Selbsthilfe-Trend Was ist dran am Konzept des inneren Kindes? Eine kritische Betrachtung

Sich den eigenen verletzten kindlichen Anteilen zuwenden - sieht so die Lösung (fast) jeden Problems aus? Der Selbsthilfemarkt suggeriert es heute teilweise  
Sich den eigenen verletzten kindlichen Anteilen zuwenden - sieht so die Lösung (fast) jeden Problems aus? Der Selbsthilfemarkt suggeriert es heute teilweise  
Ist das innere Kind und seine Heilung die Lösung aller Probleme? Manche sind davon fest überzeugt. Verwandte Metaphern haben eine Geschichte in der Psychologie - doch zuweilen stehen dahinter ganz verschiedene Konzepte. Eine kritische Betrachtung eines inflationären Bildes und seiner Gefahren

Ein Konzept der Psychologie ist auf geradezu unheimliche Weise erfolgreich: Die Heilung des inneren Kindes. Da erzählt mir neulich eine Freundin, sie hätte jetzt ihre "innere Kind-Arbeit" erledigt und quasi Weisheit und Hoheit über ihr Leben erlangt. Alle vergangenen Beziehungsdesaster seien seit dieser Klarheit passé - sie habe ihre Hausaufgaben in Sachen Vergangenheit erledigt. Von Instagram-Accounts und aus Coaching-Podcasts, ja sogar aus knackigen Tik-Tok-Sentenzen, tönt es vom inneren Kind.

Was ist dran am Konzept? Eins vorweg: In der wissenschaftlichen Psychologie spielt dieser Begriff quasi keine Rolle. Erstmalig tauchte das Konzept in der sogenannten Transaktionsanalyse von Eric Berne auf. Seit den Achtzigerjahren arbeitete dann die Schema-Therapie mit verwandten Vorstellungen und verschiedenen Kind-Modi, die es nach Sicht der Schematherapeuten "nachzubeeltern" galt. So wendetet man sich in Therapien beispielsweise den "vulnerablen", "ärgerlichen" oder "undisziplinierten" Kind-Modi zu. Erfolgreich wurde die Metapher aber vor allem durch den Selbsthilfetrend auf dem Büchermarkt der vergangenen Jahre.

Was ist gemeint? "Erfahrungen der Kindheit sollen als biografische Muster und Schemata später noch das Erleben, die Wahrnehmung, das Verhalten und auch Beziehungen zu anderen Menschen prägen. Das ist durchaus Teil verschiedener Therapieansätze, allerdings weniger unter diesem Begriff", sagt Prof. Wolfgang Lutz, Mitherausgeber eines Standardwerks für Psychotherapieforschung, das mittlerweile in der siebten Auflage erscheint und regelmäßig aktualisiert wird. Das innere Kind sei eher als "eine Metapher" zu verstehen. 

Neben dem Achtsamkeitstrend wurde die "innere Kind-Heilung" populär

Nach Beobachtung des Professors und Psychotherapie-Experten habe der Begriff plötzlich eine immense Popularität in Deutschland erlangt. Und zwar durch einen Trend auf dem Ratgeberbuchmarkt. Der führe seiner Beobachtung nach stets ein Eigenleben. Zunächst habe die Achtsamkeit diesen Zweig von Literatur dominiert, regiert ihn auch weiterhin. Doch als ein ergänzender Zweig sei seit einiger Zeit das Bedürfnis einer Auseinandersetzung mit dem inneren Kind populär. Vermutlich kennen die meisten die Bücher der Psychologin Stefanie Stahl.

Stark vereinfacht richten diese sich an ein breites Publikum und bieten Erklärungsmuster mit griffigen Sätzen wie "Das Kind in Dir muss Heimat finden." Ratsuchenden wird eine überschaubare Problemlösestruktur geboten und Übungen, um Glaubenssätze des verletzten "Schattenkindes" aufzulösen. Im Untertitel verheißt das Buch selbstbewusst einen "Schlüssel zur Lösung (fast) jeden Problems." 

Menschen, die sich in der biografischen Rückschau regelrecht verlieren

Prof. Wolfgang Lutz kennt das Phänomen gut. Er gibt nicht nur das Standardwerk für Psychotherapieforschung heraus, sondern leitet im Alltag die Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Trier und die dazugehörige poliklinische Psychotherapieambulanz, in die schon mal Hilfesuchende mit Büchern von Stefanie Stahl spazieren und "immerhin", so der Professor, "ihre Verarbeitung dazu mitbringen", mit der er weiterarbeiten kann. Man müsse auch anerkennen, dass die Psychologin einen Nerv getroffen habe und manche Menschen dadurch ein Zugang zu ihrem Innenleben möglich wird, die sich sonst schwertun, emotionale Zustände zu benennen. Das will der Psychologieprofessor keinesfalls kleinreden.

Doch der Leiter der Trierer Psychotherapieambulanz kennt Fälle, bei denen die  biografische Rückschau in die Kindheit keineswegs zu Veränderungen führte. "Diese Menschen haben zuweilen Mühe, aus der Vergangenheit in das Hier und Jetzt zurück zu wechseln und kommen gar nicht mehr ins Handeln", so Lutz. Andere reagierten sauer und enttäuscht, weil sie ja davon ausgingen, dass ihnen die Lösung fast jeden Problems versprochen wurde. Klar trennen müsste man also zwischen Menschen, die sich nur mit sich beschäftigen wollen und solchen mit ernsten seelischen Problemen und psychischen Störungen.

