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Wald- gegen Naturlobby
"Eigentlich müsste man das Totholz 'Lebendholz' nennen. Es ist bevölkert von einer ganzen Armada von Lebewesen. 1500 Pilzarten und 1350 Käferarten brauchen es zum Leben und Überleben. Totholz wird immer wichtiger, auch als Indikator für einen natürlichen, gesunden Wald."
Rainer Kant, Diplom-Forstwirt und Robin-Wood-Mann, führt an diesem Sonntagnachmittag 20 Wissbegierige durch den Sachsenwald im Osten Hamburgs. Auf einer kleinen Lichtung erläutert Kant, was morsches Holz so wertvoll macht. Der Regen hat aufgehört, die letzten Tropfen fallen aus dem hohen Blätterdach. Es riecht nach feuchten Blättern, Moos, Humus. Das Thema der kleinen Exkursion ist der Wald. Jenes hoch komplexe und sensible Ökosystem, das zwar noch lange nicht tot ist, wie die Propheten des Waldsterbens glaubten, aber schon bald an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit getrieben werden könnte.
Der Wald soll die biologische Vielfalt erhalten, soll durch seine Fähigkeit, Kohlenstoff zu speichern, den Klimawandel abmildern. Er soll unserer Erholung dienen, Holz für die Industrie und zur Energiegewinnung liefern und Arbeitsplätze sichern, er soll Lebensraum für jagdbares Wild bieten. Und am besten alles gleich gut. Waldbesitzer, Holzwirtschaft, Naturschützer, Verbände und Ministerien zerren an ihm, konkurrieren um Zuständigkeiten und Strategien wie Waldpflanzen um einen Platz an der Sonne.
Während wir fast täglich mit Hiobsbotschaften von der Zerstörung der Regenwälder und der Vertreibung indigener Völker konfrontiert werden, vollzieht sich der Kampf um den deutschen Wald fast unbemerkt von der Öffentlichkeit. Doch auch hierzulande geht es - wenn auch in kleinerem Maßstab - um den Erhalt des Waldes und seiner lebenswichtigen Funktionen. Dabei rücken zwei Streitpunkte immer mehr in den Vordergrund: die Rolle des Waldes im Klimawandel und die biologische Vielfalt.
Wald- gegen Naturlobby
Im Juni 2012 übergab der Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung (SRU) Umweltminister Peter Altmaier sein neues Umweltgutachten. Das Kapitel über den Wald ist ein Hilferuf. Die Kernthese: Die Funktionsvielfalt des Waldes sei durch dessen wachsende kommerzielle Nutzung gefährdet. Man stoße an die Grenzen der Nachhaltigkeit - ein schwerer Hieb gegen die Forstwirtschaft, die die Erfindung des Begriffs "Nachhaltigkeit" für sich beansprucht. Die wirtschaftlichen Ziele der Waldpolitik müssten mit der Einhaltung von ökologischen Mindeststandards verbunden sein, fordert der SRU. Und er regt an, die Forstwirtschafts-Abteilung des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMVEL) in das Bundesministerium für Umweltschutz (BMU) einzugliedern.
Protest kam postwendend. In einer Pressemitteilung nannte Philipp zu Guttenberg, Präsident der Arbeitsgemeinschaft deutscher Waldbesitzerverbände (AGDW), der rund zwei Millionen Waldbesitzer vertritt, das Gutachten "einseitig". Er entdeckte in dem 52-seitigen Wald-Kapitel nur das "Profilierungsinteresse bestimmter politischer Gruppierungen". Die Forderung des SRU nach ökologischen Mindeststandards und unbewirtschafteten Schutzzonen weist auch AGDW-Geschäftsführer Michael Rolland entschieden zurück, als "Angriff auf das Eigentumsgrundrecht". Einen wissenschaftlich belegten Mehrwert von Flächenstilllegungen gebe es nicht. Die Forderung nach Eingliederung der BMVEL-Forstwirtschaftsabteilung in das BMU nennt Rolland "ideologisch motiviertes Naturschutzbrillen-Wunschdenken einiger Hochschullehrer".
