleben zuvor nie gekannte Freiheiten und Möglichkeiten, einen rasanten technischen und gesellschaftlichen Wandel - und zugleich bringt die neue Zeit Unruhe und Orientierungslosigkeit, Ungewissheit und Angst.

Wohl in kaum einem anderen Land der westlichen Welt rauschen die Veränderungen so jäh, dramatisch und umfangreich heran, vermutlich nirgendwo setzt man sich so leidenschaftlich und intensiv mit ihnen auseinander. Das befeuert offenbar die Kultur, verleiht ihr Energie, lässt sie kraftvoll werden, vielfältig, aufregend.

Dabei liegen die Anfänge in eher bleiernen Zeiten, im Deutschen Kaiserreich. In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts rebelliert eine junge Generation von Künstlern gegen dessen erstarrte Regeln. Maler wie Ernst Ludwig Kirchner verzerren in ihren Bildern die Formen und Perspektiven, werfen schrille Farben auf die Leinwände, abstrahieren und verfremden. Wenden sich auch in ihrem Lebensstil bewusst von den traditionellen Normen ab. Sie setzen auf das tiefe Gefühl, auf Drama und Schock. Ihre Kunst heißt bald "expressionistisch", weil der subjektive Ausdruck innerer Welten, die Expression, für sie über allem steht. Auch Literaten versuchen sich mit ganz ähnlichen Zielen an einer neuen Sprache.

Als der Erste Weltkrieg vorbei ist und die alte Ordnung untergegangen, wird aus den Rebellen und Außenseitern von einst die erste große Kunstbewegung in der Weimarer Republik. Expressionisten werden Mitglieder in den Akademien, erhalten Professorenposten und große Ausstellungen. Die ehemaligen Renegaten sind nun eine anerkannte künstlerische Avantgarde. Die politische Freiheit, das Fallen von Zensur und hergebrachten Tabus macht vieles möglich.

In den Arbeiten der Expressionisten, in Gemälden, Texten, Stücken, spiegeln sich jetzt das Trauma des vergangenen Krieges, das Chaos der Revolution von 1918 - und zugleich die Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft, die der Umsturz geweckt, aber in den Augen vieler nicht eingelöst hat. Zahlreiche Künstler engagieren sich in der "Novembergruppe", die Kunst und Politik mit revolutionärem Gestus vereinen will. Die Werke selbst hingegen sind weniger politisch, spüren mystisch dem "neuen Menschen" nach, beschwören romantische Utopien. In expressionistischen Theateraufführungen - oft schwerverdaulichen Inszenierungen, die statt Handlung vor allem Pathos und wirre Wortgewalt präsentieren – entledigen sich Söhne gewaltsam ihrer Väter, um voranzukommen. Klassiker werden völlig neu interpretiert: Starregisseur Leopold Jessner etwa lässt seine Mimen in "Wilhelm Tell" nicht mehr in einer realitätsnahen Schweiz-Kulisse, sondern – zeitlos und bedeutungsträchtig - auf einer schlichten Treppe spielen.

Andere Künstler, wie der Lyriker Gottfried Benn, reagieren auf die Unordnung der frühen Weimarer Jahre mit einer ekstatischen, fragmentierten Poesie. Der Musiker Arnold Schönberg komponiert außerhalb aller gewohnten Harmonie. Und wieder andere wollen den Expressionismus an Radikalität noch überflügeln: Mit ihren absurden Performances erklären die Dadaisten die Zerstörung aller Kunst zur Kunst.

Doch irgendwann ist der Taumel der ersten Jahre vorbei, der rebellische Impuls versiegt, das expressionistische Pathos wird hohl. Die Künstler werfen nun, da auch das Land sich zu beruhigen scheint, einen nüchterneren Blick auf die Welt und begründen um 1924 den ersten Stil, der aus der Weimarer Republik selbst entsteht: die Neue Sachlichkeit.

Um die Sache geht es, das Gegebene. Die Bilder der Maler werden wieder gegenständlicher, die Dramatiker beschäftigen sich in klarerer Sprache mit konkreten Themen, mit Abtreibung und sozialem Elend, mit Justizwillkür und Erziehungsheimen. Literaten kümmern sich nun um das Leben in der Großstadt.

