Jungs, habt ihr eine Gewässerkarte dabei?“, fragt ein Paddler neben uns im Wasser. Wir sind noch keine zehn Meter weit gekommen, da offenbart sich die erste Lücke in unserer Vorbereitung. Dabei war die Idee doch so simpel: Zwei, drei Tage raus aus dem Alltag und rein ins Boot, mitten in Deutschland, mitten im Ruhrpott.
Schwärmereien von befreundeten Paddlern über das Revier hatte ich schon viele gehört. „Die Ruhr ist ganz anders, als du denkst. Natur pur, stellenweise eine echte grüne Hölle!“ Ja klar, „grüne Hölle“ mitten im Pott, haha. Zumal ich doch in meiner Heimat Bayern alles habe, was das Paddlerherz begehrt. Aber was, wenn an den Erzählungen doch was dran ist? Auf einem grün-blauen Band durch die Industrieregion schlechthin zu paddeln, klingt verlockend.
Zumal es hier perfekte Infrastruktur für Kanufahrer gibt, der Fluss leicht zu erreichen und mit beliebig einteilbaren Etappen zu bepaddeln ist. Auch einen Mitstreiter fand ich schnell: Michel Lettmann, Sohn einer Bootsbauer-Dynastie aus Moers und im vergangenen Jahr noch als Leistungssportler im Kanu-Rennzirkus unterwegs, war gleich voll entflammt, sein ehemaliges Trainingsrevier per Tourenkajak zu erkunden. Gemütlichkeit statt Grundlagenausdauer lautete der Plan. Wo sich der Fluss südlich von Bochum an das Städtchen Wetter schmiegt, hatten wir uns gerade vom Ufer abgestoßen, als uns die Karten-Frage wenn schon nicht aus dem Boot, so doch aus der Bahn wirft.
Expeditionsgefühle im Mitten im Ruhrgebiet?
Nein, wir haben keine Gewässerkarte an Bord. Der Paddler, der unser Ausrüstungsdefizit aufgedeckt hat, bombardiert uns daraufhin ungefragt mit Infos zur Ruhr. Wo wir welche Schleuse auf dem Landweg überbrücken müssen, wo man solche Hindernisse elegant umschiffen kann, und wo sich die schönsten Instagram-Momente festhalten lassen. Schnell wird klar, dass der typische Tourenfahrer seine Trips minutiös ausarbeitet und nicht selten „Flusskilometrierung“ und zurückzulegende „Portagedistanzen“ runterbeten kann. Einen „Bootswagen“, auf dem man das Kajak übers Festland schiebt? Haben wir genauso wenig wie einen exakten Tourenplan. Die skeptischen Blicke des Locals kontere ich mit einer Gegenfrage: „Ist es nicht viel cooler, den Fluss mit den Augen des Entdeckers zu erleben? Ohne vorher zu wissen, was uns hinter der nächsten Biegung erwartet?“ Am Ende lachen wir beide – inmitten der am dichtesten besiedelten Region Deutschlands muss man schon ziemlich viel Fantasie haben, um echte Expeditionsgefühle aufkommen zu lassen.
Unsere Tour
1. Tag: Wetter/Ruhr–Hattingen, ca. 25km
2. Tag: Hattingen–Baldeneysee, ca. 22km
3. Tag: Baldeneysee–Essen-Kettwig, ca. 10km
Zwischen Harkortsee und Essen ist die Ruhr auch für Einsteiger ein ideales Paddelrevier. Wer unsere Tour verlängern will, bootet einfach früher ein oder später aus. Kurz vor der Ruhrmündung in den Rhein bei Duisburg zweigt der Rhein-Herne-Kanal ab – wer ihn befährt, kann fast das gesamte Ruhrgebiet um- beziehungsweise durchpaddeln. Praktisch: Die Ruhr ist ganzjährig außer bei extremem Hochwasser befahrbar (aktuelle Infos).
Weitere Entdecker-Trips in „Die schönsten Kanutouren in Nordrhein-Westfalen“ von Michael Hennemann (DKV-Verlag). Geführte Touren gibt’s unter kanu-tour-ruhr.de oder outdoordirekt.de.
Wir haben uns für einen Trip von Wetter bis Essen-Kettwig entschieden. Unser Plan: zwei Kerle, zwei Tourenkajaks, immer stromabwärts, insgesamt 57 Kilometer, die wir auf drei Paddeltage verteilen wollen. Die erste Nacht werden wir auf dem Campingplatz Ruhrbrücke in Hattingen verbringen. Kurz vor unserem Aufbruch in Wetter hatten wir uns dort angemeldet, Platzchefin Jutta Stolle sagte nur: „Klar könnt ihr kommen. Aber wenn ihr die 25 Kilometer von Wetter bis zu uns nach Hattingen paddeln wollt, bevor es dunkel wird, müsst ihr mächtig reinhauen!“ Beim Start ist es mit der Gemütlichkeit deshalb nicht mehr ganz so weit her, wir haben in Wetter viel zu lang herumgetrödelt. Trotzdem bin ich guter Dinge, denn Kollege Michel hat ordentlich Dampf im Ärmel. Ich muss mich einfach nur in seine Heckwelle hängen und hinterhersurfen.
