Die Eismassen in den Polregionen schwinden in besorgniserregendem Tempo. Das zeigen spektakuläre Bilder von kalbenden Gletschern. Doch wenn Dutzende Meter hohe Eisblöcke sich von der Gletscherfront lösen und ins Meer stürzen, geht nicht nur ein Teil des Gletschereises verloren. Forschende aus der Schweiz und den USA berichten, dass der Mini-Tsunami im Meerwasser seinerseits das Schmelzen und Zerbrechen der Gletscherfront beschleunigt.
Während kaltes Schmelzwasser mit geringer Dichte an der Oberfläche bleibt, sammelt sich wärmeres und dichteres Salzwasser in der Tiefe. Um zu verstehen, was in allen Wasserschichten passiert, wenn ein Gletscher kalbt, verlegten die Forschenden entlang einer Gletscherfront im Süden Grönlands am Meeresboden ein zehn Kilometer langes Glasfaserkabel als Sensor. Anhand von Lichtimpulsen lassen sich Rückschlüsse über Temperatur, Dichte und Strömungen ziehen.
Das Ergebnis der Messungen: Unmittelbar nach dem Aufprall eines Eisblocks auf das Wasser schwappen zunächst Oberflächenwellen durch den Fjord. Forschende sprechen auch von kalbungsinduzierten lokalen Tsunamis. Doch auch lange nach dem Aufprall kommt das Wasser nicht zur Ruhe. Auch wenn auf der Oberfläche nichts zu sehen ist, konnten die Forschenden haushohe Wellen nachweisen, die zwischen den Dichte- und Temperaturschichten der Wassersäule hin- und herschwappen – und so wärmeres Tiefenwasser an die Unterseite der Gletscherfront befördern.
"Dadurch wird die vom Meerwasser verursachte Schmelzerosion erhöht und die vertikale Eiswand am Ende des Gletschers unterhöhlt", sagt Andreas Vieli, Professor am Geografischen Institut der Universität Zürich und Co-Autor der Studie. "Das verstärkt die Eisbergkalbung und den damit verbundenen Massenverlust von Eisschilden zusätzlich."

Der Grönländische Eisschild ist aus gutem Grund im Fokus der Klimaforschung: Sollte der kilometerdicke Panzer aus Eis komplett abschmelzen, würde das den Meeresspiegel um rund sieben Meter ansteigen lassen.
Auch Spitzbergen schmilzt im Rekordtempo
Östlich von Grönland, auf der zu Norwegen gehörenden Inselgruppe Spitzbergen, registrierten Forschende kürzlich eine Rekordschmelze: Allein im Sommer 2024, so heißt es in der Studie, seien der Inselgruppe mehr als 61 Gigatonnen Eis verloren gegangen (eine Gigatonne sind eine Milliarde Tonnen). Das entsprcht etwa einem Prozent der gesamten Masse des Spitzbergeneises. Wie in Grönland verstärkt sich auch hier das Kalben der Gletscher durch den Kontakt mit wärmerem Tiefenwasser selbst.
Grönland verlor im selben Jahr genauso viel Eis wie Spitzbergen – obwohl seine Eisfläche um das 50-fache größer ist. Ein Grund zur Beruhigung ist das nicht. Denn den Forschenden zufolge brauchen größere Eiskörper einfach länger, um auf Temperaturveränderungen zu reagieren.
Neben dem Anstieg des Meeresspiegels können die riesigen Schmelzwassermengen der Gletscher weitere Probleme verursachen oder verschärfen: So können sie Meeresströmungen wie den Golfstrom schwächen – mit weitreichenden Folgen für das Klima in Europa. "Unser gesamtes Erdsystem hängt zumindest teilweise von diesen Eisschilden ab. Es ist ein fragiles System, das durch zu hohe Temperaturen zusammenbrechen könnte", sagt der Hauptautor der Studie, Dominik Gräff von der Universität Washington.