Sie umgibt uns überall, vom Roman bis zum Grundgesetz, vom Personalausweis bis zum Namensschild an der Tür: Die Schrift zählt zu den folgenreichsten Erfindungen der Menschheit. Das erste moderne Schriftsystem der Welt – die Keilschrift – entstand um 3200 v. Chr. in Mesopotamien, möglicherweise im südlichen Irak in Uruk, der ersten Metropole. Eine Proto-Keilschrift mit schätzungsweise 800 piktografischen Zeichen ebnete der späteren Keilschrift den Weg.
Nur: Wie entwickelten die Menschen im Zweistromland die Schriftzeichen genau? Wie funktionierte der Übergang von anschaulichen Bildzeichen zu immer abstrakteren Linien und Strichen, schließlich zu einem komplexen System?
Mit Siegeln ließen sich Handelsgüter kennzeichnen – und Geschäfte machen
Wissenschaftlerinnen der italienischen Universität Bologna haben Siegelbilder aus der Zeit zwischen 4400 und 3400 v. Chr. auf dem Gebiet zwischen der Türkei und dem Iran untersucht und sind überzeugt: Siegel sind ein wichtiger Aspekt auf dem Weg zum Schreiben in Südwestasien", schreibt das Team um die Philologin Silvia Ferrara in einer Studie, die jüngst im Fachblatt "Antiquity" erschien.
In Mesopotamien wurden Siegel auf vielfältige Weise verwendet: In Uruk kennzeichneten etwa städtische Aufseher Handelsgüter mit Rollsiegeln: Sie befestigten Tonplaketten an den Waren und rollten dann mit einer Steinwalze über das weiche Material. Die Siegelzylinder hinterließen im Ton Abdrücke – etwa für bestimmte Warengruppen, Mengen oder die verantwortliche Institution. Anhand dieser Siegel konnten städtische Verantwortliche die Produktion und Verteilung von Gütern in ihrem Gemeinwesen organisieren.
Die Wissenschaftlerinnen der Uni Bologna verglichen nun Motive der Rollsiegel mit Zeichen der Proto-Keilschrift – und stießen auf eine Reihe von Gemeinsamkeiten. So gibt es etwa ein geradliniges Siegelbild mit Säulen, das offensichtlich eine Hausfassade zeigt – wie bei einem Tempel. Ein Zeichen der Proto-Keilschrift, das Jahrhunderte später entstand, greift die Muster der eckigen Säulen wieder auf. Auch geometrische Formen und Muster, die auf Rollsiegeln etwa Gefäße, Netze oder Stoffe darstellen, konnten Silvia Ferrara und ihr Team bei der Proto-Keilschrift belegen. "Dies zeigt, wie Motive aus der Zeit vor der Alphabetisierung durch einen Prozess, bei dem einige ihrer semantischen Assoziationen erhalten blieben, in Schriftzeichen umgewandelt wurden", schreiben die Wissenschaftlerinnen. Folgt man der Studie, wären die Siegelmotive eine Vorlage der frühen Keilschrift, die Wurzeln der Schrift.
Noch etwas konnte das Team durch den Vergleich von Siegelbildern in Südwestasien herausfinden: In vielen Regionen ähneln sich die Zeichen, mit denen Handelsgüter gekennzeichnet wurden. "Sie beschreiben den Transport von Gefäßen und Textilien", heißt es in der Studie. Deshalb seien die Bildsiegel eine Art überregionales "Kommunikationssystem auf Tonbasis" – Symbole also für den regionsübergreifenden Handel vor den Zeiten der Schrift.