Kunst und Kultur: Wie viele Künstler und Architekten ist der Dresdner Maler Otto Griebel Kommunist. Mit Bildern wie diesem Aquarell ("Der Arbeitslose", 1921) will er die Revolution in die Kunst tragen
Wie viele Künstler und Architekten ist der Dresdner Maler Otto Griebel Kommunist. Mit Bildern wie diesem Aquarell ("Der Arbeitslose", 1921) will er die Revolution in die Kunst tragen
© Frank Zadnicek/Städtische Galerie Dresden-Kunstsammlung, Museen der Stadt Dresden

Auf die Ekstase der Expressionisten folgt gewissermaßen die Analyse: mal mit kühlem Blick wie bei den Malern Christian Schad und Conrad Felixmüller, mal mit beißender Gesellschaftskritik wie bei deren Kollegen Otto Dix und George Grosz. Im Theater leuchten Bertolt Brecht und Erwin Piscator die Verhältnisse drastisch aus, wollen das Publikum aufrütteln, nichts als gegeben hinzunehmen.

Aber fast immer lassen sich die Vertreter der Neuen Sachlichkeit auf die neue Zeit ein. Auf Wucht und Wandel der Moderne. Auf deren ungeheure Tempoverschärfung: die Autos und Flugzeuge, die Schnellzüge, die Fließbänder, welche die Arbeit in den Fabriken beschleunigen, die Tausende von Zeitungen, die teilweise gleich mehrmals am Tag erscheinen. Auf den technischen Fortschritt in allen Bereichen: auf den Fernsprecher - in keiner Stadt der Welt wird um 1925 mehr telefoniert als in Berlin - und auf den Rundfunk, beides ebenfalls Treibsätze für die Kommunikation.

Auf ganz neue Menschengruppen: denn mit den Angestellten, die ihre Arbeit in den Büros der Banken, Versicherungen und Behörden verrichten, ist eine weitere soziale Schicht entstanden. Auf den Wandel der Werte: auf die gelockerten Umgangsformen, den freieren Umgang mit Sexualität, die zunehmende Gleichberechtigung der Frauen. Und auf die Massen: Zwei Drittel der Deutschen leben inzwischen in den Städten, in großer Zahl auf kleinem Raum, anonymer als früher im Dörflichen, um sie herum eine kaum überschaubare Menge von Konsumartikeln, Reklametafeln, kapitalistischen Verheißungen. Auch die Kultur zielt nun zunehmend auf die Massen, nirgendwo so stark wie in Berlin, der drittgrößten Stadt der Welt, dem künstlerischen Epizentrum des Landes. Zu Zehntausenden besuchen die Menschen hier Operettenhäuser, deren Stücke später am New Yorker Broadway gezeigt werden, verbringen die Abende in Varietés und aufwendig choreografierten Großrevuen, in denen sich Akrobatik und derb-frecher Berliner Humor abwechseln. In feinen und weniger feinen Tanzpalästen schwitzen sie zu Charleston und Shimmy, besuchen Jazz-Darbietungen, Chanson- Abende und verrauchte Erotik-Clubs. Es ist diese schillernde Populärkultur, die den Begriff der "Goldenen Zwanziger" entstehen lässt. Berlin wird in diesen Jahren auch die unangefochtene Vergnügungsmetropole Europas: Das Amüsement scheint wie ein Betäubungsmittel zu wirken angesichts der ökonomischen und politischen Verwerfungen, der epochalen Veränderungen, die viele überfordern.

Die künstlerischen Leistungen aber sind auch in diesen seichteren Sphären häufig bemerkenswert. Ohnehin verlieren Kulturschaffende, die sich in legendären Etablissements wie dem Romanischen Café an der Berliner Gedächtniskirche zu Getränk und Debatte - oft auch nur zu Smalltalk - treffen, die Berührungsängste, werden zu Grenzgängern.

Literaten schreiben für Massenblätter, ein Theaterintendant verfasst einen Beitrag für das Programmheft eines Max-Schmeling- Boxkampfes. Viele Künstler aber arbeiten auch jenseits der großen Stile und Bewegungen. Für sich stehende Meisterwerke werden in jenen Jahren erschaffen: 1924 veröffentlicht Thomas Mann den "Zauberberg", seine ironische Weiterentwicklung des klassischen Bildungsromans; fünf Jahre später kommt Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" heraus, eine Montage aus erzählten Passagen, Nachrichten, Werbeslogans und Schlagertexten, ein kongeniales Abbild der hektischen Großstadt, das literarische Porträt der Weimarer Zeit.

Der Maler Max Beckmann wiederum entwickelt aus Expressionismus und Neuer Sachlichkeit seine eigene, farbstarke Malweise, Kurt Tucholsky wird zu einer markanten literarisch-journalistischen Stimme der Linken.

