Na klar, zuweilen mag es sinnvoll sein, Geplantes zu verschieben. Manche Vorhaben erledigen sich mit der Zeit von selbst; mancher Plan lässt sich später ebenso gut oder sogar besser ausführen. Ständiges Aufschieben kann jedoch eine äußerst schädliche Eigendynamik entfalten. Man erledigt Wichtiges gar nicht oder – gezwungen durch die Umstände – gehetzt im letzten Moment.
Ob Abwasch, Steuerklärung oder Anruf bei den Verwandten: Manche von uns schieben so gut wie alles auf. Und leiden darunter, sind unzufrieden mit sich selbst. Aufschieben kann Teil einer psychischen Störung sein, etwa einer Angsterkrankung, einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADS) oder einer Depression. Doch es tritt oft auch als eigenes Phänomen auf. Bei manchen Betroffenen erzeugt es mit der Zeit ein Gefühl betäubender, lähmender Hoffnungslosigkeit.
In Umfragen gibt etwa jeder fünfte Erwachsene an, dass er Schwierigkeiten habe wegen seiner Neigung zum Aufschieben wichtiger Vorhaben. Können Menschen ihren Tages- und Wochenablauf weitgehend selbst bestimmen, tritt das Problem besonders deutlich auf – etwa an Hochschulen: Je nach Studie verwenden Studierende im Durchschnitt ein Drittel ihres Alltags darauf, zu "prokrastinieren", wie es Fachleute ausdrücken – sie beschäftigten sich mit Ausweichaktivitäten, statt wie geplant für ihr Studium zu arbeiten.
Im Grunde ein paradoxes Verhalten
Aus diesem Grund existiert an der Universität Münster schon seit vielen Jahren eine Prokrastinationsambulanz, an die sich besonders leidgeplagte Aufschieber wenden können. Das sind in der Regel Studierende, die sich nur mit Mühe an den Schreibtisch quälen, etwa um ihre Diplomarbeit zu schreiben oder eine Prüfung vorzubereiten. Dann aber wahllos im Internet surfen, ständig Mails kontrollieren, stundenlang fernsehen, Staubsaugen.
Es ist paradox: Wieso zögern Menschen wichtige Aufgaben hinaus, selbst dann, wenn ihnen klar ist, dass daraus unangenehme Konsequenzen erwachsen? Ein sich unnötig hinziehendes Studium, eine saftige Verzugsgebühr beim Finanzamt, enttäuschte Freunde oder Familienmitglieder. Und nicht zuletzt: Scham und Unzufriedenheit.
Mit Faulheit, weiß die Forschung, hat selbst hartnäckiges Aufschieben in der Regel wenig zu tun – sonst würden Betroffene die Vorhaben, die sie immer wieder vertagen, gar nicht erst planen. Doch häufig schlagen sie sich mit Widerwillen gegen ihr eigenes Projekt herum. Mithilfe von "Ausweichhandlungen" regulieren nicht wenige ihre aus diesem Konflikt entstandene schlechte Stimmung, denn diese Aufgaben sind weniger schwierig und schneller zu erledigen als das eigentliche Vorhaben; deshalb erzeugen sie positive Gefühle, wenn auch nur kurzfristig.
Unser Gehirn entscheidet oft kurzsichtig
So gesehen lässt sich Prokrastination als Aufeinanderfolge von Entscheidungen verstehen, bei denen spontaner Gewinn über langfristiges Wohlergehen obsiegt. Bloß: Wiegt das Vergnügen etwa eines Filmabends wirklich den Schaden einer verpassten Steuererklärung auf? Von außen betrachtet eher nicht, doch aus Sicht des Gehirns ist es nur natürlich, beim Abwägen von Handlungsalternativen Konsequenzen in der fernen Zukunft weniger stark zu gewichten. Schließlich ist die Zukunft mit weit mehr Unsicherheit behaftet als die Gegenwart. Allein wer sich unverhältnismäßig stark von spontanen Impulsen treiben lässt, agiert aus Sicht von Psychologinnen und Verhaltenstherapeuten unangemessen.
Es liegt nahe, Prokrastinierenden ein solches Missverhältnis per se zu attestieren, eine Vorliebe für die unmittelbare Bedürfnisbefriedigung. Doch in der Praxis zeigt sich, dass die Muster und Ursachen fürs Aufschieben deutlich vielfältiger sind – entsprechend individuell sollten Strategien sein, um die jeweiligen Probleme zu bewältigen. Zu diesem Schluss kommt auch Sahiti Chebolu, die am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik im Bereich Computational Neuroscience forscht. Gemeinsam mit ihrem Team hat die Wissenschaftlerin große Datensätze von Studierenden der New York University analysiert, die im Laufe eines Semesters eine feste Anzahl von Experimenten absolvieren mussten – nach eigenem Gusto und Tempo.
Erwartungsgemäß gab es einige, die ihre Aufgaben gleich zu Beginn erledigten, andere verteilten sie einigermaßen gleichmäßig über den Verlauf des Semesters, wieder andere drückten sich – bis die Deadline fast abgelaufen war. Ein typisches Szenario: Jemand startet mit großem Elan, bricht dann aber auf halbem Wege ab. Andere schätzen den Aufwand für eine Aufgabe falsch ein und kommen dadurch in zeitliche Not. Wieder andere reißen Fristen, weil notwendige Arbeitsschritte nicht präzise genug terminieren. Manch einer verschleppt To-dos – entgegen vorheriger Absicht – ganz bewusst.