Professor Lutz hat einige Zeit in den USA geforscht und eine interessante Beobachtung mitgebracht. In Amerika ist das Konzept des inneren Kindes keineswegs so populär wie in Deutschland. Offenbar ist der Blick zurück in die Vergangenheit etwas, das einem deutschen Bedürfnis nach Rückschau entspricht. Dabei sind Gegenwart und Zukunft oft viel eher mit aktiver Problemlösung und als Folge davon mit größerem Glücksempfinden verbunden. 

Das Bild innerer Teile? Einladung, sich als handelnder Akteur zu verabschieden

Dazu passt eine Beobachtung des Psychologischen Psychotherapeuten und Psychoanalytikers Hans-Werner Rückert, der untersucht hat, warum manche Menschen partout nicht zum Akteur im eigenen Leben werden und diese alle Projekte prokrastinieren, also auf die lange Bank schieben. Ein Grund dafür kann nach Rückert sein, dass manche Menschen in einer Opfersicht ihrer Lebensgeschichte und Kindheit hängenbleiben. Besonders als Ende von Therapien ist diese Opfersicht gefürchtet. "Überlegen Sie einmal", schreibt er in seinem Buch Das Glück des Handelns, "mit dem Glauben daran, dass es wirklich die verschiedensten Teile in Ihnen gibt (...), können sie sich als (selbstbestimmter) Akteur verabschieden." Wer etwa die Metapher widerstreitender Parteien und verletzter Anteile in sich zu ernst nehme, für den sei es als erwachsener Akteur irgendwann aus. Nach dem Motto: Ein Teil in mir wollte aufstehen, der andere (kindliche, trotzige, verletzte Teil) liegenbleiben.  

Was sind also die Gefahren? "Wichtig ist, nicht in der biografischen Erinnerung zu verharren", findet Wolfgang Lutz, "sondern sich im Erwachsenenmodus den vielleicht kindlicheren Empfindungen zuzuwenden und fürsorglich zu sich zu sein", sich nachzubeeltern, wie Psychologen das zuweilen nennen. Dazu braucht es in Therapien jedoch Unterstützung und Begleitung. Lutz glaubt, dass der Achtsamkeitstrend auf dem Selbsthilfemarkt den inneren Kind-Trend als Folge hervorgebracht habe. Wem es durch Achtsamkeit motiviert selbst gelingt, sich besser um sich zu kümmern, der ist zu beglückwünschen, aber das ist leider nicht die Regel. 

Die Schematherapie geht von verschiedenen "Kind-Modi" aus, die es nach Vorstellung der Therapeuten nachzubeeltern gilt 
Die Schematherapie geht von verschiedenen "Kind-Modi" aus, die es nach Vorstellung der Therapeuten nachzubeeltern gilt 
© scentrio / Adobe Stock

Das inhaltliche Bild verletzter kindlicher Anteile birgt nämlich auch seine Risiken. In der Traumatherapie etwa arbeiten Therapeuten seit jeher mit dem Konzept von Ego States, traumatisierten Selbstanteilen, die etwa durch Missbrauchserfahrungen und andere bisher nicht zu verarbeitende Erlebnisse abgespalten wurden und die es in einer Traumatherapie zu heilen gilt. Bei entsprechender Veranlagung kann die heute populärer werdende Rede von verschiedenen Selbstanteilen Menschen eher verunsichern, sofern sie zu einer dissoziativen Identitätsstörung neigen.

Erziehungsarbeit: Die eigene Biografie zu klären, kann helfen, Leid nicht weiterzureichen 

Dennoch kann trotz aller berechtigter Kritik am inflationären Gebrauch der Metapher die Klarheit über biografische Kindheitserfahrungen natürlich einige Vorteile bringen. Sie kann etwa in der Erziehung nützlich sein, wenn Mutter oder Vater sich mit ihren eigenen biografischen Prägungen auseinandergesetzt haben, die sie nicht in der Erziehung weiterreichen möchten. Dadurch kann verhindert werden, dass Leid von Generation zu Generation fortgesetzt wird. 

Vielleicht haben Sie ja sogar schon einmal den Satz gehört, dass es nie zu spät für eine glückliche Kindheit sei und gewissermaßen ein glückliches "inneres Kind". Ich würde sagen: In der richtigen Verfassung mag ein solcher - übrigens auch in Therapien sehr beliebter Mutmachersatz (unter anderem wird er dem berühmten Hypnotherapeuten Milton Erickson zugeschrieben) - stimmen und zur Selbstermächtigung befeuern.

Doch die Lösung für jedes Problem ist das innere Kind und der Hype um seine Heilung als Trend der Küchenpsychologisierung sicher nicht. Die Dosis macht das Gift. Und irgendwie fand ich es doch immer befremdlich, wenn Menschen kurz vor dem Rentenalter nicht müde werden, eigenes Unglück dadurch zu erklären, dass Mutter oder Vater damals nicht zur Schulaufführung kamen oder das eine Mal der Turnbeutel für die Sportstunde fehlte. Irgendwann ist es nämlich auch Zeit, erwachsen zu sein und die Schatten der Kindheit beherzt loszulassen, das innere Kind nicht mehr als Erklärungsstütze wie das dritte Rad am Dreirad zu brauchen. Das ist der Moment, in dem Menschen ihr eigenes Leben leben - unabhängig von der Vergangenheit sind sie selbst am Steuer.