Ein Streit mit Geschichte
Man muss weiter zurückgehen, um die Heftigkeit solcher Angriffe zu verstehen. 2007 verabschiedete die Bundesregierung die Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt. Sie steht im Kontext der UN-Biodiversitäts-Konvention von 1992 und wurde federführend vom BMU erarbeitet. Einige der Ziele: Förderung von naturnahen und historischen Bewirtschaftungsformen wie den Hutewäldern, fünf bis zehn Prozent Waldflächen mit natürlicher Waldentwicklung, Alt- und Totholz in "ausreichender Menge", Zertifizierung von 80 Prozent der Waldfläche nach hochwertigen ökologischen Standards bis 2010. Die Umsetzung dieser Ziele, moniert der SRU, erfolge allerdings nur "sehr langsam". Oder gar nicht. Bis heute sind nur 5,5 Prozent der Wälder nach den strengen ökologischen Kriterien von Forest Stewardship Council (FSC) und dem Bio-Anbauverband Naturland zertifiziert. Die schleppende Umsetzung zeigt: Die Akteure ziehen nicht an einem Strang. Im Gegenteil.
2010 verabschiedete dieselbe Bundesregierung die Waldstrategie 2020. Federführend diesmal: das BMVEL. "Im Forstsektor hatten viele das Gefühl, dass der Wald in der Nationalen Strategie einseitig als Biodiversitätsträger thematisiert würde. Man brauchte also ein Gegenkonzept, um die Interessen der Holzwirtschaft auf Bundesebene sichtbar zu machen", sagt Georg Winkel vom Institut für Forst- und Umweltpolitik der Universität Freiburg. So entwickelten Landesforstverwaltungen und Landesforstbetriebe, Waldbesitzer, Holz- und Sägeindustrie eine gemeinsame Antwort auf die Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt. "Man kann sagen, dass es Kampfkonzepte verschiedener Sektoren sind - die letztlich beide die Zustimmung der Bundesregierung haben", sagt Georg Winkel.
Wie lassen sich Holzernte und Biodiversität steigern?
Da sind Zielkonflikte sind programmiert. Zwar bekennt sich die Waldstrategie zu den Zielen der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt. Doch wie sie erreicht werden sollen, bleibt unklar. "Das einzige greifbare Ziel der Waldstrategie ist eine Steigerung des Holzeinschlags auf 100 Millionen Vorratsfestmeter", sagt Georg Winkel. Vorratsfestmeter, das ist die Mengenangabe für die oberirdische Holzmasse eines Baumes. Der Holzeinschlag von 54,4 Millionen Erntefestmetern - das ist die Mengenangabe für das wirtschaftlich genutzte Holz ohne Rinde und dünne Äste - im Jahr 2010 würde damit bis zum Jahr 2020 um fast die Hälfte gesteigert. "Das Problem ist: Wenn wir mehr Holz aus dem Wald rausholen, dann haben wir weniger Bäume, die alt werden können, und weniger Totholz", meint Winkel.
Als die Waldstrategie bekannt wurde, war die Entrüstung unter den Naturschützern groß. "Die hohen Holzvorräte, die in den vergangenen Jahrzehnten aufgebaut wurden, drohen geplündert zu werden", klagt Waldexpertin Nicola Uhde vom BUND. Dabei werden die Holzvorräte deutscher Wälder schon seit Jahren verstärkt genutzt. Zwischen 2001 und 2007 hat sich der Holzeinschlag nach der amtlichen Statistik von 39 auf 77 Millionen Erntefestmeter fast verdoppelt. Die Folgen sind schon jetzt absehbar. Im Jahr 2010 waren sieben waldbewohnende Baum-, 14 Vogel-, 205 Pflanzen- und 1284 Pilzarten in ihrer Existenz bedroht. Gründe dafür sind laut SRU-Gutachten die intensive Nutzung des Waldes und Schadstoffeinträge aus Industrie, Verkehr und Landwirtschaft. Doch unter dem Stress leidet nicht nur die Artenvielfalt.
