Lebenskunst Warum wir nach psychologischem Reichtum streben sollten

Eine reife Frau sitzt auf dem Boot
Hinaus: Wer psychologischen Reichtum anstrebt, sollte aufbrechen. Auf Reisen stellen sich Perspektivwechsel ein 
© Fiordaliso / Getty Images
Ist es das Streben nach Glück oder nach Bedeutsamkeit, das Menschen erfüllt? Wissenschaftler haben eine dritte Dimension entdeckt, die sie als psychologischen Reichtum beschreiben

Ausgerechnet die Lektüre von Friedrich Nietzsche brachte zwei Psychologen auf die Spur einer bisher wenig beachteten Dimension eines guten Lebens. Neben Glück und Sinn gehört nach Auffassung der Wissenschaftler Shigehiro Oishi und Erin Westgate auch die Facette eines "psychologisch reichen Lebens" zu einem guten Leben dazu. 

Natürlich, das ahnt jeder, bedeutet psychologischer Reichtum etwas anderes als beispielsweise materieller Wohlstand, der sich als Fülle von Besitz und Konsumgütern präsentiert. Heute widert dieser viele Menschen mehr und mehr an. 

Inspiriert waren die Psychologen von Nietzsches Werk und Figur "Zarathustra", die der Welt in der Haltung des Wanderers begegnet und das Streben nach Glück (hedonistisches Dasein) und Sinn (eudämonisches Dasein) vieler Zeitgenossen als monoton und langweilig belächelt. Im Zarathustra heißt es: "Gipfel und Abgrund – das ist jetzt in Eins beschlossen! Du gehst deinen Weg der Größe."

Was aber bedeutet dieser neu entdeckte Reichtum des "Lebenswanderers" und seines Lebenspfades, der die zwei Wissenschaftler so faszinierte, dass sie vorschlugen, ihn in das Konzept eines guten Lebens als dritte Dimension zu integrieren? 

Eine reife Frau liegt in einer Badewanne am Meeresufer, die Hände hinter dem Kopf
Eine Prise Verrücktheit schadet nicht. Vor allem Offenheit für Neues macht die Psyche reich
© Fiordaliso / Getty Images

Die Forschenden entdeckten in Interviewstudien, dass eine besondere Art der Informationsverarbeitung in der sozialen Begegnung mit anderen und in der Wahrnehmung der Welt mit einem psychologisch reichen Leben verknüpft ist. In mehreren Studien stellten sie fest, dass psychologischer Reichtum vor allem mit "kognitiver Komplexität" und "Ganzheitlichkeit" im Erleben einhergeht. Beides gründet auf vielfältigen und interessanten Erfahrungen, die bei einem Menschen zu einem Wechsel der Anschauung und einem komplexen Welterleben führen können. 

Perspektivverändernde Erfahrungen 

Um den Gedanken mit mehr Leben zu füllen: So kann etwa eine junge Frau aus wohlhabenden Verhältnissen, die niemals einen Wrestling-Kampf besucht hat, wohl aber stereotype Vorurteile gegenüber dieser "künstlich-dramatischen" und "gewaltsamen" Sportart hegt, nach einem Besuch einer Wrestling-Veranstaltung bereichert sein und einen Perspektivwechsel erleben, etwa erkennen, dass es in dem Sport um Fairness und Disziplin geht.

Psychologie: Das Geheimnis erfüllter Beziehungen: Welche Gespräche Paare führen sollten
© Illustrationen: Giorgi/Adobe Stock, GrandDesign/Adobe Stock, kavya/Adobe Stock
Das Geheimnis erfüllter Beziehungen: Welche Gespräche Paare führen sollten

Oder überrascht sein, dass in der Wrestler-Gemeinde viel gemeinnütziges Engagement für Kinder gepflegt und Spenden gesammelt werden. Vor allem perspektivverändernde Erfahrungen und das Vermögen, Situationen in ihrer Komplexität zu erleben, also auch verschiedene Motive in menschlichem Handeln erkennen zu können, scheinen mit psychologischem Reichtum verknüpft zu sein. Menschen mit einem in diesem Sinne reichen Leben sind in der Lage, eine Vielfalt an Ursachen geistig für Situationen und Ereignisse in Betracht zu ziehen. Ihre Erfahrungen gehen dann mit Überraschung und Erkenntnisgewinn einher oder wissenschaftlicher ausgedrückt: mit einer kognitiv-emotionalen Restrukturierung. Menschen sehen das Leben und die Mitmenschen anschließend auf andere Weise. 

