Umwelt Umweltschutz: Waschen, Schneiden, Ölpest stoppen

Seit 2021 sammelt Emidio Gaudioso die Haarreste in seinem Salon. Mittlerweile helfen 1000 weitere Friseure mit
Seit 2021 sammelt Emidio Gaudioso die Haarreste in seinem Salon. Mittlerweile helfen 1000 weitere Friseure mit
© Michael Werk / szlz.de
Ein Friseur aus Bückeburg sammelt Haarabfälle aus ganz Deutschland und fertig daraus Ölbarrieren

Vor allem kleine Kinder seien manchmal enttäuscht, wenn sie das Aquarium in seinem Salon entdecken, erzählt Emidio Gaudioso. Wo denn die Fische darin seien, wollen sie dann von dem Friseurmeister aus Bückeburg wissen. "Sind sie noch sehr jung, druckse ich dann eher herum, und behaupte, die Tiere kämen bald wieder", so der 59-Jährige. Sind die jungen Kunden dagegen schon in der Schule, erklärt Gaudioso ihnen, warum er das große Becken neben den Toiletten leer geräumt hat. Statt Grünpflanzen, Kieseln und Fischen stecken jetzt lange weiße Würste im Wasser, manchmal schwappen auch Ölschlieren darin.

Denn Gaudioso hat sein Aquarium umfunktioniert, zu einem Testbecken für neuartige Ölbarrieren aus Haaren. Mit seinem Start-up "Hair Help the Oceans" sammelt er dafür Haarreste aus ganz Deutschland, stopft sie in Schläuche oder verfilzt sie zu Matten. Feuerwehren an Flüssen, Seen und Meeresküsten können damit Ölverschmutzungen im Wasser besonders effektiv eindämmen – denn durch ihre schuppige Oberfläche nehmen Haare besonders leicht Fett auf. Den Effekt kennt jeder, der seinen Kopf einmal länger nicht gewaschen hat.

Von der menschlichen Haarstruktur kann die Umwelt profitieren

Er beweist sich auch in Gaudiosos Aquarium: Träufelt er dort Motoröl ins Wasser, breitet es sich als schillernde Lache schnell auf der Wasseroberfläche aus, gelangt jedoch nur bis zu seinen mit Haaren gefüllten Stoffnudeln – sie saugen das Öl auf. Zieht der Friseur noch kurz eine seiner Matten durch den Ölfleck, erscheint das Wasser danach wieder klar.

Dafür sorgt die spezielle Struktur von Haaren: Jedes einzelne ist umgeben von einer porösen Schuppenschicht, unter dem Mikroskop ähnelt sein Aussehen dem eines Tannenzapfens. Geraten Ölpartikel damit in Kontakt, setzen sie sich zwischen die einzelnen Schuppen. Deshalb können Haare das Drei- bis Neunfache ihres eigenen Gewichts an Öl aufnehmen.

Dieses Prinzip ist schon länger bekannt: Nach einer Tanker-Kollision bekämpfte 1978 die Bretagne mit Haarfiltern die Ölpest an ihrer Küste, auch bei der Deepwater-Horizon-Katastrophe kamen sie zum Einsatz. Im großen Stil aber hat erst eine Organisation aus Frankreich derartige Hilfsmittel hergestellt – die Coiffeurs justes, die fairen Friseure. Ihre Filter kommen vor allem in den Maschinenräumen von Schiffen zum Einsatz, um dort austretendes Öl direkt einzufangen. Friseursalons aus ganz Frankreich senden dafür seit 2015 ihre Haarabfälle ein.

Haar, das dem Ozean hilft 

Gaudioso hörte 2021 von der Idee – und war sofort begeistert. "Ich hatte mir  zwar Mühe gegeben, meinen Salon besonders nachhaltig einzurichten – mit recycelten Möbeln, wiederverwendbarem Bodenbelag und Waschtischen, deren Abwasser für die Toilettenspülung genutzt wird", so der Friseurmeister. "Aber die abgeschnittenen Haare bei mir im Salon habe ich einfach weggeworfen, etwa 50 Kilo jedes Jahr."

