Wandelnde Berge
Schon bei der Anreise sind wir mitten im Thema Klimawandel. Wegen eines Erdrutsches, ausgelöst durch ungewöhnlich starke Regenfälle der letzten Wochen, ist der direkte Weg über den Felbertauerntunnel gesperrt. Die gewaltige Mure, welche den Berghang auf rund 150 Meter absacken ließ und die Lawinenschutzgalerie hinter dem Tunnel spielend mit sich gerissen hat, zwingt unsere GEO-Delegation zu einem gehörigen Umweg über den Großglocknerpass. Schon ab rund 1700 Meter, bei Kehre 5 in der Serpentinenstrecke, beginnt dort der Schnee - im bisher sehr kalten Juni hat es vor kurzem bis auf 700 Meter hinab geschneit. Entsprechend zurückgeblieben ist die Vegetation, alles braun auf den schneefreien Flächen, so braun wie auch einzelne Murmeltiere, die über die Bergflanken hetzen.
Warm und kalt gemischt
Die oft zitierte Erderwärmung bedeutet nämlich keineswegs, dass es keine regionalen Kälteeinbrüche gibt. Im Gegenteil: Das Wetter spielt immer extremere Kapriolen. Die Hitze führt zu heftigen Gewittern, der Platzregen bringt unverhältnismäßig rasche Abkühlung und lässt die Bäche anschwellen - gerade wälzt sich die verheerende Flutwelle durch Norddeutschland, die in den Alpenländern ihren Anfang genommen hat. Dennoch behält die Erwärmung auf lange Sicht die Überhand. Am Großglockner hat sich der Gletscher allein im letzten Jahr um 97 Meter zurückgezogen, sagt uns später der Mitorganisator des diesjährigen GEO-Tags der Artenvielfalt, Martin Kurzthaler, Schutzbeauftragter für den Tiroler Teil des Nationalparks Hohe Tauern. Auch hier ziehen sich die Gletscher zurück: Am nahegelegenen Großvenediger etwa um 30 Meter pro Jahr. Dabei spielt vor allem eine Rolle, dass viel seltener Schnee im Sommer auf die Gletscher niedergeht als früher - meist regnet es nur noch. Gegen 1850, das zeigen alte Fotos, reichte der Gletscher noch hinab ins 1700 Meter hoch gelegene Gschlößtal, wo am Samstag die meisten Aktionen zum GEO-Tag stattfinden.
Mücken, mit allen Wassern gewaschen
An diesem Samstagmorgen, jetzt bei strahlendem Sommerwetter, fährt uns Martin Kurzthaler vom Tauernhaus, dem zentralen Veranstaltungsort, in den hintersten Teil des Tales - der ursprünglich eingeplante weitere Weg zum Gletscher ist gesperrt, Steinschlaggefahr. Neben mir sitzt Leopold Füreder, Gewässerkundler von der Uni Innsbruck, der mir von seinem Vorhaben erzählt. Hinten im Tal fließen mehrere Bäche zusammen, teils Gletscherströme, teils Quellflüsse. Dort will der Limnologe mit Assistentin und Assistent hauptsächlich Mückenlarven einfangen. Die sind nämlich mitunter hochspezialisiert auf bestimmte Wassertypen. Im mineralreichen, grautrüben und kalten Gletscherwasser fühlen sich die Zuckmückenlarven der Gattung Diamesa wohl, in den wärmeren, klaren Quellbächen leben andere Arten, die sich vor allem von organischen Resten ernähren - Eintags-, Stein- und Köcherfliegenlarven. Wie wird sich der Klimawandel auf dieses System auswirken? Er erhöht zunächst den Anteil des Gletscherschmelzwassers in den Bächen, später wird dieser Anteil wieder zurückgehen. Überleben werden dann vor allem weniger spezialisierte Arten, die den Spagat zwischen verschiedenen Wasser- und Nährstofftypen hinbekommen. Weiter unten im Flusslauf hat dies dann wieder Einfluss auf Fische, die sich ausschließlich von den Larven ernähren.
