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Zeitgeist Warum das "innere Kind" erwachsen werden muss

Viel Aufmerksamkeit widmet der Zeitgeist den Verletzungen des inneren Kindes. Warum wir wieder mehr auf die andere Seite schauen müssen 
Kugelstoßpendel
Für die Nachkriegsgeneration war die Metapher des inneren Kindes heilsam. Schlägt das Pendel heute zu weit aus - sind wir nicht erwachsen genug? 
© J Studios / Getty Images

Ein Zirkuselefant liegt in Ketten. Groß ist das Tier und stark. Spielend könnte er an der Kette reißen und den Pflock mit seiner Körperkraft aus der Erde hebeln. Er wäre frei. Könnte vom Zirkusplatz flüchten und die Aufritte in der Manege vergessen. Doch er tut es nicht. Seit Babytagen ist er es gewöhnt, dass die Kette den Kreis seiner Bewegungsmöglichkeiten markiert. Er ruckelt nicht am Geschirr.   

Der argentinische Gestalttherapeut Jorge Bucay hat diese Geschichte in Umlauf gebracht. Sie soll Menschen ermuntern, ihre in der Kindheit erlebten Einschränkungen abzustreifen, Mustern zu er-wachsen. Der Elefant erzählt eine Geschichte von biografisch erlernter Hilflosigkeit und kindlicher Resignation. Was aber bedeutet es, psychologisch erwachsen zu sein? 

In einer Zeit, in der viele die Wunden ihres inneren Kindes umkreisen, scheint das eine lohnende Frage. Der Psychologie und Psychotherapeut Dr. Tobias Glück hat dem Erwachsensein ein Buch gewidmet. Er zitiert darin Bucays Fabel und schreibt in der Sprache des Bildes: "Erwachsensein bedeutet, sich aus angelegten Fesseln zu befreien." Und er führt aus, dass das Konzept des inneren Kindes zwar auf sinnvolles Selbstgefühl für die eigenen verletzten Anteile ziele, relativ blass aber lasse, wie es denn danach damit weitergeht, erwachsen zu leben. 

Die Opfersicht hemmt die Gestaltungskraft 

Paradoxerweise führt das Konzept nicht selten dazu, dass Menschen sich als Opfer der biografischen Umstände betrachten und in ihrem Lebensgefühl auf Wiedergutmachung drängen. Die Folge: Die Opfersicht hemmt ihre Gestaltungskraft. Das Pendel, so könnte man sagen, ist von der Härte der Nachkriegsgeneration, die die Zähne zusammenbiss und Emotionen runterschluckte, zu übergroßer Verletzlichkeit und Gefühlsanalyse gegangen, die in passiver Klage, manchmal sogar Regression verharrt. Die Psychologin Gitta Jacob attestiert dem Zeitgeist "zu viel Gefühl". 

Ein übermäßiges Fühlen und der Wunsch, seine Emotionen optimal zu versorgen und zu begreifen, hätten die sachliche Auseinandersetzung mit unbequemen Situationen oftmals regelrecht abgelöst. Klug fragt Gitta Jacob, warum wir uns bei all der Achtsamkeit nicht besser fühlen. Ja, warum Berichte über Einsamkeit, Sorgen und Ängste in der jüngeren und achtsam aufgewachsenen Generation dominieren. Der Weg, so folgert sie, den wir gehen, scheint nicht zu funktionieren. 

Könnte es sein, dass das Pendel bereits zu stark ins nächste Extrem gekippt ist? Dass die Haut zu dünn ist, nicht die rechte Dicke und Abwehrstärke hat? Müssen wir wieder erwachsener agieren? Braucht es gerade mehr Selbstvergessenheit und Wegschauen vom Ich? Weniger Grübelei und Gefühlsanalyse? Und ist es ein Zufall, dass – scheinbar paradox – inzwischen Psychologen mahnen, das Selbstmitgefühl zu dosieren? 

