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Eine allgegenwärtige Gottheit
Vom Ufer sieht es aus, als badete im Fluss ein Gott. Ein grauer Rüssel schwenkt hin und her, Wasser spritzt in die Hohe und nach allen Seiten. Wenn man naher herangeht, erkennt man auf einer mächtigen Elefantenstirn rote und grüne Bluten und weise Linien . und mit nur ein klein wenig Fantasie konnte man das Wesen, das da morgens am Vaigai-Fluss in Madurai nass glänzend im Wasser steht, für den leibhaftigen Ganesha halten, den Gott mit dem Elefantenkopf.
Ganesha: eine allgegenwärtige Gottheit
Es passiert leicht, dass man einen Elefanten mit Ganesha verwechselt. Denn der pummelige Gott mit dem Russel ist allgegenwärtig, und wäre er kein Gott, man konnte ihn einen Teufelskerl nennen, aber das klingt, obwohl bewundernd gemeint, doch etwas unpassend. Ganesha selbst ist jede Art von Kompliment, und sei es noch so ungeschickt vorgebracht, langst gewohnt, denn er rangiert auf der Beliebtheitsskala der Götter ganz weit oben. Der kleine Kerl mit dem geschwungenen Russel ist für Wohlstand, Glück und das Gelingen wichtiger Unternehmungen zuständig, zum Beispiel der Ehe. Zudem ist er weise, stark und nascht gern - wie man sieht. Mal ehrlich: Wer wollte sich mit diesem einflussreichen Charakterkopf nicht gut stellen? In Madurai schafft es Ganesha, an vielen Orten gleichzeitig zu existieren. Nehmen wir die zwei markantesten. In der großen Tempelstadt thront er in einem Seitenaltar.
Die Hauptheiligtümer belegen zwar Minakshi und ihr Gatte Shiva, zwei Top-Götter im hinduistischen Pantheon. Doch Ganesha hat sich ebenfalls einen Platz gesichert, und nicht den schlechtesten. Wer von Minakshi zu Shiva will oder umgekehrt, kommt unweigerlich bei Ganesha vorbei. Da sitzt er als schwarze, glattpolierte Statue, von roten Lichterketten umrahmt und beleuchtet wie ein Dönerladen zur Weihnachtszeit. Blumenketten ranken sich um den mächtigen Elefantenhals, ein weiser Wickelrock mit Goldbordüre, wie die Brahmanen ihn tragen, umhüllt seinen Bauch. An ihm kommt in dieser labyrinthischen Tempelstadt praktisch keiner vorbei - und das will auch niemand.
Gottheit im Handydisplay
Seinen zweiten markanten Auftritt erleben wir außerhalb des Tempels, einige Straßen vom heiligen Bezirk entfernt. Wir haben vor, eine für die Reise ausgeliehene indische Handykarte aufladen zu lassen - was in der Straße der Handyladen ungefähr so schwierig ist, wie in Wolfsburg ein Auto zu kaufen. Ein Verschlag reiht sich an den anderen, über jedem prangen die roten und blauen Logos von Providern und Netzbetreibern, und der freundliche junge Mann, auf den wir zusteuern, hat unter einer Glasauslage seine schönsten nagelneuen Telefonmodelle ausgelegt.
Sie sind eingeschaltet, die Kunden sollen die Prachtstücke der Technik in Aktion bewundern können. Und auf allen Displays zappelt und lächelt und blinkt: Ganesha. Als Comicfigur für die Teenies, im Neondesign für die Business- und Computertypen oder als Kurzvideo aus dem Tempel samt Schellen und Trommelklängen für die traditioneller orientierten Käufer.
Im Rausch der Ganeshamania
Ganesha ist auch der König der Landstraßen, wo ein gelb und rot gestrichener Lastwagen hinter dem anderen herfährt. "Horn Please", haben sie in großen Lettern aufs Heck gepinselt: "Bitte hupen." Wie soll der Trucker sonst wissen, dass ihn jemand überholen will? Dass das Manöver klappt, darauf achtet Ganesha, der dickwanstig die Ladeklappen ziert.
Er begleitet auch die Pilger, die am Rand der Landstraße marschieren. Sie alle tragen Gelb, die Frauen als Saris, die Männer als Wickelröcke, mit freien Oberkörpern - denn Hindu-Männer empfangen ihre göttlichen Botschaften direkt durch die Brust. Die Pilger sind Dalits, Unberührbare aus einem kleinen Dorf am Rand der Millionenstadt Madurai, sie schuften als Tagelöhner und Landarbeiter. Doch jetzt haben sie sich geschminkt, das Haar eingeölt, Blumenketten um den Hals gelegt.
Im Rausch der Ganeshamania
Drei Monate lang werden sie pilgern, zu einem Shiva-Heiligtum bei Chennai. Und an dem Stab mit den Gebetsfahnen und den gelben Bändern, die einer der jungen Männer stolz trägt, prangt Ganesha. Irgendwann fragt man sich dann schon, woher diese innige Beziehung zwischen Tamil Nadu und Ganesha rühren mag. Nun gut, es ist nicht allein Tamil Nadu, ganz Indien frönt einer gewissen ganeshamania, jedenfalls das hinduistische Indien. Doch im Süden, unter den 56 Millionen Tamilen, muss Indien noch ein Stück hinduistischer sein, denn sobald man unter Nicht-Tamilen erwähnt, dass man dort hinzureisen vorhat, erntet man dieselbe Reaktion: Ah, das Land der Pilger! Die Tempelstädte! Die Spiritualität! Bis sich schließlich der Eindruck verfestigt hat, dass der Staat an der Südspitze des Subkontinents auf Inder eine ganz ähnliche Wirkung ausübt wie ganz Indien auf Westler: einen spirituellen Sog. Es erscheint als ein Land, in dem Religion lebendiger, klarer, selbstverständlich lebt und gelebt wird als anderswo - was auf alle Sinnsucher wirkt wie ein Magnet auf Eisenspäne.
