Rätselhaftes Grab Wie ein Mann aus der Fremde bei den Germanen Karriere machte

Collage aus Buntmetallen
Begehrte Handelsgüter: Im mitteldeutschen Frienstedt haben Forschende mehr als 1000 Bronze- und Buntmetallgegenstände gefunden, die die Germanen aus dem Römischen Reich importiert hatten
© Brigitte Stefan, Thüringer Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie, Weimar
Vor gut 1700 Jahren ließ sich ein Mann aus dem Nahen Osten in der germanischen Siedlung Frienstedt im heutigen Thüringen nieder. Dort stieg er in die Oberschicht auf – doch warum?

Dieser Mann war ein Aufsteiger. Vor gut 1700 Jahren bestatteten Germanen in ihrer Siedlung Frienstedt im heutigen Thüringen ein Mitglied ihrer Gemeinschaft, das sie besonders schätzten. Sie begruben den Verstorbenen an einem Kultplatz, neben weiteren Angehörigen der Oberschicht. Dabei entstammte der Mann keineswegs ihrer Mitte – sondern kam aus Vorderasien, dem heutigen Nahen Osten, Tausende Kilometer entfernt. Wie nur gelangte er nach Thüringen? Und wie konnte er bei den Germanen in den Kreis der Elite aufrücken?

Bereits vor 25 Jahren begannen Forschende des Thüringer Landesamts für Denkmalpflege und Archäologie, den germanischen Fundplatz bei Frienstedt, dem westlichsten Ortsteil Erfurts, auszugraben. Heute ist der Ort vor allem für einen hier entdeckten Kamm aus Geweih mit einer Runeninschrift bekannt: Dieser "Kamm von Frienstedt" aus dem 3. Jahrhundert n. Chr. gilt als ältester Nachweis westgermanischer Sprache.

Die Römer setzten Bogenschützen aus dem Nahen Osten ein

In jener Zeit erlebte Siedlung im römisch-germanischen Grenzgebiet eine Zäsur. Im Jahr 235 führte Kaiser Maximus einen Rachefeldzug tief in germanisches Gebiet bis an die Elbe. Auf dem Rückmarsch überfielen germanische Verbände die Römer am Harzhorn im südlichen Niedersachsen. Dreiflügelige Pfeilspitzen auf dem Schlachtfeld legen nahe, dass hier einst parthische Bogenschützen aus der römischen Provinz Osrhoene, dem heutigen Grenzgebiet zwischen Türkei und Syrien, kämpften. 

"Diese Hilfstruppen waren eine Standard-Zusatzeinheit römischer Legionen", sagt der Archäologe Dr. Christoph Schmidt, Direktor des Nordfriisk Instituut in Bredstedt, der zum Fundplatz Frienstedt, rund 150 km südöstlich vom Harzhorn mitten im fruchtbaren Thüringer Becken gelegen, promoviert hat.

In den Jahren nach der Schlacht begannen die Einwohner der Siedlung, ihren Ort kräftig umzubauen. Sie errichteten neue Pfostengebäude, ein neues Zentrum. Und um eine Gruppe von 1500 Jahre alten Grabhügeln aus der Bronzezeit herum legten sie in einem 70 bis 100 Meter durchmessenden Ring elf Körpergräber an, angeordnet wie die Speichen einer Achse. Der freie Platz dazwischen wurde wie ein Jahrmarkt genutzt, für Zelte und Handwerk, aber auch für große Feste, von denen Unmengen an Tierknochen zeugen, die in Schächten im Boden versenkt wurden – wohl Spuren einer Art Ahnenkult. 

Wirbel eines Skeletts
Das Skelett "Bf. 40" von Frienstedt ist stark beschädigt, hier ein Wirbel. DNA-Analysen ergaben, dass die Person vor rund 1700 bestattet wurde und aus dem Nahen Osten stammte
© Sandra Bock, Thüringer Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie, Weimar

"Die Skelette der meisten Bestatteten waren ungefähr so ausgerichtet, dass sie auf die bronzezeitliche Grabgruppe blickten", beschreibt Schmidt. Im Grab mit der wissenschaftlichen Bezeichnung "Bf. 40" entdeckten Forschende schließlich den Mann aus dem Nahen Osten, wie eine DNA-Analyse später ergeben sollte. 

