Wer seine Süßigkeitenschublade, Medikamentenbox oder Badezimmerregale durchforstet, wird vermutlich auf den Inhaltsstoff Titandioxid (TiO2) stoßen: Die anorganische Verbindung findet sich als Lebensmittelzusatzstoff E171 in der Zutatenliste und lässt etwa Schokolinsen glänzender und Marshmallows weißer aussehen.
In Kosmetika wird TiO2 als CI 77891 deklariert, seine Eigenschaften als weißestes und hellstes Farbpigment machen es zu einem vielfach genutzten Inhaltsstoff in Lacken und Farben, wo es mit PW6 - für Pigment White 6 - bezeichnet wird. Daneben können Kunststoffe, Textilien, Papier und Gummi Titandioxid enthalten.
Einsatz von Titandioxid seit Jahren umstritten
Trotz des vielfältigen Einsatzes wird bereits seit Jahren diskutiert, ob die Substanz sicher ist. Anfang 2020 stufte die EU den Stoff als "karzinogen beim Einatmen" ein, und zwar für Pudergemische mit einem Gehalt von mindestens einem Prozent Titandioxid in Partikelform oder eingebunden in Partikel mit einem "aerodynamischen Durchmesser von höchstens 10 Mikrometer".
Entsprechend müssen von Oktober 2021 an entsprechende Farbpulver mit einem Warnhinweis versehen werden – eine Entscheidung, die von der Farbenindustrie heftig kritisiert wurde. So schrieb etwa der Verband der deutschen Lack- und Druckfarbenindustrie (VdL), dass der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung und den Berufsgenossenschaften kein einziger Fall einer anerkannten Berufskrankheit aufgrund von Titandioxid vorliege. Zudem beziehe sich die Einstufung der EU von TiO2 als vermutlich krebserregend nur auf das Einatmen entsprechender Stäube.
"Mit solchen Stäuben kommen Sie allerdings beim Streichen und Lackieren nicht in Berührung", heißt es bei "Forum Titandioxid", einer Website des VdL und des Verbands der Mineralfarbenindustrie (VdMi), die sich an Verbraucher richtet.
Tatsächlich scheint wichtig, auf welche Weise der Stoff aufgenommen wird und wie groß die Partikel sind. Mit Berufung auf das Scientific Committee on Consumer Safety (SCCS), den wissenschaftlichen Ausschuss der EU für Verbraucherschutz, gibt etwa das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) Entwarnung für Sonnencremes, in denen TiO2 als mineralischer UV-Schutz eingesetzt wird: Dermal, also über die Haut, werde Titandioxid nicht aufgenommen. "Dies gilt jedoch nicht für Anwendungen, die zu einer inhalativen Exposition gegenüber TiO2-Nanopartikeln führen können (wie z. B. Pulver oder sprühbare Produkte)", so das SCCS mit Blick auf Sonnenschutzsprays mit TiO2-Nanopartikeln.
Ebenso wenig könne ausgeschlossen werden, dass von Haarsprays, die den Stoff in großen Mengen enthielten, ein Risiko ausgehe. Insgesamt scheint also vor allem die Inhalation von Titandioxid problematisch zu sein sowie dessen Einsatz in Nanopartikel-Form.
Krebsauslösende Wirkung bei oraler Aufnahme ist nicht auszuschließen
Ob ein Produkt TiO2-Nanopartikel enthält, ist indes nicht einfach zu bestimmen, wie das Beispiel Zahnpasta zeigt: Laut Europäischer Kosmetikverordnung müssen Hersteller die Verwendung von Nanomaterial nur dann kennzeichnen, wenn es gezielt in dieser Partikelgröße hergestellt wurde und nicht, wenn Nanopartikel unabsichtlich bei der Produktion entstehen.
Entsprechend schreibt auch das BfR, ihm lägen derzeit keine Daten zu Gehalten und Spezifikationen von Titandioxid in Zahnpasta vor. Die Europäische Kommission will nun das SCCS mit einer Einschätzung beauftragen. Grundsätzlich hat die Substanz in Zahncremes keine funktionale Bedeutung, sondern sorgt lediglich für das strahlende Weiß der Paste.
Als solch ein Optik-Verbesserer wirkt Titandioxid auch in vielen Lebensmitteln. Genau für diese stufte die Europäische Lebensmittelbehörde EFSA Anfang Mai dessen Verwendung allerdings als "nicht mehr sicher" ein: Eine erbgutschädigende und krebsauslösende Wirkung sei bei oraler Aufnahme von TiO2 nicht auszuschließen. In der Folge schlug die Europäische Kommission den EU-Staaten einen Zulassungsstopp vor, auch wenn keine akute Gesundheitsgefahr bestehe, verbunden mit einer Übergangsfrist – eine Empfehlung, der sich das BfR anschloss.
Die EFSA-Einstufung basiert auf der Auswertung von mehr als 200 Publikationen, in denen es um mögliche erbgutschädliche Effekte durch Titandioxid ging. Dazu gehört auch eine französische Studie von 2017: Die Forscher hatten im Fachblatt "Scientific Reports" von Experimenten mit Ratten berichtet, denen sie hundert Tage lang oral E171 in einer Dosis verabreichten, die der Menge entspreche, der Menschen durch die Verwendung von E171 als Lebensmittelfarbe ausgesetzt sein können. Die Forscher stellten fest, dass die Tiere Darmentzündungen bekamen und Schäden am Immunsystem auftraten. Zudem wurde in den Versuchen gezeigt, dass TiO2-Nanopartikel ins Blut gelangen könnten.