Von den Tropen zu den Alpen
Von einer unangenehmen Mückenart erfahre ich übrigens das erste Mal: Die Kriebelmücke ist nicht nur in den Tropen heimisch, sondern auch in den Alpen - und auch hier überträgt sie Krankheiten, an denen gelegentlich Vieh verendet, von dessen Blut sich die Mücke ernährt. Auch für Menschen ist der Stich sehr schmerzhaft, was mir allerdings erspart bleibt. So kann ich unbefangen Füreders Begeisterung für die Larven teilen, die perfekt an das Leben im Fluss angepasst sind. Mit Klebstoff und Klebfäden, wie eine Spinne, halten sie sich an den Steinen fest, um nicht vom Wasser fortgeschwemmt zu werden. Fast leid tun mir hingegen die Eintagsfliegen: Als fertiges Insekt leben sie maximal eine Woche, in der sich die Weibchen paaren und Eier legen. Mindestens ein ganzes Jahr leben die Tiere davor als Larve nur im Wasser, wo sie sich mehrfach und auf komplizierte Weise häuten.
Steißgeburten bei Fledermäusen
Von komplizierten Lebenszyklen anderer Art hat uns der Fledermausschutzbeauftragte Anton Vorauer am Abend zuvor erzählt. Insbesondere die Geburt der fliegenden Säugetiere ist ein akrobatisches Kunststück. Denn eigentlich hängen ja Fledermäuse mit dem Kopf nach unten und dem Bauch nach oben an der Decke - eine denkbar schwierige Gebärposition. Deshalb ziehen sich die Weibchen mit den Daumenkrallen nach oben und winkeln die Knie, sodass sie in V-Form hängen. Dass nun das (oft mit dem Steiß nach vorne geborene) Kleine nicht abstürzt, bilden die Mütter einen Fächer mit ihren Flughäuten, bis es dem Nachwuchs gelingt, sich an den Zitzen festzuhaften. Und zwar so fest, dass die Kleinen sogar an der Mutter hängend mitgliegen können, bis sie selbst flügge sind. Oder aber andere Weibchen - "Kindergärtnerinnen" - passen auf, wenn die Mütter unterwegs auf Nahrungssuche sind.
Nützlich für den Menschen
Unbeschwert leben bei den Fledermäusen nur die vagabundierenden Männchen, die lediglich bei der Zeugung Einsatz zeigen. Genauer gesagt, bei der "Samenspende" im September. Denn das Sperma bewahren die Weibchen mitunter monatelang auf, bis zu ihrem Eisprung im April. Auf diese Weise ersparen die Mütter ihren Jungen den kalten Winter. Viele Arten entdeckt Vorauer auch nicht in diesem Juni. Eigentlich gibt es in Tirol 24 Fledermaus-Spezies, gerade einmal drei Arten gehen ihm am GEO-Tag ins Netz - es ist noch nicht Schwärmzeit und die Ultraschallanalyse nicht abgeschlossen. In seinem Alltag als Fledermausschutzbeauftragter der Landesregierung ist Vorauer auf Meldungen aus der Bevölkerung angewiesen: Unter der Adresse anton.vorauer@utanet.at, Tel. 0043-6764446610 kann man ihn kontaktieren, wenn sich Fledermäuse in Gebäuden einnisten. Es gilt dann, eine Möglichkeit zu finden, wie man die Tiere schützen kann, ohne dass sich die Gebäudebesitzer gestört fühlen: Denn wo sie sind, sind sie meist sehr zahlreich. Auf einem Quadratmeter können sich Hunderte der Tiere aufhalten. Ihr Wert, auch für die Menschen, ist allerdings beträchtlich: Pro Saison vertilgt eine einzige Fledermaus überallein über eine Million Mücken.