Fünf Säulen des Erwachsenen-Selbst 

Für Verhaltenstherapeut und Buchautor Tobias Glück geht es darum, dass Menschen ihr Leben aktiv gestalten, indem sie Verantwortung übernehmen und für sich sorgen. Niemand muss seine Kindheit ausradieren, wenn diese schmerzhaft war, wie einige seiner Patienten es wünschen. Allerdings droht die Metapher vom inneren Kind, eine vergangenheitsfixierte Perspektive zu zementieren. Der Fokus müsse weg vom zu stark umkreisten Negativen. Es bleibe in der eigenen Hand, wie ein Mensch lebt, er muss sich dazu seines Erwachsenseins vergegenwärtigen.

Fünf zentrale Säulen bilden psychologisch ein Erwachsenen-Selbst: die wohldosierte Selbstregulation von Gefühlen, die Verantwortung für eigene Entscheidungen, die Akzeptanz der Gegenwart, aber nicht resignativ. Schließlich die guten Grenzen zu anderen und die Loslösung von kindlichen Mustern. Glücklicherweise darf auch der Mensch im erwachsenen Modus bei Tobias Glück spielerisch und kindlich sein, auf erwachsene Weise. 

In einem ersten Schritt ermuntert Tobias Glück zu einem gesunden Umgang mit Emotionen. Fachleute sprechen von Selbstregulation, wenn jemand nicht in Gefühlswogen untergeht, sondern Worte für aufwallenden Zorn findet und Strategien kennt, zu Ruhe und Gelassenheit zurückzufinden. Er ist in der Lage, selbstfreundlich mit sich umzugehen, versinkt aber auch nicht im Gefühlsmorast, einer Innerlichkeit à la Goethes Werther, die am Leben scheitert.  

Was es bedeutet, psychologisch erwachsen zu handeln 

Wohldosiert übernimmt ein Erwachsener also Verantwortung für seine Gefühle. Psychologisch erwachsen ist zweitens aber auch, wer für eigenes Handeln, Denken und Entscheidungen einsteht. Dieser feine Sinn für die eigene Beteiligung an dem, was ist, macht zum Gestalter. Auch anderen nicht die Schuld an misslichen Situationen zuzuschieben, zählt zu diesem souveränen Modus.

Ein Mensch im Erwachsenenmodus akzeptiert drittens auch, was gerade in der Gegenwart ist, ohne darüber zu resignieren. Das Geld ist knapp? So ist es. Und man kann ja etwas tun. Es geht um einen Sinn für die Realität, der die Möglichkeit offenlässt, Lösungen zu finden. Gerade dadurch öffnen sich Türen, ein Handlungsraum tut sich auf. Die Akzeptanz lässt das Ruckeln an den Ketten des Elefanten zu. 

Erfüllung finden Menschen in Beziehungen zu anderen, zu Freunden, Verwandten und dem Partner: Doch erwachsen lebt nur, wer viertens auch Grenzen ziehen kann und diese höher wertet als das Kontrollbedürfnis und die Enttäuschung anderer über eben diese Grenzen.  

Wer sich öfter entscheidet, klar im Erwachsenenmodus zu agieren, statt durch die beschlagene Brille des inneren Kindes zu blicken, hat mehr Karten und Trümpfe in der Hand als derjenige, der unentwegt verletzte Selbstanteile wiegt und analysiert. Alte Muster und Prägungen loszulassen ist der fünfte Tipp. Die Metapher des inneren Kindes war historisch nach dem Drill der 1950er-Jahre wichtig, heute hat vieles überhand genommen. Und wurde nicht zuletzt zu einem Geschäftsmodell der boomenden Psychoindustrie. Die Kurskorrektur in Richtung Erwachsensein steht uns jederzeit offen. Die eigene Geschichte selbst nach vorn zu schreiben, kann beglückender sein, als ewig Erklärungen in der Vergangenheit zu suchen. Denn auch das innere Kind wird eines Tages erwachsen.