Der Kohlenstoffspeicher Wald schwächelt
In der Treibhausgasbilanz ist unsere grüne Lunge schon lange nicht mehr der CO2-Schlucker von einst. Nach Berechnungen von Joachim Krug vom Hamburger Institut für Weltforstwirtschaft wird der deutsche Wald – wenn man den in Holzprodukten gespeicherten Kohlenstoff nicht berücksichtigt – in diesen Jahren bilanziell sogar zur CO2-Quelle. Einen Grund dafür sieht der Forstwissenschaftler in der Altersstruktur der deutschen Wälder. Rund zehn Prozent des deutschen Waldes gingen nach dem Zweiten Weltkrieg als Reparationsleistung ins Ausland. Die nachgepflanzten Wälder bilden heute laut Krug einen "relativen Überhang an alten Beständen" – die weniger Kohlenstoff speichern können als junge Bestände.
Die Diskussion um den Klimawandel treibt unter Naturschützern, Forstleuten und Ökonomen bisweilen bizarre Blüten. Die einen wollen totalen Nutzungsverzicht, damit möglichst viel CO2 im Wald verbleibt. Holz soll als "CO2-neutraler" Brennstoff verstärkt zu Wärmegewinnung genutzt oder in langlebigen Produkten verbaut werden, um das CO2 möglichst lange zu speichern. Andere wollen es gar luftdicht vergraben, um das CO2 "für immer" der Atmosphäre zu entziehen. Unter dem Gesichtspunkt der CO2-Speicherung scheinen auch Kurzumtriebsplantagen (KUP) sinnvoll. Auf solchen Flächen werden schnellwüchsige Bäume wie Getreide angebaut und geerntet, um daraus Holzpellets herzustellen oder Holz für Biomassekraftwerke.
"Vorsicht!", sagt Rainer Kant, nach Kurzumtriebsplantagen gefragt. "Solche Plantagen sind zwar CO2-Staubsauger, haben aber große ökologische Nachteile. Es ist ja keine Waldfläche, sondern ein agrarwirtschaftliches System. Wir müssen die Wälder, die wir haben, besonders diejenigen, die gut strukturiert sind, erhalten, müssen die Holzvorräte steigern. Auch wenn ein alter Baum insgesamt nicht mehr so viel CO2 aufnimmt wie ein junger: Auch ein Wirtschaftswald, der nicht mehr berührt wird, wird noch jahrhundertelang CO2 aufnehmen."
Gefährlicher Biomasse-Boom
Eine kürzlich erschienene Studie der Nationalen Akademie der Wissenschaften warnt ausdrücklich vor den Gefahren der Biomasseerzeugung zur Energiegewinnung. Auch Joachim Krug sieht Kurzumtriebsplantagen als Alternative zur Waldbewirtschaftung kritisch. Allerdings auch die strikte Nicht-Nutzung des Waldes: "Man muss das Gesamtbild betrachten: Bewirtschaftete Bestände weisen in Mitteleuropa eine bessere Klimabilanz auf als unbewirtschaftete. Dasselbe gilt für genutztes Holz im Vergleich zu Totholz", sagt Krug - und empfiehlt als effiziente Klimaschutzmaßnahme eine "nachhaltige Bewirtschaftung zur Bereitstellung hochwertiger Holzprodukte mit anschließender Kaskadennutzung". Ziel der Kaskadennutzung ist, Holz - und damit den in ihm gebundenen Kohlenstoff - so lange wie möglich im Produktkreislauf zu halten und andere energieintensive Produkte, etwa Stahl oder Aluminium, zu ersetzen. Erst am Ende der Nutzungsperiode sollte es zur Energie- oder Wärmeerzeugung verbrannt werden. "Extreme wie Kurzumtriebsplantagen im Wald oder Vollschutz helfen nicht", meint Krug. Zumindest nicht dem Klima.
Wie könnte eine Lösung aussehen?
Eine behutsame Waldwirtschaft scheint also das Mittel der Wahl. Aber was ist "behutsam" und was "nachhaltig"? Sicher nicht die Erhöhung des Holzeinschlags, darin sind sich die Naturschutzverbände einig. Im Gegenteil: "Unsere Hauptempfehlung ist: Wir müssen den Verbrauch senken", sagt Nicola Uhde vom BUND. Unterstützung erhält sie vom ehemaligen Forstamtsleiter der Stadt Lübeck, Lutz Fähser: "Wir können den ungezügelten Bedürfnissen nach noch mehr Holzkonsum nicht einfach nachgeben."
