GEO: Manche Menschen nennen andere toxisch. Was soll das eigentlich bedeuten?
Stefan Junker: Toxisch heißt giftig. Es bedeutet also, dass ein Mensch für einen anderen Menschen wie Gift ist, also dass er dem anderen nicht gut tut. Tatsächlich tun viele Menschen einander nicht gut. Aber jemanden als Gift zu bezeichnen, das ist aus psychologischer Sicht problematisch.
Warum?
Wenn ich sage, jemand ist toxisch, dann ist das eine anmaßende Zuschreibung: Dieser Mensch ist ein unveränderlich giftiger Mensch. Ich stemple diesen Menschen ab.
Wenn der Mensch aber schädlich war, warum ihn dann nicht treffend auch "toxisch" nennen? Vielleicht lernt er ja daraus.
Nicht Menschen sind schädlich, sondern ihr konkretes Verhalten und dessen Wirkung. Der Begriff "toxisch" hilft vielleicht, mir einzugestehen, dass etwas in einer Beziehung nicht funktioniert. Aber er verleitet gleichzeitig dazu, lediglich mit dem Finger auf den anderen zu zeigen.
"Toxisch" dient also nur dazu, den anderen oder die andere pauschal abzuwerten?
Ja. Der Begriff gibt mir scheinbar Sicherheit: Endlich weiß ich, warum ich mich schlecht fühle, warum die Beziehung nicht gut läuft, und wer schuld ist – der andere! Aber der Begriff verunsichert auch: Kann ich sicher sein, dass ich nicht noch mehr toxische Menschen um mich habe? Bin ich sicher, nicht selbst toxisch zu sein? Die zahllosen Online-Selbsttests und Fragebögen zum Thema helfen nicht, denn einzelne Antworten werden immer auf toxische Beziehungen hindeuten.
Wenn "toxisch" als Metapher nicht gut ist, wie drücken wir uns besser aus?
Wir haben viele hilfreiche Beschreibungen, die zu wenig verwendet werden. Zum Beispiel der Begriff Gewalt: Du hast mir Gewalt angetan, körperlich oder psychisch. Am besten drücke ich das noch genauer aus: Durch das, was du da gerade getan hast, fühle ich mich von dir abgewertet. Das was du gerade tust, verletzt mich. Oder: Ich empfinde es als selbstbezogen, wie du dich verhältst. Oder: Ich wünsche mir, dass du dich mehr einfühlst in mich und in meine Situation. Wichtig ist: Alles das, was ich mit anderen erlebe, nicht als Zustand und als vermeintliche Eigenschaft beschreiben, sondern als Verhalten.
Das klingt abstrakt.
Oft sagen Leute: Du bist immer so und so! Das ist eine Festschreibung anstatt einer hilfreichen Kritik an konkretem Verhalten. Da geht bei vielen Menschen auch der Schutzmechanismus sofort hoch. Denn es spricht mir ab, mich anders verhalten zu können, mich zu verändern. Es spricht mir meine Selbstbestimmung ab. Da geht die Abwehr hoch und ich erwidere: Und du bist immer so und so!
Wie ginge es denn besser?
Zum Beispiel, indem ich sage: Du hast neulich mal wieder das und das getan, und das hat Folgendes mit mir gemacht. Oder etwa: Dein Verhalten macht mir Angst, wie du gerade mit mir redest, wie du die Stimme erhebst, wie du laut bist. Dann beschreibe ich konkretes Verhalten, und das kannst du ändern. Dann differenziere ich und wir können sogar gemeinsam reflektieren.
Müssen denn alle Beziehungen gerettet und gestaltet werden?
Man braucht sicher nicht endlos versuchen, alles zu verändern oder gar auszuhalten, was einem nicht guttut. Aber es gibt auch die Option, Beziehungen einfach zu beenden, ohne die anderen zu Gift zu erklären. Toxische Menschen gibt es nicht. Er ist nur scheinbar eine objektive psychologische Diagnose. In Wirklichkeit gibt es keinen Kriterienkatalog, der Menschen als toxisch entlarvt; es ist kein etablierter Fachbegriff.
Nun geht es beim Begriff "toxisch" nicht nur um Beziehungen, sondern auch um gesellschaftliche Missstände. Toxische Männlichkeit bedeutet etwa erlerntes, destruktives Verhalten, mit dem vor allem Männer versuchen, ihre gesellschaftliche Rolle zu behaupten. Wie können wir über die Gesellschaft sprechen und Missstände kritisieren, ohne das Wort zu verwenden?
Bei toxischer Männlichkeit geht es nicht um das Verhalten einzelner Männer, sondern darum, eine ganze Kultur greifbar zu machen. Es schreibt nicht Personen in ihrem So-sein fest, sondern beschreibt Strukturen und Kulturen von Verhaltensweisen. In diesem Kontext kann der Begriff sinnvoll sein. Wieder muss ich aber genau beschreiben: Ich erlebe in dieser Firma eine Kultur toxischer Männlichkeit, die sich in diesem und jenem Verhalten von vielen Männern zeigt. Diese Differenzierung kann der Firma helfen, ihre Kultur zu verändern. Am wichtigsten ist aber: Wir dürfen nie ignorieren, wenn Gewalt passiert. Sie muss klar benannt werden, egal, ob wir das Wort toxisch verwenden oder nicht. Wenn Sie selbst Gewalt erleben, dann benennen Sie ihre Grenzen. Benennen Sie die Gewalt als Gewalt, und schützen Sie sich.
Also kommen wir eigentlich auch hier ohne das Wort "toxisch" aus?
Ja, denn der Begriff lädt nicht zur Neugier und zum genauen Hinschauen ein, denn von vermeintlich toxischen Menschen wendet man sich aus reinem Selbstschutz lieber direkt ab. Und das ist eher das Problem an der vielen Verwendung: Für unsere liberale Demokratie ist es sehr wichtig, dass wir uns nicht nur von anderen abgrenzen, sondern auch zueinander kommen, uns begegnen, selbst wenn wir uns nicht mögen oder sogar nicht gut tun. Denn wir müssen ja in der Demokratie gemeinsam gucken, wie wir zusammenleben können. Aber je mehr wir das Etikett "toxisch" verteilen, desto mehr bauen wir Mauern anstatt Brücken.
Was hoffen Sie: Wo wird der Begriff des Toxischen künftig verwendet?
Wir verwenden den Begriff wieder da, wo er hingehört. Er bezieht sich auf Gifte, auf physische, chemische Substanzen. Und nicht als Metapher auf das Psychische.