Kunst und Kultur: Als "Stützen der Gesellschaft" verspottet George Grosz Pfaffen, Militaristen, Palmwedel schwingende katholische Journalisten und nationalsozialistische Stammtischpolitiker. Und ahnt schon 1926 die kommende Katastrophe voraus
Als "Stützen der Gesellschaft" verspottet George Grosz Pfaffen, Militaristen, Palmwedel schwingende katholische Journalisten und nationalsozialistische Stammtischpolitiker. Und ahnt schon 1926 die kommende Katastrophe voraus
© Estate of George Grosz, Princeton, N.J./VG Bild-Kunst, Bonn 2015/Agentur Bridgeman

Und es gibt noch eine junge Gattung, die Hoch- und Populärkultur der Weimarer Zeit miteinander verschmilzt: den Film.

Das Land ist filmverrückt. Jeden Tag gehen etwa zwei Millionen Menschen ins Kino, viele sehen einmal pro Woche eine abendfüllende Vorführung. Angeboten wird alles, Durchschnittsware und hohe Kunst. Auch als erst wenige Jahre altes Genre hat der Film in Deutschland bereits diverse Höhepunkte erlebt. "Das Cabinet des Dr. Caligari" über einen verrückten Nervenarzt bringt 1920 die groteske Bildsprache und verstörende Stimmung des Expressionismus auf die Leinwand. Und Fritz Lang inszeniert 1927 in seinem meisterhaften "Metropolis" mit technischem und dramaturgischem Größenwahn ein futuristisches Epos über eine Stadt von Ausgebeuteten.

Auch im neuen Tonfilm werden schon bald zwei Glanzleistungen aus Deutschland stammen: "Der blaue Engel" mit Marlene Dietrich als verführerischem Vamp, der Beginn ihrer Weltkarriere, sowie "M - eine Stadt sucht einen Mörder", ein düsteres Selbstjustizdrama.

Deutschland gilt weltweit als eines der bedeutendsten Kinoländer, und wahrscheinlich gibt es nur einen Bereich, in dem die Ausstrahlung der Kultur von Weimar noch größer ist: in der Baukunst.

Der Ruhm der deutschen Architektur entströmt vor allem dem "Bauhaus", einer Hochschule, die erst von Weimar, dann von Dessau aus die Szene prägt. Das ästhetische Programm der Macher um Walter Gropius passt bestens in den neusachlichen Trend: Die entworfenen Gebäude sind schlicht, funktional, von jeglichem dekorativen Wust befreit. Beton, Glas und Stahl, die Baustoffe der Moderne, sind die bevorzugten Materialien, Quadrat und Kubus die bevorzugten Formen. Die Gestalter begeistern sich für die neueste Technik, haben bei ihren Entwürfen auch deren industrielle Fertigung immer im Blick. Die Schule selbst ist wie ein großes Experimentiergehäuse, in dem Künstler unterschiedlichster Richtungen einander inspirieren sollen. Hier treffen sich Baumeister, Maler, Bildhauer, Komponisten, Tänzer. Ein Mentor beginnt seine Kurse stets mit Atemübungen.

Die modernen Architekten sehen sich ganz unbescheiden als Schöpfer einer neuen Welt. Sie wollen den Deutschen ihre Heimeligkeit austreiben, entwerfen beispielsweise schnörkellose Küchen, die nur noch rationalen Anforderungen der Hausarbeit gehorchen, und nicht mehr, wie früher üblich, auch zum Essen und Beisammensitzen genutzt werden können.

Doch so sehr die Vorkämpfer des sogenannten Neuen Bauens mit zahlreichen Großsiedlungen das Antlitz der Weimarer Republik prägen, zeigt sich doch immer wieder, wie stark die kulturelle Avantgarde vom Geschmack vieler Menschen entfernt ist.

Kunst und Kultur: Kühl, aber detailgenau bis in die blutgetränkten Wattebäusche und den Faltenwurf der Schwesternhauben malt Christian Schad eine Blinddarmoperation in einem Berliner Krankenhaus. Seine Emotionslosigkeit wird zum Inbegriff der Neuen Sachlichkeit
Kühl, aber detailgenau bis in die blutgetränkten Wattebäusche und den Faltenwurf der Schwesternhauben malt Christian Schad eine Blinddarmoperation in einem Berliner Krankenhaus. Seine Emotionslosigkeit wird zum Inbegriff der Neuen Sachlichkeit
© Christian Schad Stiftung Aschaffenburg/VG Bild-Kunst, Bonn 2015/Agentur Bridgeman

Denn die Kultur der Weimarer Zeit besteht eben nicht nur aus den radikal neuen, ambitionierten, zukunftsgewandten Schöpfungen der Modernisten: Es gibt zugleich einflussreiche traditionalistische, konservative, antimoderne Strömungen in diesem Land.