Die Autoren betonen, die Ratten-Experimente seien allerdings nicht ohne weiteres auf den Menschen übertragbar: Es handele sich in erster Linie um eine Studie zur Erhebung wissenschaftlicher Daten, nicht um eine Risikoanalyse.
Verbraucherschutzorganisationen fordern ein generelles Titandioxid-Verbot
In Frankreich darf Titandioxid bereits seit 2020 nicht mehr in Lebensmitteln verwendet werden. Auch in der Schweiz wird E171 als Lebensmittelzusatzstoff bis voraussichtlich Ende 2021 verboten. In Deutschland fordern Verbraucherschützer etwa von Foodwatch schon länger einen Verzicht. Und die Umweltorganisation Bund kommentierte den EFSA-Vorschlag in einer Mitteilung: "Da Titandioxid lediglich genutzt wird, um Lebensmittel optisch für die Verbraucher*innen attraktiver zu machen und keinerlei ernährungsrelevante Funktion hat, ist eine Verwendung überflüssig und steht in keinem Verhältnis zu den potentiellen Risiken.“"
Diese potentiellen Risiken betreffen laut einer Studie der Universität Zürich vor allem Patienten mit entzündlichen Darmerkrankungen. So untersuchte ein Team um den Gastroenterologen Gerhard Rogler 2017 den Effekt von TiO2-Partikeln in Zellkulturen. Dabei zeigten die Wissenschaftler, dass sich diese Partikel in menschlichen Darmepithelzellen anreichern können.
Im nächsten Schritt mischten die Forscher Mäusen TiO2 ins Futter. Während sich bei Tieren mit gesundem Darm keine negativen Effekte zeigten, nahm bei jenen mit Darmentzündungen, ähnlich einem Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa beim Menschen, die Schädigung der Darmschleimhaut zu. Weitere Untersuchungen müssten zeigen, ob sich die Befunde beim Menschen bestätigen lassen, so die Autoren im Fachblatt "Gut".
Dennoch riet Mediziner Rogler in einer Mitteilung: "Aufgrund unserer Ergebnisse sollten Patienten mit einer Störung der Darmbarriere, wie sie bei Darmentzündungen auftritt, auf Titandioxid-haltige Nahrungsmittel verzichten." Einen Schritt weiter geht die Empfehlung von Robert Schiestl, emeritierter Professor für Pathologie, Umwelt- und Gesundheitswissenschaften sowie Radioonkologie der Universität von Kalifornien. Schon 2009 hatte eine von ihm geleitete Studie mit Mäusen ergeben, dass oral aufgenommene TiO2-Nanopartikel oxidativen Stress und Genschäden auslösen könnten. Er sagt auf Anfrage: "Ich rate jedem davon ab, irgendwelche Produkte mit Titandioxid zu verwenden, soweit es andere Produkte gibt."
Bei Arzneimitteln könnte ein Titandioxid-Verzicht problematisch werden
Ein solcher Verzicht könnte zumindest im Pharmabereich schwierig werden. TiO2 steckt in zahlreichen Arzneimitteln, in denen es Pillen und Kapseln ein strahlendes Weiß verleiht. Zudem hat es hier laut Europäischer Arzneimittelagentur auch eine protektive Wirkung, indem es als Überzugsmittel die Wirkstoffe vor UV-Licht schütze und stabilisiere – ein Argument, das Schiestl anzweifelt. Tatsächlich stellt sich die Frage, ob Umkartons und Blister-Verpackungen ihren Inhalt nicht bereits hinreichend vor Licht schützen.
Umstritten ist, ob sich Titandioxid durch einen anderen Stoff ersetzen ließe: So warnt beispielsweise der Verband der Titandioxid-Hersteller (TDMA), dass nach einem TiO2-Verbot Pharmaunternehmen die Zusammensetzung der "Mehrzahl aller auf dem Markt verfügbaren Produkte" ändern und diese neu zulassen müssten: "Der schiere Umfang eines solchen Unterfangens hätte mit ziemlicher Sicherheit zur Folge, dass die Hersteller bestimmte Präparate einfach vom Markt nehmen würden." Auf der anderen Seite gibt es bereits Unternehmen, die Titandioxid-freie Beschichtungen für Tabletten anbieten. Und auch Schiestl meint: "Es gibt viele Stoffe, die Titandioxid ersetzen können."
Die Europäische Kommission will nun die EU-Arzneimittelbehörde EMA um eine Untersuchung bitten, ob und wie sich der Stoff in Medikamenten ersetzen ließe – eine Aufgabe mit weitreichenden Folgen: Denn nach Schätzungen der Kommission sind in der EU 30.000 Medikamente mit Titandioxid auf dem Markt. Und allein in der Gelben Liste, dem Arzneimittelverzeichnis für Deutschland, ergibt eine Suche nach der Substanz mehr als 13.500 Treffer.