Neues Parlament Iraner wollen mit Wahl-Boykott ein Zeichen setzen. Eindrücke aus einem desillusionierten Land

  • von Teseo La Marca
Eine Pilgerin vor einem Gebäude
In der iranischen Stadt Ghom geht eine Pilgerin an einem Porträt des politischen Oberhauptes des Irans, Ali Chamenei, vorüber. Bei den aktuellen Wahlen muss Chamenei auf eine möglichst hohe Wahlbeteiligung hoffen
©  Morteza Nikoubazl/NurPhoto / Getty Images
Die Iraner und Iranerinnen wählen ein neues Parlament. Sie haben die Auswahl zwischen ultrakonservativen und religiös-reaktionären Kandidaten. Viele sehen in einem Boykott die letzte Möglichkeit, sich politisch zu äußern

An diesem Freitag hat Mina Rostami einiges vor: ihre Wohnung putzen, Deutsch lernen und am späten Nachmittag Freunde treffen, vielleicht zum Fluss gehen, wo sich unter den Bögen der 400 Jahre alten Brücken jeden Abend Menschen treffen und traditionelle Liebeslieder singen. Was sie an diesem Tag mit vielen anderen Iranern und Iranerinnen verbindet, ist aber das, was sie nicht tun wird: wählen.

Seit Monaten prägt die Parlamentswahl das Straßenbild ihrer Heimatstadt Isfahan, es sind bekannte Gesichter, die von den Werbeplakaten herunterschauten. Manche schon seit 30 Jahren, sagt Rostami, länger als sie selbst auf der Welt sei.

Mina Rostami möchte sich aus Sicherheitsgründen nicht unter ihrem richtigen Namen zur Wahl im Iran äußern. Deshalb wählt sie ein Pseudonym. Sie ist eine gelernte Buchhalterin, ihre Freizeit nutzt sie vor allem, um englischsprachige Dokus zu schauen. Sie ist eine zurückhaltende Frau, wenn man sie fragt, wie es ihr geht, leitet sie schnell über zur Stimmungslage der Nation. Mina Rostami kennt die Namen fast aller Kandidaten aus ihrer Stadt. Trotzdem weiß sie nicht, wofür sie stehen. "Die meisten halten es nicht einmal für nötig, ein Wahlprogramm aufzustellen", schreibt Rostami via Chat – wozu also wählen?

Nach der Vorauswahl blieb in einigen Wahlkreisen nur noch ein Kandidat übrig

Eine große inhaltliche Auswahl hätte Mina Rostami ohnehin nicht. Die überwiegende Mehrheit der Kandidaten gilt als konservative Hardliner. Wenige Tage vor der Wahl erklärte die Reformfront, ein Zusammenschluss von mehreren moderaten Parteien und Gruppen, keinen einzigen der insgesamt 15.200 zugelassenen Kandidaten zu unterstützen. Im Grunde steht das Lager der Gewinner dieser Wahl also schon fest. 

Mann geht vor Wahlplakaten
Über 15.000 Kandidaten stehen zur Wahl für das iranische Parlament. Gleichzeitig wird auch ein neuer Expertenrat gewählt
© Rouzbeh Fouladi/ZUMA Press Wire / picture alliance

Wer im Iran für das Parlament, das Madschles, kandidiert, muss zunächst vom Expertenrat, einem Gremium aus 88 Mitgliedern für die Wahl zugelassen werden. Auch ein neuer Expertenrat wird am 1. März gleichzeitig mit dem Parlament gewählt, und auch seine Kandidaten müssen zuerst vom Wächterrat zugelassen werden. Dort sitzen zwölf ultrakonservative Mitglieder, von denen die Hälfte direkt vom Obersten Führer Ali Chamenei eingesetzt wird. 

Nun ging die Vorauswahl für die Kandidaten zum Expertenrat so weit, dass in mehreren Wahlkreisen nur noch ein einziger Kandidat übrigblieb. Mostafa Tadschzadeh, ein Reformer, der seit zwei Jahren als politischer Gefangener im Evin-Gefängnis festgehalten wird, nannte die Wahl deshalb eine überflüssige und kostspielige "Wahlkulisse".

Trotzdem blicken sowohl Kritiker als auch Unterstützer des Regimes gespannt auf diese Wahl. Denn nach den großen, frauengeführten Protesten im Jahr 2022 könnte sie sich als Stimmungsbarometer der iranischen Gesellschaft erweisen. 

Bei der vergangenen Abstimmung erreichte die Wahlbeteiligung ihren vorläufigen Tiefstand

Das liegt vor allem an der Wahlbeteiligung, der größten Unbekannten der Wahl – und zugleich einer zentralen Quelle der Legitimation für das Regime. Nachdem die herrschenden Kleriker durch die Islamische Revolution 1979 an die Macht gekommen waren, haben sie die hohe Wahlbeteiligung der vergangenen Jahrzehnte stets als Ausdruck der Zustimmung zum neuen politischen System verkauft. Nun wendet sich dieses Narrativ gegen sie. Seit Jahren beteiligen sich immer weniger Iraner und Iranerinnen an politischen Wahlen, bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2021 waren es nur noch 48,8 Prozent – ein Tiefstand mit Gründen.

