Der Mensch stagniert nicht gern. Im Gegenteil: Frei nach dem Poeten Hermann Hesse wohnt jedem Anfang, jedem Neubeginn im Leben ein Zauber inne. Will sagen: Der Mensch ist neugierig, er möchte wachsen, zu Zielen am Horizont aufbrechen.
Er wünscht, dass sich Türen überraschend öffnen, Erfahrungen und Kontakte ihn bereichern. Sie färben sein Leben bunt und machen es interessant. All das ahnte der Psychologe Arthur Aron. Gemeinsam mit seiner Frau Elaine Aron entwickelte er in den 1980er-Jahren das psychologische Konzept der Selbsterweiterung (Self-Expansion).
Zu den psychologischen Grundbedürfnissen zählt nach dem Ehepaar der Wunsch, sich zu entwickeln und als Persönlichkeit zu wachsen. Das unterscheidet ihr Modell von der Bedürfnispyramide des Psychologen Abraham Maslow: Der wollte zunächst die elementaren Grundbedürfnisse erfüllt wissen, Menschen wollen ihren Hunger stillen, ein sicheres Dach über dem Kopf haben, bevor sich ihre Persönlichkeit entfaltet.
Für die Arons besteht das Bedürfnis nach Entwicklung hingegen durchgehend, auch wenn noch nicht alle Grundbedürfnisse gestillt sind. Menschen dürsten grundlegend danach, neue Ressourcen zu entwickeln, sich neue Rollen anzueignen und sogar ihre Identität zu erweitern. Aron sprach von Expansion, also der Erweiterung des Selbst – wenn Menschen ihre Komfortzone verlassen und neue Erfahrungswelten betreten.
Die Einbeziehung des Anderen in das Selbst
Doch wie erfolgt dieser Anbau und Ausbau des Selbst im Haus des Ich? Für Aron war das Feld zwischenmenschlicher Begegnungen maßgeblich. Wenn Menschen eng befreundet sind, sich Geheimnisse anvertrauen oder sich sogar verlieben, erleben sie, wie sich ihr Selbst erweitert: Durch geliebte Menschen nehmen sie an deren Identitäten, Perspektiven, Erfahrungen, Weltwissen, beruflichen und privaten Rollen teil: Die Grenzen zwischen dem eigenen und dem Selbst des Partners verschwimmen für das Gehirn – ein Prozess, den Psychologen als "Identitätsverschmelzung" beschreiben.
Wer schon einmal in einer Liebesbindung mit einem Juristen, Künstler oder Mediziner steckte, kann diese Theorie vermutlich mit Leben füllen: Plötzlich werden deren Weisen zu denken und die Welt anzusehen auch dem Partner vertrauter – sofern er oder sie offen und interessiert ist. Wie es ist, vor Gericht zu stehen? Den Anwalt der Gegenpartei zu begrüßen? Wie sich die Zeit vor einer Gefäßoperation anfühlt? Das ahnt man nun.
Die Einbeziehung des Anderen in das Selbst ermöglicht es einem Individuum, von den persönlichen Ressourcen und Identitäten des "nahen Anderen" zu profitieren und die Welt aus dessen Perspektive zu betrachten. Zu fühlen, was er fühlt. Seine Sorgen zu teilen, mit ihm vor Stolz zu beben oder das Herz vor Aufregung klopfen zu spüren. Als Motivationstheorie ist Arons Modell einzigartig, da es annimmt, dass Selbstexpansion ein so grundlegendes Kernmotiv ist, wie beispielsweise Hunger oder Sicherheit.
Selbsterweiterung läuft meist unbewusst ab. In der Regel streben Menschen nicht explizit danach, Teil einer Partnerschaft oder Freundschaft zu sein, um ihre physischen und psychischen Ressourcen zu erhöhen – dieser Prozess geschieht eher automatisch. Untersuchungen zeigen, dass dieser Expansionsprozess jedoch das Belohnungssystems im Gehirn anspricht und als belebend wahrgenommen wird. Schnelle Selbsterweiterung verbindet sich mit Gefühlen intensiver Freude, Erregung und Aufregung.