Schmerztablette für Käfer
Auch Käfer können faszinieren, wie mir die Expertin Elisabeth Geiser aus Salzburg erzählt. Ihr Spezialgebiet sind Blattkäfer, zu denen auch der eingewanderte Kartoffelkäfer gehört. Hier im Gschlößtal sind vor allem Ampferkäfer zu finden, vielleicht auch Weidenkäfer. Charakteristisch für diese Insektengruppe ist ihre Vorliebe für wehrhafte Pflanzen, die für andere ungenießbar sind. Die Weiden etwa enthalten die "Aspirin"-Substanz Acetylsalicylsäure, die anderen Insekten gewöhnlich Bauchschmerzen bereitet. Den Blattkäfern hingegen nicht: Sie bauen die Gifte ihrer Nahrung sogar noch zu potenteren Toxinen um, damit sie selbst weniger gefressen werden. Aber letztlich, so Geiser, sorge die Natur dafür, dass nichts an wertvoller Biomasse verloren geht. Wie zum Beispiel auch beim Gras. Das ist zwar keineswegs leicht zu "knacken": Menschenzähne gehen von den eingelagerten Silikaten kaputt, und die Zellulose ist für uns nicht verdaubar. Aber wir essen das Gras wiederum in Form von Kühen, die es für uns vorbereiten, sagt Geiser.
In der Nacht sind manche Falter bunt
Auch für Schmetterlinge ist es eigentlich noch zu früh im Jahr. Dennoch gelingt Peter Huemer und Kollegen manch besonderer Fang. Wie zum Beispiel der Schwarzweiße Weidenröschenspanner, der bislang noch nie im Nationalpark nachgewiesen wurde. Am Freitagabend haben sich die Insektenforscher mit ihren blauen Lichtfallen an einer windgeschützten Stelle am Berg eingerichtet, wo sich bald eine Reihe von Nachtfaltern einfindet. Die übrigens nicht nur in grauen oder braunen Farbtönen vorkommen, sondern auch auffallend bunt sein können. "Warum, das sieht doch nachts keiner?", wende ich ein. "Aber tagsüber spielt die Farbe auch bei Nachtfaltern eine Rolle", erklärt Huemer. Denn grell gemustert wirken die schlafenden Tiere bedrohlich auf etwaige Fressfeinde. Auch auf andere Weise kann das Aussehen trügerisch sein. Huemers Team untersucht in einem Forschungsprojekt die genetische Ausstattung der Falter nördlich und südlich des Alpenhauptkammes. Die äußerlich gleichen Falter scheinen doch verschiedene Arten mit einem eigenen genetischen "Barcode" zu sein, ergaben vorläufige Untersuchungen.
Geierfrau mit Bart
Bis zum Samstagabend haben die rund 100 Teilnehmer des GEO-Tags etwa 1500 Arten gefunden und erfasst - darunter 300 Pflanzenarten, eine Kreuzotter, aber auch seltene Vögel wie den Kamingimpel und, besonders spektakulär, vier Bartgeier. Einer davon treibt sich schon länger in der Gegend herum, dann stießen andere dazu. Weil der Nachwuchs auf sich warten ließ, glaubte man zunächst an einen reinen Männerclub. Aber vielleicht täuscht das, meint der Ornithologe Ralph Bergmüller von der Uni Neuchatel in der Schweiz. Denn sowohl Männchen als auch Weibchen tragen einen Bart. Auch Trios (zwei Männchen, ein Weibchen) sind bei dieser Art nicht selten. Definitiv bartlos hingegen war der offenbar an Biodiversität interessierte große Grasfrosch, der in die Lobby des Tauernhauses gehüpft kam. Die Artenvielfalt erweitert hat der Wirt des Tauernhauses durch eine besondere Ergänzung seines Streichelzoos: eine Kreuzung aus Lama und Alpaka. Aus der Wolle dieser Tiere lässt er Bettdecken fertigen. Denn die Haare, so der Wirt, seien innen hohl und hielten die Wärme besonders gut. Denn kalte Nächte gibt es noch immer genug - trotz Klimawandel.
Vielfältiger Dank
GEO dankt allen, die mitgemacht haben, insbesondere auch den ehrenamtlichen Helfern Stefan Munzinger und Olaf Strub von "naturgucker.de", die die gefundenen Arten in die Datenbank des Netzwerkes für Naturbeobachter einpflegen.
Die gedruckte Reportage von Anke Sparmann mit den Bilder des Fotografen Solvin Zankl erscheint in GEO 9/13.