Beliebt und verbreitet etwa sind heroische Kriegsromane, schwülstige Heimatliteratur, volkstümelnde und völkisch durchdrungene Bücher, patriotische Filme. Auch in den zeitgenössischen Ausstellungen der Museen hängen immer noch massenhaft Bilder in herkömmlich naturgetreuer Manier. Die Sehnsucht nach Tradition und Gemeinschaft, die aus diesen Werken spricht, ist ebenfalls eine Reaktion vieler Menschen auf die Moderne, auf die mit ihr verbundenen Unsicherheiten und Ängste.

Die Mitglieder der Avantgarde halten diese Kunst für tumb und heillos rückwärtsgewandt. Die Vertreter der Rechten kritisieren die Werke der modernen Weimarer Kultur dagegen als "undeutsch", "seelenlos" und „bolschewistisch“. Und für viele Bewohner der Provinz ist das glanzvolle Berlin ohnehin nur ein verdammenswerter, snobistischer Sündenpfuhl.

So offenbaren sich unterhalb der kreativen Fülle und Vielfalt von Weimar zwei kulturelle Lager, die sich mitunter heftig anfeinden. Und es wird sich zeigen, dass die Blüte der Kultur es nicht vermag, die Risse in der Gesellschaft zu schließen, die Klüfte zu überspannen - vielmehr verschärft sie schließlich sogar die Polarisierung der Republik. Und weder das eine noch das andere Lager der Kulturschaffenden hat dabei übermäßig viel Sympathie für die Republik selbst übrig.

So wird, während die Gewalt auf den Straßen zunimmt, auch die Kultur ab etwa 1929 immer stärker zu einer Art Duellplatz der Weltanschauungen. Linke Künstler wenden sich von der nun als zu harmlos erachteten Neuen Sachlichkeit ab und erklären ihre Arbeit einmal mehr zur scharfen Waffe im politischen Kampf. Und Rechte wettern immer lauter gegen die moderne Kunst als Ganzes. Bald schon marschieren NSDAP-Schläger vor Theatern und Kinos auf, stören etwa Aufführungen der Oper "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" von Brecht und des Films "Im Westen nichts Neues" nach einem pazifistischen Kriegsroman von Erich Maria Remarque. Der Schwenk des Zeitgeistes nach rechts, getragen auch von vielen Bildungsbürgern, und die massiven finanziellen Probleme durch die Weltwirtschaftskrise zermürben die schillernde Kultur von Weimar.

Bis das Ende der Ära an einem Wintertag kommt: mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933. Schnell vergeht die kulturelle Blüte in Deutschland. Was nicht durch Zensur und Verfolgung erstickt wird, was nicht mit den Auswanderern verschwindet, verrinnt durch Anpassung und innere Emigration der Verbliebenen. Im Ausland allerdings wirkt - nicht zuletzt durch die Flüchtlinge - die Kreativität von Weimar nach. Und irgendwann würdigen auch die Menschen in Deutschland wieder diese Zeit. Im 20. Jahrhundert bleibt sie weltweit ein bedeutsamer kultureller Bezugspunkt, mit einer eindrucksvollen Prägekraft.

Als die Nationalsozialisten 1933 die Herrschaft übernehmen, ist Erwin Piscator bereits seit zwei Jahren im freiwilligen Exil in der Sowjetunion. Er dreht, unterstützt vom dortigen Regime, seinen ersten Spielfilm - eine weitere Gelegenheit, seine ungebrochene Experimentierlust zu erproben. Der Exilant will in der UdSSR ein antifaschistisches Theater aufbauen, doch als Josef Stalin seine brutalen Verfolgungen beginnt, bleibt Piscator nach einer Reise in Paris. Zwei Jahre später zieht er nach New York und wird Leiter einer Theaterschule.

Noch zu seiner Berliner Zeit hatte Erwin Piscator als Wesen seiner Kunst ein Element ausgemacht, das exemplarisch auch für die Kultur von Weimar stehen könnte - für ihre Widersprüchlichkeit und Modernität, Vielfalt und Schöpfungskraft. Er nannte es: den "Prozess der geistigen Revolutionierung".

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GEO EPOCHE PANORAMA Nr. 5 - 02/2015 - Die Weimarer Republik

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