Das psychisch reiche Leben beinhaltet also maßgeblich Neues, Unerwartetes, eine Vielfalt von Interessen und dadurch auch Perspektivwechsel. Oishi und Westgate entdeckten durch Befragung von Studierenden, dass bestimmte Lebenserfahrungen diese Dimension eines guten Lebens eher fördern: So erzielten amerikanische Studierende, die ins Ausland gegangen waren, in den Interviews der Forschenden signifikant höhere Werte an psychologischem Reichtum als jene, die zu Hause und auf dem Campus blieben. 

Die größere Fülle an Perspektiven und komplexen Erfahrungen ging auch mit politischer Offenheit und Liberalität einher. In den Interviews erwiesen sich Menschen, die ein psychisch reiches Leben realisierten, als offener für soziale Veränderungen im Vergleich zu jenen, die nur ein genussvoll glückliches Leben anstrebten oder ein sinnvolles, auf der Suche nach Bedeutsamkeit. Beide tendierten eher zu konservativeren Einstellungen. 

Psychologischer Reichtum hilft durch Krisen 

Gewisse Ähnlichkeiten scheint der psychische Reichtum übrigens zum Flow-Zustand zu haben, bei dem ein optimales Maß an Herausforderung und eigenen Kapazitäten für Zufriedenheit sorgt. Keinesfalls geht es also bei diesem Reichtum um eine Überforderung durch Unbekanntes und Fremdes, sondern das gute Maß an Überraschendem, die Prise Neuheit im eigenen Leben ist gefragt.  

Der neu entdeckte Reichtum geht dabei nicht unbedingt mit Glücksgefühlen und dem Erleben von "Happyness" einher. Nach Auffassung der beiden Wissenschaftler kann er vielmehr Menschen helfen, mit Schwierigkeiten besser umzugehen. Jemand, der den Perspektivenwechsel schätzt, "kann Wert in Erfahrungen finden, die sonst nicht glücklich oder sinnvoll sind", schreiben die Autoren.

Auch wenn die Mehrzahl der Menschen immer noch ein glückliches oder bedeutsames Leben wählen würden, so das Ergebnis der Forschenden, wenn sie sich für eine der drei Dimensionen des guten Lebens entscheiden müssten, so ist vermutlich die Kombination aus allen dreien ideal für die Lebenszufriedenheit: Glück, Bedeutsamkeit, psychologischer Reichtum.  

Die Folge reicher Erfahrungen? Weisheit 

Insgesamt könnte es sich also lohnen, neben Glück und Bedeutsamkeit öfter mal nach neuen und überraschenden Erfahrungen Ausschau zu halten, die sich auf Reisen finden lassen, beim Sport, in Büchern und natürlich in Begegnungen mit möglichst unterschiedlichen Menschen. Interessieren Sie sich! Erfahrungen mit Menschen anderer Kulturen, Altersgruppen und Lebensstile fördern die Perspektivvielfalt und "kognitive Komplexität". Und ja, hin und wieder sollte man ausgetretene Pfade und Denkweisen verlassen – und auch geistig ein Wanderer sein. Auf den offenen Modus der Informationsverarbeitung im eigenen Verhältnis zur Welt lässt sich nämlich durchaus achten. 

Schon der Philosoph Kierkegaard mahnte in seinem bekanntesten Werk "Entweder – Oder", möglichst ein offenes und waches Auge für das "zufällig Begegnende" zu haben und einen neugierigen Geist zu kultivieren. Dieser Lebensstil, so teilte er in einem Seitenhieb mit, sei in einer monotonen Ehe mit einem festen Job und Kind, kurz in einem konventionellen Lebensentwurf, eher nicht zu haben. 

Was macht wirklich langfristig glücklich? Viele erfüllt die Elternrolle. Doch auch ohne Kinder können Menschen "generative Rollen" übernehmen, für Jüngere zum Mentor werden 

Psychologie Die Kunst, erfüllt(er) zu leben

Muss ein erfülltes Leben immer glücklich sein? Wie wichtig ist Erfolg und aus welchen Quellen ziehen Menschen  dauerhafte Erfüllung? Dr. Doris Baumann hat eine Doktorarbeit darüber geschrieben, was Menschen zufrieden leben lässt - und wie sie auch im mittleren Lebensalter noch neue Quellen anzapfen können 

Zu den Folgen eines psychologisch reichen Lebens zählt zu guter Letzt, so eine Hypothese der beiden Forscher, ein Zustand von Weisheit. Er soll sich nach Jahren einstellen, wenn sich die vielfältigen Erfahrungen und Eindrücke eines reichen Lebens zusammenfügen. Nietzsche würde wohl von der "Größe" des Wanderers sprechen, der Berge und Täler durchwandert, ja, der reich gelebt hat. 

Mehr zum Thema