Selbsterweiterung kann verblassen
Langzeitstudien zeigen: Menschen, die sich verlieben, nehmen ihr Selbstkonzept messbar als erweitert wahr – sie beschreiben sich in Arons Studien mit einer größeren Vielfalt an Rollen, Persönlichkeitsmerkmalen, und sie erleben eine erhöhte Selbstwirksamkeit. Was wiederum das Selbstbewusstsein verbessert. Die Erklärung nach Aron: Die Partner haben Identität, Wissen und Fähigkeiten des anderen in ihr Selbstbild integriert, sind ein Stück weit symbiotisch geworden. Anders ausgedrückt: Mit jedem neuen Menschen öffnet sich das Tor zu einer neuen Welt. Zu neuen Eindrücken, Gefühlen, Gerüchen und Erkenntnissen.
Die Wissenschaft nutzt, um die Selbsterweiterung zu messen, eine Skala namens "Inclusion of Other in the Self Scale". Durch überlappende oder getrennte Kreise sollten Menschen dabei angeben, als wie nah oder fern sie ihre Beziehungspartner empfinden. Die visuelle Darstellung zeigt anhand von sich überlappenden Kreisen, wie viel Schnittmengendeckung besteht, und demzufolge, als wie eng die Beziehung empfunden wird.
Möglichkeiten zur Selbsterweiterung verpuffen jedoch oft, wenn die anfängliche Euphorie des Verliebtseins verblasst. Die Einbeziehung der anderen Selbstkonzepte hinterlässt nicht mehr so viel Eindruck. Daher empfiehlt Aron, die Erschließung alternativer Quellen der Selbsterweiterung in Form von Erfahrungen, Wissen und Kompetenzen, Identitäten und Ressourcen gezielt zu trainieren.
Denn die Psychologen um Aron fanden heraus, dass die Beziehungszufriedenheit durch selbsterweiternde Aktivitäten intensiviert wird. Diese tun nicht nur der Person gut, die psychisch expandiert, sondern verbessern die gesamte Beziehung. Sie können den anfänglichen Funken in eingerosteten Bindungen weiter schüren. Doch Selbsterweiterung als Beziehungspflege muss aktiv angegangen werden.
So konnten Paare ihre Partnerschaftszufriedenheit im Vergleich zu Kontrollgruppen messbar vergrößern, wenn sie gemeinsame Aktivitäten planten, die beide "als neuartig, herausfordernd, interessant, unterhaltsam und aufregend" erlebten: Ein Hobby, eine Fremdsprache oder auch der Besuch eines außergewöhnlichen Ortes, statt nur in Routine-Umgebungen zu verharren, kann nach Aron die Zufriedenheit mit der alten Liebe stärken. Und selbst durch ungewöhnliche Kommunikation ließ sich der Horizont eines Liebespaares gezielt erweitern.
Günstig für eine stabile Liebe erwies sich auch, wenn Partner die autonome Selbsterweiterung des jeweils anderen unterstützten, ihn also ermunterten, an seinem Persönlichkeitswachstum zu arbeiten. Denn nicht nur gemeinsam können Menschen auf Expansionskurs gehen, auch jeder für sich kann eigenständige Kompetenzen erwerben, unbekannte Wissensgebiete betreten und sich im Alltag auf neue Perspektiven einlassen. Dies kann durch eine neue Sprache, ein Musikinstrument, neue handwerkliche oder digitale Fähigkeiten geschehen. Jede neu erworbene Fertigkeit, jede Reise erweitert das Repertoire an Ressourcen, um sich selbstwirksam zu fühlen.
Arthur Aron zeigte also schon vor Jahrzehnten maßgeblich, was heutige Coaches beständig wiederholen: Wer die Komfortzone verlässt und sich nach Abenteuern umsieht, gewinnt. Übrigens muss dies nicht zwingend durch Ortsveränderungen und andere Aktivitäten passieren, nach Aron können bereits ungewöhnliche Fragen die Routine aufbrechen und in der Liebe oder einer engen Freundschaft den Expansionskurs öffnen. Der erste Schritt kann eine perspektivverändernde Frage an den nahen Menschen sein – erweitern Sie also Ihr Selbst und Ihre Beziehung! Denn der Mensch wird erst, wie der berühmte Theologe Martin Buber wusste, am Du zum Ich, er wächst durch ein Gegenüber und dessen Resonanz über sich hinaus – und manchmal auch in seine Möglichkeiten hinein.