Es ist 5 Uhr morgens, als Ines Papert den Halt verliert. Sie schreckt aus dem Schlafsack auf. Spürt, wie Schnee auf das Zelt drückt. Es rutscht in die Tiefe. Der 1. Mai 2018 am Nyanang Ri in Tibet, auf 6300 Meter Höhe: Erst am Vortag hat Papert sich mit ihrem Lebens- und Seilpartner Luka Lindi in die vergletscherte Südwand des Himalaya-Riesen gewagt. Am Rand einer Eisspalte haben die beiden ihr Biwak errichtet. Sie wollen zum Gipfel klettern – auf einem Weg, den niemand zuvor gewagt hat.
Das ist ihr Leben, ihre Passion: Ines Papert, 46 Jahre alt, sucht in Steilwänden unbegangene Wege, Neuland in Fels und Eis. Immer wieder tastet sie sich an die Grenzen der Kraft und der mentalen Belastung heran. Doch erst Momente wie jener am Nyanang Ri führen vor Augen, auf welch schmalem Grat sie oft balanciert, wie eng spektakuläre Erfolge und katastrophale Niederlagen in ihrer Welt beieinanderliegen.
Denn für Alpinisten wie Papert kann Scheitern den Tod bedeuten. Sie weiß das: Wie immer hatte sie sich auch auf die Tibet-Expedition genau vorbereitet und die Gefahren analysiert. Doch eine solche Lawine hat sie noch nie erlebt. Sekundenschnell sackt der gesamte Hang ab. Während Lindi sich durch den Zelteingang flüchtet, reißt Papert in Panik die Seitenwand auf, der Schnee schnürt ihr schon die Luft ab. Im letzten Moment rettet Lindi ihre Schuhe. Dann steht das Paar draußen, bei 20 Grad unter null – und muss zusehen, wie ihr einziger Schutz vor der Kälte in der Lawine versinkt. Sind sie diesmal zu weit gegangen?