An der Küste Istanbuls bahnt sich eine Katastrophe an: Das Marmarameer, ein beliebtes Ausflugsziel und bedeutendes Fischereigebiet, droht zu kippen. Es liege bereits im "Koma", so Meeresbiologe Mustafa Yücel der Middle East Technical University gegenüber der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu.
Das türkische Umweltministerium beauftragte Yücel und sein Forschungsteam mit der Untersuchung des Marmarameers. Sie bestimmten die Temperatur, die Verschmutzung und den Sauerstoffgehalt des Wassers. Das Ergebnis: Unter 30 Metern könnten Fische nicht mehr überleben – zu gering sei dort der Sauerstoffgehalt. Weiter unten sehe es noch schlimmer aus. "Wenn man 150 bis 200 Meter erreicht, sind die Sauerstoffwerte sehr, sehr niedrig. Wir haben Schwierigkeiten, sie zu messen", so Yücel.
Marmarameer: 60 Prozent der Arten sind verschwunden
Schon 2021 war das Marmarameer Schauplatz einer Umweltkatastrophe. Die Wasseroberfläche war überzogen von gräulichem Schleim, dem "Meeresrotz". Er verklebte die Netze der Fischerboote; Fische und Krebse erstickten unter dem Schleim. Rund 60 Prozent der Arten verschwanden infolgedessen aus dem Gewässer.
Produziert wird dieser Schleim von einzelligen Algen, wenn diese unter Stress stehen – etwa durch steigende Temperaturen und eine hohe Nährstoffbelastung. Dann sondern sie ein schleimiges Zuckersekret ab. Dieses Sekret verklebt sich zunächst zu Flocken, die sich mit anderen Stoffen im Wasser verbinden und schließlich jene klebrige Masse bilden, die sich kilometerweit ausbreiten kann. Auch jetzt sind wieder erste Schleim-Schleier zu sehen, und die Situation droht noch schlimmer zu werden.
Mehr Schleim durch Schwefelwasserstoff
Yücel spricht von einem Teufelskreis: Abwässer der Landwirtschaft und Industrie fließen ungeklärt ins Meer. Sie schwemmen große Mengen Nitrat und Phosphor ins Wasser, was das Wachstum von Algen fördert und das Wasser trübt. Dieses erhitzt sich in der Folge schneller durch die Sonne – 2024 wurden bereits Temperaturen von 27 Grad gemessen.
Da warmes Wasser weniger Sauerstoff speichern kann als kaltes, sinkt der Sauerstoffgehalt des Marmarameers immer weiter. Wenn er fast aufgebraucht ist, übernehmen anaerobe Bakterien die Zersetzung von organischem Material wie Algen. Dabei produzieren sie unter anderem giftigen Schwefelwasserstoff.
Das führt nicht nur dazu, dass es an der Küste stinkt. "Eine Katastrophe. Das bedeutet den Zusammenbruch des gesamten Nahrungsmittelsystems und Nahrungsnetzes", so Yücel. Wenn das Schwefelwasserstoff sich mit dem Sauerstoff an der Oberfläche verbinde, könne eine neue Art Schleim entstehen, der die öffentliche Gesundheit bedroht. Tourismus und Fischerei würden dann zusammenbrechen.
Noch habe sich dieser neue Schleim nicht gebildet. Sollte sich der Trend der letzten Jahre fortsetzen, könne es aber in etwa fünf Jahren so weit sein. Um das zu verhindern, so Yücel, müssten sofort Maßnahmen ergriffen werden – die Abwässer dürften nicht mehr im Marmarameer landen.