Da das Grab durch einen Bagger zerstört wurde, lässt sich nicht mehr rekonstruieren, welche Gaben die Hinterbliebenen dem Mann ins Jenseits mitgaben. In den Nachbargräbern konnten Forschende aber reichhaltige Funde sicherstellen, darunter Kleidungsreste, Bronzegefäße, silberne Pfeilspitzen, einen goldenen Fingerring. Einer Person wurde eine Goldmünze in den Mund gelegt. "Mit diesem Friedhof hat sich eine Oberschicht in Szene gesetzt, und offenbar war der Mann aus dem Nahen Osten ein fest integrierter Bestandteil dieser Elite", sagt Schmidt.

Die Germanen übernahmen römischen Lebensstil

Handelte es sich bei ihm um einen jener Bogenschützen aus Osrhoene, die für die Römer am Harzhorn kämpften? Wurde er von den Germanen gefangen genommen und dann irgendwann freigelassen? Oder wechselte er die Seiten? Fest steht: Die Frienstedter Führungsriege bestand Mitte des 3. Jahrhunderts aus einer heterogenen Gruppe. "Normalerweise würde man erwarten, in solch einer Grabanlage einen etablierten Familienverband vorzufinden", sagt Schmidt. 

Von zwei Halbschwestern und einem Großcousin abgesehen konnten die Forschenden jedoch keine Verwandtschaftsverhältnisse feststellen. Im Gegenteil: Mindestens eine Person stammte wahrscheinlich aus Norwegen. Und Reste einer Tracht, die in einem der Gräber gefunden wurden, verweisen auf den Ostseeraum. Demnach etablierte sich nach der Schlacht am Harzhorn eine neue, bunt zusammengewürfelte Oberschicht in Frienstedt. 

Skelett liegt in Grab
Elf Körpergräber haben Forschende in Frienstedt freigelegt, dieses hier befindet sich im Zentrum der Anlage. Offenbar war der hier bestattete Mann eine wichtige Persönlichkeit: Am kleinen Finger der linken Hand befand sich ein goldener Ring
© Peter-Michael Sukalla, Thüringer Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie, Weimar

Mit dieser Generation vollzog sich etwas, das Schmidt einen "Kulturbruch" nennt: "Die Menschen in Frienstedt importierten massenhaft Waren aus dem Römischen Reich und orientierten sich teilweise am römischen Lebensstil." So stehe eine in dem Ort gefundene Voodoo-ähnliche Tonpuppe mit Einstichlöchern eindeutig in der Tradition römischer Liebeszauber. Die Germanen in Frienstedt übernahmen also römisches Geistesgut.

Deshalb erscheint es denkbar, dass die neue Elite ihrem Aufstieg vor allem einem Faktor zu verdanken hatte: guten Beziehungen zu den Römern. Nicht etwa Krieg und Raubzüge bestimmten in jener Zeit das Verhältnis zwischen den Germanen in Frienstedt und ihren Nachbarn jenseits des Limes, sondern Austausch und Handel. Und wohl niemand in der Siedlung war so prädestiniert dafür wie der Mann aus "Bf. 40", der ursprünglich selbst aus dem Römischen Imperium stammte. 

Er ist nicht die einzige Person bei den Germanen mit Migrationshintergrund: In der Siedlung Bøgebjerggård auf der dänischen Insel Seeland konnten Forschende ebenfalls eine männliche Person mit Wurzeln im Nahen Osten nachweisen, die im 1. Jahrhundert n. Chr. lebte. Beide Fundorte zeigen, dass germanische Gesellschaften mobiler und durchlässiger waren als lange angenommen.