Evolution Schon Urahn der Robben jagte dank "sehender" Schnurrhaare

Ein Robbenvorfahre taucht in einem See
Potamotherium war ein früher Robben-Vorfahr. Das otterähnliche Tier ging vor mehr als 20 Millionen Jahren in Seen auf Beutejagd
©  Gabriel Ugueto (@SerpenIllus)
Robben nutzen ihre Barthaare, um Beute unter Wasser ausfindig zu machen. Ob dieser Sinn bereits bei einem fernen Urahn von Seehund und Co. entwickelt war, haben Forschende am Gehirn eines Urzeitwesens untersucht

Aus fossilen Überresten, seit Jahrmillionen eingebacken im Stein, den Körper einer ausgestorbenen Art zu rekonstruieren, das allein ist bereits eine hohe Kunst. Ein Unterfangen, das umfangreiche Kenntnisse über Knochenbau und Motorik, Evolution und Taxonomie verlangt. Und mitunter auch eine Prise Nerdigkeit.

Die Kür jedoch mag für manche Urzeitforschende darin liegen, Aussagen über das Verhalten einer längst erloschenen Spezies zu treffen. Das Verhalten an sich versteinert freilich nicht. Doch manche Funde aus ferner Vergangenheit lassen durchaus Rückschlüsse über die Lebensweise zu, etwa Nester (Brutpflege), Mageninhalt (Fressweise) oder Verletzungen (Kämpfe).

Mit ihrem Bart können Robben gleichsam sehen – selbst in nachtschwarzem Wasser

Nun haben Forschende jenes Organ in Augenschein genommen, von dem überhaupt jedwedes Verhalten ausgeht – und das Fossilien mitunter auch preisgeben: das Gehirn.

Die Paläontolog*innen um Alexandra van der Geer von der Universität Leiden in den Niederlanden gingen der Frage nach, ob die frühen Ahnen der Robben bereits ihre Barthaare zur Jagd benutzten. Das mag auf den ersten Blick etwas abseitig klingen. Doch die Vibrissen, wie die teils recht dicken Borsten rund ums Maul von Robben heißen, sind für die Unterwasserjäger überlebenswichtige Sensoren – Sinnesorgane, wie wir sie uns schlicht kaum vorstellen können. Bei Seehunden zum Beispiel funktioniert jede Vibrisse wie ein hochfeiner Fühler, an dessen Basis rund 1600 Nervenfasern sitzen und Reize ans Gehirn weiterleiten.

Dem sensiblen Bart entgeht nichts: Präzise orten die Haare im Meer Wellenmuster, die Fische auf der Flucht erzeugen. Ja, Experimente haben gezeigt, dass Seehunde solche verräterischen Spuren sogar dann noch detektieren können, wenn sich der Verursacher bereits eine halbe Minute zuvor aus dem Staub – oder eher dem Wasser – gemacht hat. Und selbst in nachtschwarzer See können Robben dank ihrer Vibrissen überaus erfolgreich auf Beutefang gehen.

Um das Geheimnis des Bartes zu lüften, schauten sich die Forschenden einen Teil des Großhirns an

Wann sich in der Stammesgeschichte das erstaunliche Sinnesorgan herausgebildet hat, war bislang unklar, denn Versteinerungen von Vibrissen früher Robbenverwandter wurden bis heute nicht gefunden. Daher haben sich Alexandra van der Geer und ihr Team die Hirnanatomie eines sehr frühen Vorfahren der Robben genauer angeschaut: Potamotherium valletoni lebte vor mehr als 23 Millionen Jahren, erinnert mit den vier Beinen und dem Schwanz eher an einen Otter denn an einen Seehund, konnte also wahrscheinlich recht schnell umhersprinten und fand seine Nahrung vermutlich sowohl an Land als auch in Flüssen und Seen (die meisten heutigen Robbenarten gehen im Meer fischen).

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Um das Geheimnis des Bartes zu lüften, schauten sich die Forschenden einen bestimmten Gyrus an, quasi eine Schleife des Großhirns. Dieses Areal empfängt somatosensorische – das heißt: die Körperwahrnehmung betreffende – Informationen aus dem Kopfbereich, einer früheren Studie zufolge insbesondere von den Schnurrhaaren. Nicht zufällig ist der Gyrus bei Robben besonders üppig ausgeprägt.

Für ihre Studie verglichen die Paläontolog*innen die Gehirnstrukturen von Potamotherium mit denen von sechs ausgestorbenen und 31 noch heute lebenden fleischfressenden Säugetieren – darunter Robben, Marder, Bären (die auch ab und an im Wasser nach Fressbarem suchen). Die Form der Denkorgane ermittelten die Forschenden anhand von Abgüssen aus dem Inneren der Schädel, die als versteinerte Knochen bis heute erhalten blieben.

Und tatsächlich: Der entsprechende Gyrus stellte sich bei Potamotherium umfangreicher dar als bei jenen Arten, die zur Nahrungssuche hauptsächlich ihre Vorderbeine benutzen. Er war ähnlich groß wie bei anderen ausgestorbenen Robbenverwandten sowie etwa beim noch lebenden Eurasischen Fischotter, der (neben seinen Vorderbeinen) auch die Schnurrhaare zur Erkundung der Umgebung nutzt.

Damit wäre ein weiterer Puzzlestein des Paläoverhaltens gefunden

Mit dem Blick ins Gehirn wäre also ein weiterer Puzzlestein des Paläoverhaltens gefunden. Denn alles deutet darauf hin, dass bereits Potamotherium, dieser Urahn der Robben, einen "sehenden Bart" ausgebildet hatte, um damit feine Wasserverwirbelungen aufzuspüren. Ein entscheidendes Werkzeug auf dem Weg zu einer mehr und mehr aquatischen Lebensweise.

Möglich ist, dass Potamotherium bei der Unterwasserpirsch zusätzlich auch seine Vorderbeine einsetzte – anders als die heutigen Robben. Bei denen haben sich im Lauf der Jahrmillionen währenden Entwicklungsgeschichte die Gliedmaßen stetig zu Flossen umgewandelt.