Die Geier in Indien zählten noch vor rund 20 Jahren zu den häufigsten Greifvogelarten der Welt. Die Bestände der Geier brachen drastisch ein. Verantwortlich dafür war der Einsatz des Schmerzmittels Diclofenac bei Rindern. Über die toten Kadaver nahmen die Vögel Diclofenac auf und verendeten an Nierengicht. Trotz der Warnungen von zahlreichen Vogelschützern gab die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) das Schmerzmittel 2014 in Europa für den Einsatz in der Veterinärmedizin frei.
Nun ist es Wissenschaftlern gelungen, den Tod eines Geiers in Katalonien auf Diclofenac zurückzuführen. Das Tier wurde 2020 tot in seinem Nest gefunden. Der erste Beweis dieser Art. Vogelexperte Lars Lachmann vom Naturschutzbund Deutschland (NABU) und weitere Vogelschützer befürchten nun, dass den Geiern in Europa ein ähnliches Schicksal blüht wie in Indien.
Geierschutz seit den 1980er Jahren in Europa
Bisher ist die Entwicklung der Geierpopulationen in Europa erfreulich: Die Zahlen des Gänsegeiers haben sich seit 1980 verzehnfacht, auch die Populationen des Bart-, Mönchs- und Schmutzgeiers sind angestiegen. Seit 1980 sind Geier unter strengem Schutz in Europa – dadurch haben sich die Populationen erholt, weiß Lachmann. Mittlerweile geht die Zahl der Schmutzgeier in Südeuropa zurück.
"In Deutschland gibt es keine brütenden Geierpopulationen. Wir hoffen aber, dass sie bald zu uns zurückkommen. Wir bekommen aber immer häufiger Besuch von Mönchsgeiern, Gänsegeiern und Bartgeiern. Es gibt aktuelle Pläne, Barteier in den deutschen Alpen wieder anzusiedeln." In Spanien gibt es in Europa die meisten dieser Greifvögel.

Diclofenac als Zyankali für die Greifvögel
Der Ornithologe und Veterinärmediziner Jürgen Dämmgen sieht die Schutzbemühungen der Europäischen Union – allen voran Spaniens – gefährdet, wenn Diclofenac weiter in der Tiermedizin eingesetzt wird. Neben Spanien wird das Schmerzmittel auch in Italien sowie einigen südeuropäischen Ländern eingesetzt. "Diclofenac ist für Geier etwa so giftig wie für den Menschen Zyankali. Es reichen Mengen im Bereich von Mikrogramm pro Kilogramm Aas und die Geier verenden." Dabei gäbe es eine gleichwertige Alternative für Diclofenac, die für Geier ungefährlich ist: Meloxicam.
Wie drastisch der Einsatz des Mittels ausgehen kann, hat sich in der Vergangenheit bereits in Indien gezeigt: "Es wurde nachgewiesen, dass es schon reicht, wenn jeder 200ste Kadaver Spuren von Diclofenac enthält, um eine komplette lokale Geierpopulation umzubringen. Das liegt an der Fressstrategie der Geier. Die Vögel fressen oft alle gleichzeitig an einem Kadaver, bevor sie den nächsten suchen"
Das heißt: An einem Kadaver können sich extrem viele Vögel vergiften, verdeutlicht Lachmann die Gefahr für die Greifvögel. "Das Schmerzmittel Diclofenac war in Indien dafür verantwortlich, dass die Geierpopulation innerhalb von 15 Jahren um 99 Prozent zurückgegangen ist", sagt Lachmann. Es habe eine Weile gedauert, bis der Grund dafür gefunden wurde – es stellte sich aber heraus, dass es nachweislich der Einsatz von Diclofenac bei Rindern war.
Vogelschützer kämpften gegen Zulassung in EU
Vogelschützer, darunter Lars Lachmann und Jürgen Dämmgen, haben sich schon 2014 gegen den Einsatz von Diclofenac in der Veterinärmedizin in Europa gestellt. Doch die EMA ließ das Mittel zu. Die EMA sei davon ausgegangen, dass ein Hinweis zur Verwendung ausreiche, um die Geier zu schützen: Das Mittel dürfe nur eingesetzt werden, wenn sichergestellt sei, dass mit Diclofenac behandelte Tierkadaver nicht in den Naturkreislauf kämen.

"Wir haben dies immer bezweifelt, uns hat aber bisher der Beweis gefehlt, dass Diclofenac in den Naturkreislauf gerät und wir konnten die Argumente der EMA nicht widerlegen", sagt Lachmann. Mit dem wissenschaftlichen Beweis hätten Vogelschützer nun "den rauchenden Colt gefunden" – jetzt müsse sich zeigen, ob dies die EMA umstimme.
Mönchsgeier vermutlich nicht der erste europäische Todesfall durch Diclofenac
Lars Lachmann geht davon aus, dass der tote Mönchsgeier nicht der erste Geier in Europa war, der durch den Einsatz von Diclofenac sein Leben lassen musste. "Bei diesem Vogel ist es aufgefallen, weil er mit einem Satellitensender besendert war und engmaschig beobachtet wurde. Er gehörte zu einer Gruppe von Mönchsgeiern, die gerade erst wieder angesiedelt wurde. Deshalb die Überwachung."
Ein weiteres Indiz für den Vogelschützer, dass mit Diclofenac behandelte Tierkadaver schon in den Naturkreislauf gelangt sein müssen, sind Untersuchungen bei Geierfutterstellen in Spanien: "Bei Geierfutterstellen in Spanien werden Tiere aus der Tierhaltung speziell für die Geier ausgelegt. Sie werden auf Diclofenac untersucht. Dabei sind schon wiederholt Nachweise des Giftes bei Tieren entdeckt worden, die man eigentlich für unbedenklich gehalten hätte. Wären sie nicht untersucht worden, wären sie über diese Futterstellen in den Nahrungskreislauf geraten."
Mahnendes Beispiel: Ökologische und kulturelle Folgen des Geiersterbens in Indien
Was das Geiersterben bedeutet, haben die Vogelschützer schon in Indien beobachten können: "Mit dem Verschwinden der Geier hat die ganze Tierkörperbeseitigung im Land nicht mehr funktioniert. Indien hatte seine Gesundheitspolizei verloren – mit ökologischen Folgen", sagt Dämmgen.
Als die Geier verschwanden, fraßen verwilderte Hunde die Kadaver und vermehrten sich massiv. Das führte zur Ausbreitung von Tollwut. Außerdem könnten die Hunde unfreundlich zu Menschen sein. "Die Leoparden in Indien fressen normalerweise Affen und Ziegen. In manchen Teilen von Indien spezialisierten sich die Leoparden auf die Jagd von verwilderten Hunden. Auf ihren Streifzügen kamen sie auch in die Siedlungen. Es kam zu einigen Todesfällen von Menschen", berichtet Dämmgen.

Lars Lachmann ergänzt: "Die Religionsgemeinschaft der Zoroastrier begraben ihre Toten nicht, sondern bahren sie auf Türmen auf und lassen ihre Toten von Geiern fressen. Ein 3.000 Jahre altes Ritual, was die Menschen von einem Jahr auf das andere nicht mehr durchführen konnten, weil die Geier nicht mehr da waren." Nur mit Aufzuchtprojekten und dem Verbot des Mittels Diclofenac sei es gelungen, die Geier in Indien vor dem Aussterben zu retten.