Die nächste Herausforderung folgt zwei Kilometer weiter stromabwärts: Am Kraftwerk Harkortsee müssen wir zum ersten Mal eine Schleuse umgehen. Bei meinen Wildwasserausflügen komme ich mit ein paar Tüten gefriergetrockneter Astronautennahrung aus, im Kajak ist schlicht kein Stauraum. Jetzt aber haben wir einen ganzen Supermarkt an Bord: Brot, Käse, Schokolade, Mineralwasser, Campingstuhl, Zelt, Wechselklamotten, Thermoskanne und Gaskocher. Sogar für ein Sixpack Bier findet sich noch Platz. An der Schleuse rächen sich der opulente Einkauf und unser Verzicht auf einen Bootswagen. Die Kajaks scheinen Tonnen zu wiegen. Wir hieven deshalb jeweils zu zweit ein Boot über die feste Erde, noch immer tropfend, zwei amphibische Wesen auf Landgang. Dann heißt es wieder: paddeln. Zug um Zug, rechts, links, rechts, links. Es ist faszinierend, wie schnell der Alltag angesichts der monotonen Bewegung wegdimmt und das Hirn die Gedanken von der Leine lässt. Zumal die Ruhr dafür das perfekte Setting bietet: Als blaues Band wälzt sie sich mit schwerfälliger Grazie durch die grüne Landschaft. Die Stadt ist stets nur ein paar Meter entfernt, meist aber außer Sichtweite.
Wasserqualität der Ruhr stark verbessert
Bei Paddelkilometer 15 taucht am Flussufer die Burg Hardenstein im Blickfeld auf. Wir lassen die Ruine aus dem 14. Jahrhundert jedoch Ruine sein und biegen auf einem Seitenarm zur Herbeder Schleuse ab. Säße uns nicht die Zeit im Nacken, würde das Königliche Schleusenwärterhäuschen zur Rast einladen. Doch statt Kaffee und Kuchen wartet die erste Bootsrutsche auf uns. Fast alle Barrieren auf unserem Abschnitt der Ruhr sind mit Schleusen für die Schifffahrt ausgestattet, für Kajaks und andere Bötchen gibt es schmale Durchfahrten, genannt Rutschen. Rasant schießen wir auf der wassergefüllten Schräge zu Tale, eine kurze Beschleunigung, dann wieder empfängt uns die Ruhr mit ihrer freundlichen Behäbigkeit.
Als wir hinter der Schleuse gerade wieder zu den Paddeln greifen wollen, erwischt es eine ältere Kanutin. Die Bugwelle eines Ausflugsschiffs überrascht sie und bringt ihr Boot zum Kentern. Wir helfen ihr dabei, das Kajak ans Ufer zu bugsieren. Die Dame nimmt ihr Missgeschick gelassen: „Tja, zum Glück scheint wenigstens die Sonne“, sagt sie und muss grinsen. Ein paar Hundert Meter weiter verbreitert sich die Ruhr zum Kemnader See, ein echter Hotspot für Wasservögel. Hier paddeln wir durch ganze Geschwader von Gänsen, Enten und Möwen. Am Ufer reckt sich Schilf empor, Seerosen treiben vorbei wie grüne Schlauchboote.
In den vergangenen Jahren hat sich die Wasserqualität der Ruhr so verbessert, dass angeblich sogar wieder ein paar Lachse hier leben. Und hätten wir nicht eben erst die Autobahnbrücke der A43 unterquert, man könnte sich glatt in Skandinavien wähnen. Wie in Trance paddeln wir weiter. Inzwischen hat sich auch bei den Schleusen eine Routine eingestellt. Sobald eines der Bauwerke in Sicht gerät, zücke ich das Handy und schaue bei Google Maps, auf welcher Seite wir uns halten müssen, um auf direktem Weg zur Bootsrutsche zu gelangen. Zwar genießen wir jeden Paddelmeter, aber wir müssen uns sputen – Jutta wartet am Campingplatz auf uns.
„So früh habe ich nicht mit euch gerechnet, Hut ab!“, kommentiert sie unsere Ankunft und händigt uns den Schlüssel für die Duschen aus. „Wann wollt ihr denn morgen aufbrechen? Ich bin ab halb neun hier.“
Regen trommelt auf die Kajaks
Am nächsten Morgen regnet es. Aber es hilft ja nix: Also raus aus dem Schlafsack und rein in die Klamotten, Schwimmweste überstreifen, immerhin stehen heute knapp 22 Flusskilometer auf dem Plan. Bis zum ersten Hindernis, der Bootsrutsche an der Hattinger Schleuse, sind es nur ein paar Paddelschläge. Aber danach wird das Leben auf der Ruhr wieder zu einem langsamen, ruhigen Fluss. Der Regen trommelt auf die Boote, versetzt uns in eine beinah meditative Stimmung. Hat es hier irgendjemand gerade noch eilig gehabt?