Fähser, promoviert in forstlicher Betriebswirtschaft, überzeugte die Lübecker Stadtväter 1994 von seinem Konzept. Es beruht auf drei Leitgedanken: 1. Der Wald muss sich natürlich entwickeln - so, wie es dem Standort entspricht. 2. Man darf vom Wald nicht mehr verlangen, als er von Natur aus leisten kann. 3. Man sollte stets mit minimalen Eingriffen arbeiten. Aus dem ersten Grundsatz ergibt sich die ausschließliche Verwendung heimischer Baumarten. "Bis vor wenigen Jahren glaubte man, ohne Fichte gehe es nicht", sagt Fähser. "Aber die Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. Die Fichte braucht ein kühles Klima und kann sich hier im Flachland nicht ausreichend anpassen. Die Folge sind Sturmschäden und Borkenkäfer. Alle 30, 40 Jahre hat man solche ‚Wunderbäume‘ eingeführt, die nach einer Zeit wieder ausgeschieden sind. Auch bei der Douglasie kündigt sich das an." Am besten geeignet, dem Klimawandel zu begegnen, sei eben die natürliche, heimische Lebensgemeinschaft im Wald.
Die kann sich beim Lübecker Konzept auf zehn Prozent der Waldfläche vollkommen ungestört entwickeln, den sogenannten Referenzflächen. Holz wird nur in Form von einzelnen, älteren und "reifen" Bäumen entnommen, nie in Form von Kahlschlägen. Der "Clou" des Konzepts ist für Fähser: die Natur maximal arbeiten lassen und selbst möglichst wenig tun. Das Verhältnis von Aufwand und Ertrag sei bei ihm wesentlich günstiger als in klassisch wirtschaftenden Betrieben. "Wir ernten überwiegend dicke Bäume, während die anderen bei hohem Pflegeaufwand einen hohen Anteil Papier- und Industrieholz ernten", erläutert er.
Lob und Unverständnis
Greenpeace, BUND, WWF und Robin Wood empfehlen das Konzept als vorbildlich. Es wurde 1996 von der Europäischen Papierindustrie und 1998 vom BMU ausgezeichnet. Das Bundesamt für Naturschutz erklärte Fähsers Forstwirtschaft 2009 zum Referenzmodell für eine vorbildliche, zukunftsfähige Bewirtschaftung des Waldes. Seither haben auch andere Stadtforstverwaltungen auf das Lübecker Konzept umgestellt: Berlin, München, Bonn, Saarbrücken, Wiesbaden, Hannover und Göttingen.
Nicht überall stößt Fähser mit seinen Ideen auf offene Ohren. Auch wenn die Hälfte der Wälder in privater Hand seien, liege die Bewirtschaftung doch überwiegend in der Hand der Landesforstbetriebe. Und dort kümmere man sich wenig um alternative Konzepte. Hinzu kommt eine alte Feindschaft: "Viele Staatsforsten empfinden sich als die natürlichen Gegner der Umweltverbände. Und nun kommt ausgerechnet ein Forstamt daher und kooperiert mit den Umweltschützern. Das war für die Verrat!", erinnert sich Fähser.
"Der Große Schillerfalter hat sehr spezielle Ansprüche. Sein Rendezvousplatz ist der Wipfel einer großen Eiche. Dann segeln die Falter herunter, um ihre Eier in vier bis fünf Meter Höhe auf Weidenblättern abzulegen. Aber nicht auf irgendeiner Weide, sondern auf einer Salweide, die in einem kellerartigen Klima mit hoher Luftfeuchtigkeit wächst und dennoch Sonne abbekommt. Außerdem braucht der Falter ein dichtes Wegenetz aus Sand, um in den Pfützen trinken zu können", erzählt Reiner Kant zum Abschluss der kleinen Exkursion durch den Sachsenwald.
So einfach ist das. Und doch so verzweifelt kompliziert.