Ein iranischer Politiker hält eine Pressekonferenz ab
Der iranische Politiker Ali Motahari hält wenige Tage vor der Wahl eine Pressekonferenz ab. Motahari gilt als konservativer Reformer, seit 2020 sitzt er nicht mehr im iranischen Parlament 
© Morteza Nikoubazl/NurPhoto / Getty Images

Mina Rostami erinnert sich an eine Zeit, als das anders war. Es waren die Präsidentschaftswahlen 2009, als ihr Onkel sogar den schwerkranken Großvater zur Urne schleppte. Mir-Hossein Mussawi der Kandidat der Reformer, sollte so eine zusätzliche Stimme bekommen. 85 Prozent der Wahlberechtigten beteiligten sich damals – eine Zahl, von der auch westliche Demokratien nur träumen können.

Doch wie jene Wahl ausging, bleibt für viele Iraner ein Trauma. Offiziell siegte der Hardliner Mahmud Ahmadineschad, seine Herausforderer beklagten Wahlfälschung. Hunderttausende gingen daraufhin auf die Straße, forderten Neuwahlen, das Regime ließ Milizen in Zivil auf die Demonstranten los, 72 Menschen starben, Tausende wurden festgenommen. Heute, fast 15 Jahre später, steht der damalige Kandidat der Reformer Mir-Hossein Mussawi noch immer unter Hausarrest.

Seitdem sinkt die Wahlbeteiligung im Iran stetig. "Es war der erste Schritt unserer Desillusionierung", sagt Rostami. Die habe, insbesondere nach den Protesten 2022 und wegen der sich vertiefenden Wirtschaftskrise, inzwischen alle Gesellschaftsschichten und Altersklassen erreicht.

Ein Bauunternehmer sieht nur noch eine Möglichkeit: nicht wählen

Amir Akbari, auch er heißt in Wirklichkeit anders, war 18 Jahre alt, als er im Januar 1979 gemeinsam mit einer großen Menschenmenge eine Schahstatue stürzte. Der Maschinenbaustudent war fest davon überzeugt, dass freie Wahlen und eine prosperierende Republik die Diktatur des Schahs ablösen würden. 

Akbari ist mittlerweile ein erfolgreicher Bauunternehmer, er keltert seinen eigenen Wein, seinen Urlaub verbringt er gern im Ausland, in der Türkei oder in Westeuropa. Amir Akbari blieb lange ein Unterstützer der Islamischen Republik. Jedenfalls solange Reformer realistische Chancen hatten, Wahlen zu gewinnen. Im Gegensatz zu den sogenannten Konservativen, den islamistischen Hardlinern rund um den Obersten Führer Ali Chamenei, standen die Reformer für eine schrittweise Öffnung und Liberalisierung des Landes. Akbari, heute 63 Jahre alt und Vater von zwei Töchtern, versprach sich von ihnen eine bessere Wirtschaftslage und neue Aufträge für sein Bauunternehmen. 

Eine Frau unter iranischen Flaggen
Vor den Parlamentswahlen hängen in Teheran viele iranische Flaggen, um die Iraner und Iranerinnen zu motivieren, zur Wahl zu gehen 
© Morteza Nikoubazl/NurPhoto / Getty Images

Doch nach jedem Wahlsieg der Reformer kamen die Hardliner spätestens bei der nächsten Wahl zurück, machten die Lockerungen nicht nur rückgängig, sondern verschärften die Spielregeln zusätzlich. Erst ein halbes Jahr ist es her, da wurde das Auto von Akbaris Tochter beschlagnahmt, weil eine Kamera mit Gesichtserkennung sie ohne Hidschab geblitzt hatte. Amir Akbari sieht heute, genauso wie Mina Rostami, in der Nichtwahl eine letzte Möglichkeit, als Bürger seiner Stimme Ausdruck zu geben: als eine Absage an die Islamische Republik.

Vor allem die jungen Iraner blicken erwartungsvoll in die USA

Die schlechte Wirtschaftslage hat indes auch Mina Rostamis Leben auf den Kopf gestellt. Seit einigen Wochen ist sie arbeitslos, ihr ehemaliger Chef hat die Firma aufgelöst und will demnächst in die USA emigrieren. "Dort findet die für uns wirklich entscheidende Wahl statt", glaubt Rostami. Was sich ändern werde im Iran entscheiden die Amerikaner am 5. November.

Das ist eine Meinung, die Rostami mit vielen Iranern teilt. Vor allem die jungen Iraner und Iranerinnen sind über den Wahlkampf in den USA gut informiert, sie kennen die chancenreichen Anwärter und Kandidaten im Vorfeld der Wahlen und wissen vor allem, wie sie zum Iran stehen. 

Die meisten aus ihrem Bekanntenkreis, die gegen die eigene Regierung seien, hofften auf einen Sieg für Trump, erzählt Rostami, manche vergötterten ihn geradezu, weil sie ihn für ein Mann des Wortes hielten, der es den Mullahs und den Revolutionsgarden zeigen werde. Mina Rostami selbst ist skeptisch, sie bezweifelt, dass Donald Trump sich im Interesse der Iranerinnen und Iraner zum Mullah-Schreck aufspielt. Aber so richtig gegen Trump sei nur ihr früherer Chef, sagt Rostami. Er hofft auf einen US-Präsidenten, der es neuen Immigranten nicht allzu schwer macht.