Sanft schneiden unsere Kajaks durch das Wasser. Grüne Wiesen und Hügel ziehen vorbei, voll besetzt von Buschwerk und Bäumen. Rechts von uns gehen laut Google Maps die Städte Bochum und Essen nahtlos ineinander über, doch auf dem Wasser bekommen wir von ihnen nichts mit. Kilometer um Kilometer nehmen wir unter den Bug, bis der Hunger uns ans Land zwingt. An einer Straßenbrücke in Essen-Steele booten wir aus. Es sind wieder nur ein paar Meter, und wir finden uns in einer anderen Welt wieder. Wir passieren Trinkhallen, Dönerbuden, eine Videothek – die Metropolregion Ruhrgebiet, es gibt sie wirklich.
Doch uns interessiert weder die Industriekultur wie die nahegelegen Zeche „Deimelsberg 1“, noch reizt uns der urbane Charme des Ortsteils von Essen. Wir sind auf der Suche nach einem anderen Klassiker des Ruhrgebiets: der „Mantaplatte“, einer Art Nationalgericht im Pott. Currywurst mit Pommes rot-weiß. Keiner hat mehr Lust auf Energieriegel. Glücklich, aber deutlich beschwerter, nehmen wir später Kurs auf die nächste Verdickung im Band der Ruhr – dem Baldeneysee.
Hier kennt Michel jeden Kubikmillimeter Wasser, hat er doch jahrelang beim Training auf dem See Kilometer geschrubbt. Auch heute sind einige Rennsportkanuten unterwegs. Kurze Zeit später erreichen wir unser zweites Nachtlager, den Campingpark Baldeneysee. Inmitten von Dauercampern, Gartenzwergen und Parzellenzäunchen suchen wir uns einen Platz. Am liebsten würde ich mich gleich aufs Ohr hauen, doch Fotograf Julian hat andere Pläne. Sein Kumpel Max wohne ganz in der Nähe, sagt er, es wäre doch nett, sich mit ihm noch zum Fußballschauen zu treffen.
Eine kurze Taxifahrt später treffen wir Max in einem Irish Pub in Rüttenscheid. Nach seinem Begrüßungshandschlag schaue ich heimlich nach, ob meine Finger noch heile sind. Max Hoff, Olympiasieger und mehrfacher Welt- sowie Europameister, ist ein Kerl wie ein Baum, geformt in Abertausenden Stunden auf dem Wasser und im Kraftraum. Das müde Fußballspiel im Fernsehen ignorieren wir und lauschen Max’ Anekdoten aus der Welt des Sports, über Schindereien, Trainingslager und Leistungsdruck. Als ich später endlich bierselig und müde in meinem Schlafsack liege, grüble ich noch kurz über der Frage, wie so ein Hüne überhaupt in ein Rennkajak passt, das nicht viel breiter ist als eine Dachrinne. Zum Glück erlöst mich bald der Schlaf.
Viel, viel Grün im Ballungsraum
Am nächsten Morgen hat es tatsächlich aufgehört zu regnen. Zumindest für den Moment. Schnell stopfen wir uns ein paar Müsliriegel hinter die Kiemen, denn wir wollen die Regenpause nutzen – vielleicht schaffen wir ja die letzten zehn Kilometer bis Essen-Kettwig, ohne nass zu werden. Doch schon kurz nach der Schleuse am Ende des Baldeneysees prasseln Tropfen auf unsere Köpfe. Über uns schließt sich jetzt fast das Blätterdach zu einem grünen Baldachin. Und einmal mehr passen die Bilder so gar nicht zur Vorstellung von Deutschlands größtem Ballungsraum, in dem über fünf Millionen Menschen leben. Die Ufer sind von dicht stehenden Bäumen eingefasst.
Doch auch dahinter ist die Landschaft keineswegs von grauem Beton und Industriebauten verdichtet. Gibt die Vegetation das Blickfeld mal frei, sehen wir Wiesen, Felder und viel, viel Grün. Aber war ich nicht genau deshalb hergekommen? Abschalten, dem Lärm und der Hektik des Alltags entfliehen? Plötzlich reißt mich Michels Stimme aus meiner Tagträumerei: „Aufwachen, wir sind da! Wo warst du denn gerade mit deinen Gedanken?“ Hätte er nicht gerufen, ich wäre glatt am Steg des Campingplatzes Cammerzell vorbeigepaddelt. „Überall und nirgends“, antworte ich grinsend und klatsche mit Michel ab. Ziel erreicht.