Unsicherheit, unklare Motivation – und Angst
Bei vielen scheint Unsicherheit bezüglich des anzugehenden Vorhabens ein wichtiger Faktor zu sein: Wie lange werde ich benötigen, um meine Recherche abzuschließen oder alle relevanten Belege für meine Steuererklärung zusammenzutragen? Verfüge ich über ausreichend Kompetenz und Durchhaltevermögen? Passt die Aufgabe zu meinen persönlichen Zielsetzungen?
Eine weitere Ursache kann zudem eine unklare Motivation sein: Manche Betroffene verharren bei ihrem ursprünglichen Plan, obwohl sie ihn eigentlich längst aufgeben oder verändern wollten. Oft kultivieren sie das Gefühl, sich vor allem aufgrund äußeren Drucks für die geplante Handlung entschieden zu haben. In diesem Fall fühlt es sich mitunter geradezu lustvoll an, jenen Instanzen, die diese Leistung abverlangen – Eltern, Lehrern, Chefs – durch Schlendrian eins auszuwischen. Eine Studie der Universität Münster ergab, dass als hoch empfundene Erwartungen der Umwelt das Hinausschieben von Projekten deutlich stärker begünstigen als eigene hohe Ansprüche.
Ein häufiger Grund für Arbeitsstörungen ist nicht zuletzt Versagensangst. Eigentlich ein Allerweltsgefühl, mit dem viele Menschen umgehen müssen. Oft aber ist Versagensangst kombiniert mit mangelnder Frustrationstoleranz: Man akzeptiert nicht oder kann es nicht aushalten, dass sinnvolles, zielgerichtetes Arbeiten sich zeitweise unangenehm anfühlen kann. Manche Studierende etwa haben das Gefühl, sie müssten sich für eine schriftliche Arbeit erst tagelang mit einer Theorie beschäftigen, ehe sie etwas aufschreiben können. Zum Abgabetermin haben sie dann womöglich nicht mehr als ein Inhaltsverzeichnis zu Papier gebracht.
In Kleingruppen zum Erfolg
Da es für Prokrastinierende beinahe unmöglich ist, die Hemmnisse, die ihren Aufgaben im Weg stehen, mit bewusster Anstrengung direkt zu überwinden, raten Fachleute Betroffenen, ihre Willenskraft geschickter einzusetzen. Etwa für Trainings, bei denen sie zum Beispiel in Kleingruppen Schulungen durchlaufen, die dabei helfen sollen, mit möglichst geringem Aufwand eine verbesserte Selbststeuerung zu erlernen.
In der Prokrastinationsambulanz der Universität Münster schlagen Psychologinnen und Experten je nach Diagnostik in fünf Sitzungen unterschiedliche Strategien vor. Das können scheinbar banale Aufgaben wie das Aufräumen des Schreibtischs sein. Oder das Ausschalten von Mobiltelefon und Internet während der Arbeitsphasen. Auch hilfreich: selbst kleine Fortschritte sichtbar zu machen, etwa indem man Erledigtes auf ein kleines Stück Papier schreibt und dann auf einen Zettelspieß steckt. Schon das kann für ein Gefühl der Befriedigung sorgen. Jede neue Teilaufgabe ist dann nur ein weiterer Zettel, der auf den Spieß kommt.
Verkürzung der Arbeitszeit soll produktiver machen
Die vielleicht effektivste Strategie, die sich die Betreuer ausgedacht haben, mag zunächst wenig einleuchten: Mitunter empfehlen sie Prokrastinierenden, zunächst nicht länger als 45 Minuten am Tag zu arbeiten. Aufgeteilt in zwei unverrückbare "Lernfenster", an die man sich strikt zu halten hat. Etwa von 10:00 bis 10:25 und von 12:00 bis 12:20. Wenn es Betroffenen gelingt, diese Fenster präzise und ohne Unterbrechung einzuhalten, dürfen sie am folgenden Tag 20 weitere Minuten Arbeitszeit einplanen. Wer sich an das Konzept der "Arbeitszeitrestriktion" hält, stellt nicht selten fest, dass es viel inneren Druck nehmen kann, ein Ziel in diesen 20-Minuten-Schritten anzugehen. Nur wer sich nicht ablenken lässt, darf sein Zeitpensum weiter steigern.
Im besten Fall gelingt den Übenden auf diese Weise, was Psychologen den "Anschluss an normale Lernbedingungen" nennen. Ihre wertvolle Zeit voll auszuschöpfen, fokussiert bei der Sache zu sein. Mit der Erkenntnis, dass eigenverantwortliches Arbeiten – zu den richtigen Bedingungen – sogar Spaß bereiten kann.
Empfehlungen für Betroffene
Die Universität Münster bietet Studierenden ein kostenloses Anti-Prokrastinationstraining an. Jenseits professioneller Unterstützung gibt das Beratungsteam Betroffenen folgende Tipps an die Hand:
1. Wählen Sie eine konkrete Aufgabe aus, die Sie immer wieder vor sich her schieben.
2. Beobachten Sie sich selbst genau über mehrere Tage. Finden Sie heraus, unter welchen Bedingungen Sie der Aufgabe aus dem Weg gehen und unter welchen Bedingungen Sie sich damit befassen.
3. Definieren Sie möglichst kleine und konkrete Schritte, die in dieser Sache als nächstes getan werden sollen.
4. Legen Sie pro Tag einen genauen Zeitpunkt, eine klare Zeitspanne und einen konkreten Ort fest, an dem dieser nächste Schritt getan werden soll.
5. Achten Sie darauf, sich nicht von vorneherein mehr vorzunehmen, als Sie schaffen können.
6. Entwickeln Sie Erinnerungshilfen, damit Ihnen diese Gelegenheit nicht durch die Lappen geht.
7. Werten Sie hinterher aus, wie es geklappt hat und welche Schwierigkeiten Sie hatten.
8. Belohnen Sie sich auch für kleine Erfolge.