Die wollte Gaudioso zunächst nach Frankreich schicken, zu den Coiffeurs justes. Unter seinen Kollegen machte er Werbung für diese Idee, 270 Salons sagten sofort zu und sendeten ihm ihre Abschnitte. Doch schnell stellte Gaudioso fest: Ökologisch sinnvoller wäre es, sie in Deutschland zu verarbeiten. Deshalb gründete er gemeinsam mit dem Unternehmensberater Thomas Keitel Hair Help the oceans. "Die rund 80.000 Salons im Land produzieren etwa 4.000 Tonnen Haarabfälle pro Jahr – die sollten wir nicht bis nach Frankreich fahren, um uns dann die fertigen Ölschläuche liefern zu lassen." 

Ohnehin träumt Gaudioso heute davon, dass viel mehr Länder ihre Haarabfälle vor Ort nutzen – als wertvolle Ressource. Sie helfen nicht nur bei Ölkatastrophen, sondern zum Beispiel auch, im Boden vergraben, bei der Bewässerung von Feldern.

Projekt mit großem Potential

Die Maschinen, mit denen er seine Ölbarrieren herstellt, hat er deshalb bewusst nicht patentieren lassen. Sie pusten die Haare, vermischt mit geschreddertem Kork als Schwimmhilfe, in meterlange Schläuche. "Von der Funktionsweise her ähnelt das Ganze einer großen Wurstmaschine", erklärt Gaudioso. 36 Meter lange Ölbarrieren kann er damit mittlerweile produzieren. Studien belegen mittlerweile, dass sie gegen Ölverschmutzungen genauso wirksam arbeiten wie die bisher üblichen Stopper aus Kunststoff.

Seine ersten Schläuche jedoch, Nylonstrümpfe, stopfte Gaudioso noch per Hand, gemeinsam mit seinem Sohn. 700 Kilo Haare lagerten damals, 2022, in seinem Haus in Bückeburg, im Westen Niedersachsens. Säckeweise stapelten sie sich in Keller und Dachboden, bis seine Freundin schließlich sagte: "Die Haare oder ich." Heute steht Gaudiosos Produktionsanlage in einer kleinen Werkhalle, zusammen mit großen Beuteln voller Haare: Mehr als 1.000 Friseursalons in Deutschland, Österreich und der Schweiz sammeln mittlerweile ihre Haarabfälle für Hair help the Oceans. Pro Jahr zahlen sie 25 Euro für die monatliche Abholung. In vielen Salons stehen außerdem Behälter für die Weinkorken, die in den Ölbarrieren als Schwimmer dienen. Die erhält Gaudioso auch von Gastronomen, außerdem arbeitet er mit der Umweltorganisation Nabu zusammen, die Korken sammelt.

Eingesetzt werden seine Matten und Schläuche bislang aber erst punktuell: Drei Jahre, bis zum Frühling diesen Jahres, dauerte es, bis Gaudioso alle notwendigen Zertifikate, wissenschaftlichen Gutachten und Genehmigungen für seine Ölfilter beisammen hatte. Nun will er sein System schnell ausweiten: Feuerwehren in Wassernähe könnten es nutzen, aber auch Motoryachtclubs sollten die Schläuche vorrätig halten, findet Gaudioso, für mögliche Unfälle mit ihren Booten. Ein örtlicher Wasserversorger will außerdem prüfen, ob sich aus seinen Matten auch Filter für Kläranlagen entwickeln lassen.

Mikroplastik-Fänger der Zukunft? 

Und Gaudioso denkt noch weiter: Der feine Haarstaub etwa, der bei seiner Produktion entsteht, könnte bei Verkehrsunfällen helfen – auf den Straßen würde er Ölpfützen aufsaugen. Noch ist das Pulver dafür aber zu leicht, es verweht schnell. Deshalb sucht Gaudioso jetzt nach einem möglichen Bindemittel. Im Sommer könnten die Haarschläuche außerdem auch rund um beliebte Badestellen aufgespannt werden, sagt der Friseurmeister – schließlich saugen sie auch einen Teil des feinen Ölfilms auf, den Sonnencreme im Wasser bildet. Studien zeigen zudem, dass sich in den Haaren auch Mikroplastik verfängt.

Bedarf wäre also da – und auch ein passender Rohstoff, der unendlich nachwächst: Haare.

Erschienen in GEO 11/2025