Therapien Die Niere kann "riechen" – was diese Entdeckung für die Medizin bedeutet

Nieren aus Filz mit Arterien und Venen auf grünem Untergrund
Ein Organ mit feinen Antennen: In den Nieren finden sich Riechrezeptoren, die chemische Botschaften aus dem Körper entschlüsseln und wichtige Funktionen steuern
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Riechrezeptoren in der Niere erkennen chemische Signale aus dem Körper und regulieren Blutdruck und Glukose. Die neue Erkenntnis eröffnet Wege für personalisierte Therapien

Es gibt wissenschaftliche Entdeckungen, die zunächst fast unwirklich erscheinen. Man liest sie zweimal, weil sie vertraute Vorstellungen leise verschieben: dass Pflanzen miteinander kommunizieren; dass Meeresströmungen Geräusche formen; oder dass ein Organ, das wir vor allem mit Filtern, Reinigen und Stabilisieren verbinden, offenbar einen Sinn besitzt, den niemand dort vermuten würde: Die Niere kann "riechen".

Natürlich nicht im alltäglichen, aromatischen Sinn. Sie nimmt weder Fichtennadeln noch Orangenöl wahr. Doch sie verfügt über Rezeptoren, die wir klassischerweise mit dem Geruchssinn verbinden und die in der Nase helfen, Düfte zu unterscheiden. In der Niere jedoch übernehmen sie eine andere Aufgabe: Sie fungieren als empfindliche chemische Sensoren, die Blutdruck, Zuckerhaushalt und Stoffwechsel regulieren.

Dass sie dazu Rezeptoren nutzt, die bislang dem Geruchssinn zugerechnet wurden, ist nur auf den ersten Blick überraschend. Viele dieser Rezeptoren gehören zu einer großen Familie von Sensoren namens GPCRs, die überall im Körper Signale empfangen und besonders gut durch Medikamente zu beeinflussen sind. Ihre Rolle in der Niere jedoch blieb lange ein blinder Fleck.

Die Darm-Nieren-Achse: Wenn Bakterien den Blutdruck mitbestimmen

Besonders deutlich zeigt sich die neue Sicht an einem Rezeptor namens OR51E2. Er reagiert auf kurzkettige Fettsäuren, Stoffwechselprodukte, die Darmbakterien freisetzen, wenn wir Ballaststoffe essen. Gelangen diese Moleküle ins Blut, gelangen sie auch bis in die Gefäße der Niere. Dort aktivieren sie den Rezeptor, der wiederum an der Ausschüttung von Renin beteiligt ist, einem Schlüsselenzym der Blutdruckregulation.

Damit wird ein verblüffender Zusammenhang sichtbar: Die Zusammensetzung des Mikrobioms und unsere Ernährungsgewohnheiten können über chemische Signale beeinflussen, wie die Niere den Blutdruck steuert.
Das könnte erklären, warum manche Menschen besonders empfindlich auf Salz reagieren oder warum bestimmte Diäten bei einzelnen Personen so ausgeprägt blutdrucksenkend wirken. Die Niere fungiert hier als Kommunikationsknoten, der wahrnimmt, was im Darm geschieht – und entsprechend gegenreguliert.

Warum Frauen und Männer unterschiedlich reagieren könnten

Wie weitreichend solche Mechanismen sind, zeigt ein weiterer Befund, der die Blutdruckforschung aufhorchen lässt. Eine seltene Variante im Gen des Riechrezeptors OR51E1 beeinflusst den diastolischen Blutdruck, jedoch nicht bei allen Menschen gleich. Frauen mit dieser Variante weisen tendenziell höhere Werte auf, während sie bei Männern eher zu einer Senkung führt.

Der Blutdruck unterscheidet sich also nicht nur aufgrund hormoneller Einflüsse oder Lebensstilfaktoren, sondern möglicherweise auch wegen genetischer Unterschiede in den sensorischen Rezeptoren der Niere. Für die Forschung ist das ein wichtiger Hinweis: Therapien könnten künftig stärker geschlechtsspezifisch gedacht werden, weil Männer und Frauen selbst auf molekularer Ebene unterschiedlich auf die gleichen Signale reagieren.

Der Riechrezeptor, der den Zuckerhaushalt steuert

Auch beim Zuckerstoffwechsel mischen diese Rezeptoren mit. Besonders deutlich wird das an OLFR1393, einem Sensor, der gewissermaßen darüber wacht, wie viel Glukose der Körper zurückerhält. In den winzigen Kanälchen der Niere entscheidet sich, ob Zucker im Urin verschwindet oder wieder ins Blut gelangt. OLFR1393 reguliert jene Transporter, die Glukose aus dem Primärharn zurückschleusen.

Fehlt dieser Rezeptor, verändert sich der Ablauf merklich: Mehr Zucker wird ausgeschieden. Ein Effekt, den die Medizin therapeutisch nutzt – moderne SGLT-2-Hemmer arbeiten nach einem ganz ähnlichen Prinzip. Hier zeigt sich eindrücklich, dass die Niere nicht nur misst und filtert, sondern aktiv entscheidet, welche Stoffe der Körper behalten soll.

Ein Organ voller ungelöster Rätsel

Mehr als hundert solcher Rezeptoren hat man inzwischen in der Niere entdeckt – kleine chemische Antennen, verteilt in einem Organ, das lange als rein funktionale Filterstation galt. Viele dieser Sensoren sind bislang kaum verstanden; ihre Aufgaben sind nur zu erahnen. Was genau nehmen sie wahr? Reagieren sie auf Stoffwechselprodukte, auf Immunbotenstoffe, auf Signale aus dem Darm? Und wie übersetzt die Niere diese Informationen in Blutdruck, Entzündungsreaktionen oder Zuckerhaushalt?

Noch überwiegen die Fragen die Antworten. Doch gerade das macht das Forschungsfeld so lebendig: In jedem dieser Rezeptoren könnte sich ein neuer Mechanismus verbergen, der erklärt, warum manche Menschen anfälliger für Bluthochdruck sind, warum Diäten unterschiedlich wirken oder weshalb bestimmte Nierenerkrankungen so schwer zu erkennen sind.

Nephrologinnen und Nephrologen fordern deshalb ein Deutsches Zentrum für Nierengesundheit, um dieses Wissen systematisch auszubauen. Sie hoffen auf frühere Diagnosen, bessere Präventionsstrategien und Therapien, die auf die feinen Sensorleistungen der Niere zugeschnitten sind. 

Vielleicht wird man in einigen Jahren feststellen, dass das unscheinbare Organ in unserem Rücken schon immer mehr wusste, als wir ahnten – und dass wir erst jetzt beginnen zu begreifen, wie aufmerksam es unser Leben lang für uns mitfühlt.