Er sieht aus, als würde er ständig lächeln – doch der Jangtse-Glattschweinswal ist vom Aussterben bedroht, sein Lebensraum im chinesischen Jangtse-Fluss hat sich drastisch verkleinert. Wie groß der Rückgang ausfällt, zeigt nun ein Forschungsteam der Chinesischen Akademie der Wissenschaften in Wuhan: Die Expertinnen und Experten analysierten 724 historische Gedichte, in denen der Schweinswal erwähnt wird - und schlossen daraus auf das Verbreitungsgebiet der Tiere in den vergangenen 1.400 Jahren. Seine Ergebnisse veröffentlichte das Team in der Fachzeitschrift "Current Biology".
Der Jangtse ist mit 6.300 Kilometern der längste Fluss Asiens und der drittlängste Fluss der Welt. Er entspringt im tibetischen Hochland und mündet bei Shanghai ins Ostchinesische Meer. Einst war der weltweit einzige bekannte Süßwasser-Schweinswal mit dem Fachnamen Neophocaena asiaeorientalis asiaeorientalis im gesamten Mittellauf – dem mittleren Abschnitt des Flusses – sowie im langsamen, breiten Unterlauf kurz vor der Mündung und in den angrenzenden Seen heimisch. Doch inzwischen ist sein Bestand stark gefährdet.
Gedichte als Datenquelle
China verfügt über eine gewaltige Sammlung historischer Poesie, die bis ins Jahr 1045 vor Christus reicht. Viele der Dichter waren Intellektuelle, die auf Reisen ihre Umwelt und eben auch den Schweinswal beschrieben, der mit seinem auffälligen Verhalten - etwa dem Herumspringen an der Wasseroberfläche vor Gewittern - eine beliebte Inspirationsquelle war.
"Dieser erstaunliche Anblick war für die Dichter schwer zu ignorieren", sagte der Biologe Zhigang Mei, der am Jangtse aufwuchs. Doch nicht alle Texte seien gleichermaßen wirklichkeitsgetreu: "Einige waren sehr auf Realismus bedacht und beschrieben das, was sie sahen, so objektiv wie möglich. Andere waren vielleicht fantasievoller und übertrieben."
Das Forschungsteam sichtete daher nicht nur den Inhalt der Gedichte, sondern setzte sie auch in Bezug zu Lebensdaten und Schreibstil des jeweiligen Autors. So konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler herausfiltern, wo und wann Jangtse-Glattschweinswale wahrscheinlich tatsächlich beobachtet wurden - und die historischen Sichtungen geografisch und zeitlich verorten.
Poetische Karte der Veränderung
Insgesamt durchsuchte die Gruppe 724 Gedichte aus verschiedenen chinesischen Dynastien gezielt nach Erwähnungen der Tiere - von der Tang-Dynastie bis zur Neuzeit.
Die Auswertung zeigt: In der Tang-Dynastie (618-907 nach Christus) war das Verbreitungsgebiet des Schweinswals im Jangtse deutlich größer als heute. In der Qing-Dynastie (1636-1912) erschienen die Tiere in besonders vielen Gedichten - 477 der Fundstellen stammen aus dieser Epoche.
Im Lauf der Jahrhunderte aber schrumpfte der Lebensraum der Analyse zufolge: Im Hauptstrom des Flusses verringerte er sich seit der Tang-Zeit um 33 Prozent, in Seen und Nebenflüssen sogar um 91 Prozent. Insgesamt habe sich das Verbreitungsgebiet um mindestens 65 Prozent verkleinert, so das Ergebnis der Studie.
Staudämme als Zäsur
Den größten Rückgang stellten die Forschenden im letzten Jahrhundert fest. In den Jahren zwischen dem Ende der Qing-Dynastie und der heutigen Zeit fehlen Sichtungsdaten vielfach - ein Indiz für das Verschwinden der Tiere. Auch andere im Jangtse heimische Arten wie der Chinesische Löffelstör oder der Baiji-Delfin sind inzwischen praktisch ausgestorben.
Die Feststellung, dass Zahl und Verbreitung des Jangtse-Glattschweinswals im letzten Jahrhundert so stark zurückgegangen sind, deckt sich den Forschenden zufolge mit früheren Ergebnissen, die zudem zeigten, dass die schwindende Population größtenteils auf die Veränderungen des Jangtse durch den Menschen - insbesondere durch Wasserbauprojekte - zurückgeführt werden kann. In den 1950er-Jahren begann China mit dem Bau zahlreicher Staudämme, die Flüsse regulieren, Seen abschnüren und die Durchlässigkeit des Jangtse massiv einschränken.
Poesie als Forschungsinstrument
Dass historische Texte wertvolle Hinweise für die Wissenschaft liefern können, ist nicht neu - besonders für Tiere an Land wurden beispielsweise bereits Geschichten und Malereien ausgewertet. Die neue Studie sei die erste, die den Rückgang eines größeren Süßwassertiers auf dieser Grundlage dokumentiere, hieß es. "Unsere Arbeit füllt die Lücke zwischen den sehr langfristigen Informationen, die wir aus Fossilien und DNA gewinnen, und den jüngsten Populationserhebungen", sagte Mei.
In weiteren Studien wollen die Forschenden rekonstruieren, wie der Fluss früher aussah, wie groß die Schweinswalgruppen einst waren und wie sie sich verhalten haben könnten, bevor ihre Zahl abnahm. Zugleich hoffen sie, dass ihre Forschung Schule macht: "Chinesische Poesie, diese uralte Kunstform, kann ein ernstzunehmendes wissenschaftliches Werkzeug sein", sagte Mei. "Die Vergangenheit zu nutzen, um die Gegenwart zu verstehen, die Geschichten hinter der Kunst zu entschlüsseln: Das ist nicht nur Forschung, es ist wie ein Gespräch mit den Dichtern der Vergangenheit."