Wir warteten, bis die Flut kam, um die Korallenbank zu erkunden: Die Fächer der Tischkorallen standen so knapp nur unter der Wasseroberfläche, dass wir bei Ebbe an ihnen hängen geblieben wären. Sie bedeckten dicht gedrängt die zerklüfteten Felsen. Ihre Arme griffen wie bunte Äste von Baumkronen ineinander, Schwärme aus Füsilieren und Riffbarschen stoben hindurch. In jedem Winkel des Dickichts zuckten Garnelen, Krebse und Strudelwürmer. Was für ein prachtvolles Riff!
Das war im November 2023 vor Lizard Island, einer entlegenen Insel im nördlichen Teil des Great Barrier Reef. Gemeinsam mit dem Fotografenpaar Stella und Jürgen Freund begleitete ich in Australien Forschungsteams, die nach Zukunftschancen für Tropenkorallen suchten. Die Riffe vor Lizard Island waren Symbole der Hoffnung für sie: Erst wenige Jahre zuvor war ein heftiger Tropensturm über die Insel gezogen und hatte die Unterwasserwelt schwer verwüstet. Bei unseren Tauchgängen mit dem Team um den Biologen Peter Harrison aber stellten wir fest: Die Riffe hatten sich wieder erholt. "Korallenriffe haben unglaubliche Widerstandskräfte", erzählte uns Harrison. "Sie brauchen nur Zeit, um sie zu entfalten."
Das Problem ist: Die Zeit läuft gegen sie, gegen die Riffe und ihre Helfer – und zwar immer schneller. Jetzt, ein Jahr später, ist ein großer Teil der Korallen, die wir vor Lizard Island bewundert haben, gestorben. Sie haben die Hitze des Sommers nicht überlebt.
Die Wassertemperaturen im Indopazifik waren nach unserer Abreise über Wochen auf bis zu 30 Grad Celsius angestiegen und hatten am Great Barrier Reef die fünfte Massenbleiche innerhalb von nur acht Jahren ausgelöst. In einem Schadensbericht für den nördlichen Teil des Riffs hält ein Team des australischen Meeresforschungsinstituts AIMS nun fest: In den untersuchten Gebieten sind bis zu 72 Prozent aller Korallen daran zugrunde gegangen. Ein katastrophaler Rekord: So schwere Schäden gab es seit Beginn ihrer Aufzeichnungen vor 39 Jahren noch niemals innerhalb eines Jahres, berichten die Forschenden.
"Wir sind durch Friedhöfe aus Korallen geschwommen", sagte der leitende Biologe Mike Emslie über die Analysen auf Lizard Island. "Soweit wir schauen konnten, waren die Korallen von Algen überwuchert." Vom südlichen Teil des Great Barrier Reefs, der noch untersucht werden muss, erwarten die Wissenschaftsteams nun mindestens ebenso große Schäden.
Der Bericht offenbart, wie rasant sich die Lage der Tropenkorallen verschärft: Die Weltmeere überhitzen sich derzeit schneller, als selbst Expertinnen und Experten es je befürchtet hatten. In diesem Jahr hatten fast 80 Prozent der globalen Riffe unter Korallenbleichen zu leiden.
Auch die Helfenden brauchen Hilfe
Während unserer GEO-Recherche in Australien war ich vom Einsatz der Forschenden sehr beeindruckt: Mühsam versuchen sie, den Korallen mehr Zeit dafür zu verschaffen, sich an die steigenden Temperaturen im Ozean anzupassen. Die Teams plagen sich viele Nächte lang im Labor, und bei ihren Expeditionen im Ozean gehen sie zum Teil große Risiken ein. Immer wieder müssen sie Rückschläge hinnehmen – so wie jetzt.
Sie machen weiter, trotz allem. Sie lassen sich nicht entmutigen. Doch immer wieder hörten wir während der Reise auch: Sie benötigen dringend Hilfe – von uns. Wenn wir als Weltgemeinschaft nicht schnell und drastisch unsere Treibhausgas-Emissionen zurückfahren, werden alle Bemühungen für den Schutz der Korallen vor Ort ins Leere laufen. Bei einer globalen Erwärmung von mehr als zwei Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau, so schätzte der Weltklimarat IPCC schon vor Jahren, könnten bereits zum Ende dieses Jahrhunderts Korallenriffe, wie wir sie kennen, aus den Meeren so gut wie verschwunden sein. Die Folgen für uns wären fatal – im Küstenschutz, in der Subsistenz-Fischerei, in der Suche nach neuen medizinischen Wirkstoffen, im Tourismus.
Mit jedem Euro, den wir heute klug in den Klimaschutz investieren, so zeigen Studien, sparen wir mindestens zwei, die wir andernfalls später für Reparaturen von Klimaschäden aufwenden müssen. Korallenriffe führen uns jetzt schon vor Augen, wie schnell ein Ökosystem, das über Abermillionen Jahre den Wandel der Welt überstanden hat, aus dem Gleichgewicht kommen kann. Höchste Zeit für die Delegierten der Klimaschutzkonferenz in Baku, zum Abschluss ihrer Verhandlungen Mut zu beweisen und neue Weichen dafür zu stellen, dass die Korallenriffe von Lizard Island und anderen tropischen Inseln noch einmal die Chance bekommen, ihre Pracht wieder aufzubauen.