Wer dann in Chennai einfliegt, dem früheren Madras, der kommt in ein tropisch heißes, flaches und fruchtbares Land. Reisfelder, Zuckerrohr, Palmen; Dörfer, Kreuzungen, Kanäle; frisches Grün, dunkles Grün, sattes Grün - in diesen Dreiklängen bewegen sich die langen Autofahrten. Bis man wieder auf eine Stadt zufährt und von weitem ein seltsam hohes Gebäude erblickt. Es ist eine Art Dach mit vier Kanten, ähnlich wie eine Pyramide. Aber extrem schlank und hoch. Je näher man kommt, desto klarer auszumachen sind die Figuren, die es zieren. Mal sind sie grell farbig ausgemalt, mal im monotonen Terrakottabraun des Baumaterials gehalten.
Sie stehen in Yogapositionen, schwingen Schwerter, umarmen einander oder sind in Meditation versunken. Was wir vor uns haben, ist ein gopuram, ein Tempelturm - das Markenzeichen der tamilischen sakralen Architektur. Die höchsten dieser Türme erreichen mehr als 60 Meter und gehören zu Indiens religiösen Wolkenkratzern. Die ältesten Götter- Gebäude des ganzen Landes stehen in Mahabalipuram, zwei Stunden südlich von Chennai. In der Tempelstadt von Madurai hat man römische Münzen gefunden, mit denen arabische Händler vor zweitausend Jahren ihre Einkäufe bezahlten. Wer Hinduismus studieren will: In Tamil Nadu wäre er am richtigen Ort.
Zu Gast beim Sri-Minakshi-Fest
An unserem letzten Reisetag in Madurai haben wir Glück: Man feiert den ersten Tag des Sri-Minakshi-Festes. Es dauert zwölf Tage, bis zum ersten Frühjahrsvollmond, und für jeden Tag sind andere Zeremonien vorgesehen. Ein junger Brahmane erklärt uns alles haarklein: Wann Lord Sundareswarar, eine Inkarnation Shivas, seine Braut Minakshi besucht, um mit ihr die kosmische Hochzeit zu vollziehen, wann das Paar in einer Triumphprozession durch die Straßen getragen wird und wann sie in ihrem Götterwagen fahren. Er erklärt das sehr formell, spricht davon, wie eine Zeremonie genau ablaufen muss, damit positive Energie für die Stadt fließt, oder wie das Wasser aus dem Fluss in heiliges Wasser verwandelt wird. Es ist ein sehr komplexes Fest, das jedoch auf einfachen Prinzipien beruht. Götter wie Minakshi und Shiva - Ganesha nicht zu vergessen - bewahren das kosmische Gleichgewicht.
Religion als Tauschgeschäft
Im Gegenzug müssen die Menschen die Götter behandeln und versorgen, als wären auch sie aus Fleisch und Blut. Und so kommen am Morgen die Brahmanen, räumen die Reste vom Vorabend weg und bitten zur Morgentoilette. Diskret hinter Vorhängen verborgen entkleiden sie die Statuen, in denen die Götter auf ewig wohnen, waschen sie mit Milch, Ölen und Essenzen und ziehen ihnen frische Sachen an. Sie schmücken sie und stellen ihnen das Frühstück hin. Später wollen sie sich unterhalten, also rezitieren die Brahmanen heilige Texte vor ihnen. Und sie wollen unterhalten werden, also wird vor ihnen gesungen und getanzt. So geht es weiter bis zum Abend - und richtig: Auch Götter haben Schlafenszeit.
Religion als Tauschgeschäft
Religion ist hier ein pragmatisches Tauschgeschäft: Frage nicht nur, was dein Gott für dich tut, frage auch, was du für deinen Gott tun kannst. So versorgen nicht nur die Brahmanen in den Tempeln ihre großen Götter, jeder gläubige Hindu tut es bei sich zu Hause, im Dorf, im Alltag. Das ist etwas ganz anderes als sich zu unterwerfen und die Autorität eines strengen Vatergottes zu fürchten. Der Hinduismus im Süden Indiens wirkt jung, lebendig, er strotzt vor Energie. Eine Rolle mag dabei auch spielen, dass die Götter hübsche, kräftige Kerle und die Göttinnen schöne, sinnliche Frauen sind. Von denen man gern träumt und die man gern bei sich hat, auch im Hausaltar, im Handy und an der Windschutzscheibe.
Die Götter zeigen sich auch flexibel. Sie verstehen die Nöte des modernen Menschen. Zum Beispiel, dass er keine Zeit mehr hat. In Madurai muss der Gläubige nicht einmal mehr den Tempel betreten, um im Tempel gewesen zu sein. Das geht so: Ein paar Meter neben dem großen Tempeltor ist eine niedere Tür in die Mauer eingelassen. Morgens in der Früh öffnen die Brahmanen sie, ein winziger Verschlag erscheint dahinter, und man blickt auf einen Mini-Tempel. Ein Altar mit einer Figur - unser guter alter Ganesha, in der Regel. Nun zelebrieren die Brahmanen den Tag über die vorgeschriebenen Rituale. Alles kleiner, intimer, ohne Pomp und Umstände. Viele Passanten bleiben kurz stehen, verneigen sich, verharren, lassen einen Geldschein als Spende zurück. Es ist das Instant-Gebet für den gestressten Berufstätigen, und niemand hat ein Problem damit.
Hören Sie hier, was GEO SAISON-Redakteur Bernd Schwer in Indien erlebt hat