Hautauswüchse wie Federn, Haare und Hornschuppen erfüllen bei Tieren verschiedene Funktionen. Sie können etwa dem Schutz und der Wärmeregulation dienen, kommen mitunter aber auch bei der Kommunikation und Balz zur Geltung. Bekannt sind komplexe Auswüchse wie Haare von Säugetieren, Federn dagegen von Vögeln und von manchen ihrer nächsten Verwandten, der Dino- und Flugsaurier.

Nun präsentiert ein internationales Forschungsteam um Stephan Spiekman vom Staatlichen Museum für Naturkunde Stuttgart eine dritte, bislang völlig unbekannte und zudem extrem alte Form komplexer Auswüchse, gefunden bei Reptilienfossilien: Der nur einige Zentimeter große Mirasaura grauvogeli, übersetzt bedeutet dies "Grauvogels Wunderreptil", lebte vor etwa 247 Millionen Jahren und trug einen bizarren, hoch aufragenden Rückenkamm.
Komplexe Hautauswüchse deutlich früher als angenommen
Dieser Kamm besteht aus einzelnen, sich dicht überlappenden Hautauswüchsen, die Blättern von Farnen ähneln: Sie weisen zwar jeweils eine federartige Kontur mit schmalem Mittelgrat auf, aber bei ihnen fehlen jene filigranen, verzweigten Strukturen – sogenannte Federäste –, die für Federn typisch sind.
Diese Eigenheiten des "Wunderreptils" hätten sich unabhängig von den Hautauswüchsen der Vögel und Dinosaurier entwickelt, schreibt die Gruppe. Die früheste bekannte Dinosaurierfeder ist etwa 150 Millionen Jahre alt – also rund 100 Millionen Jahre jünger.
"Mirasaura liefert den ersten direkten Beweis, dass komplexe Hautauswüchse in der Erdgeschichte deutlich früher entstanden sind als bisher angenommen", sagt Erstautor Spiekman. Zu jener Zeit waren die Dinosaurier gerade erst im Entstehen begriffen.
"Mirasaura zeigt, wie vielfältig Evolution sein kann"
In einer Schicht des etwa fünf Zentimeter hohen Rückenkamms fand das Team winzige Organellen mit Melanin-Pigmenten: Diese sogenannten Melanosomen unterscheiden sich von denen in Säugetierhaaren und Reptilienschuppen, ähneln aber denen in Federn. Der auffällige Rückenkamm der Echse diente vermutlich dazu, Artgenossen zu imponieren.

"Mirasaura grauvogeli zeigt, wie überraschend und vielfältig Evolution sein kann", sagt Co-Autor Rainer Schoch, Leiter der Paläontologischen Abteilung des Stuttgarter Museums. "Sie hat bereits sehr früh – lange vor den Dinosauriern – eine unerwartete Alternative zur Feder entwickelt. Solche unabhängigen Entwicklungen ähnlicher Strukturen verdeutlichen das enorme Potenzial der Evolution."
Mirasaura zählt zu besonders bizarren Kreaturen des Trias
In der Studie enthüllt das Team weitere Details des "Wunderreptils", das wohl in Bäumen lebte: Der Schädel von Mirasaura ist nur 1,7 Zentimeter lang und vogelähnlich, obwohl das Reptil nicht eng mit den Ahnen von Vögeln verwandt ist. Die schmale, fast zahnlose Schnauze diente vermutlich dazu, Insekten aus engen Baumhöhlen herauszuziehen.

Mirasaura zählt zu besonders bizarren Kreaturen der Triaszeit, die grob von vor 250 Millionen bis vor etwa 200 Millionen Jahren reichte: den Drepanosauriern. Diese Baumbewohner trugen greiffähige Vordergliedmaßen, zum Teil große Krallen, lange, tonnenförmige Körper und einen langen Schwanz, mit dem sie sich an Ästen festhalten konnten.
"Drepanosaurier sind erst seit wenigen Jahrzehnten bekannt und zeigen viele ökologische Anpassungen", sagt Co-Autor Hans Sues vom National Museum of Natural History in Washington. "Mirasaura lebte in den ersten Wäldern nach dem großen Massenaussterben am Perm-Trias-Übergang." Dieses Massensterben erfolgte vor etwa 252 Millionen Jahren.
Grauvogel-Sammlung ging 2019 an Stuttgarter Museum
In einem Kommentar zur Studie schreibt Richard Prum von der Yale University im US-Bundesstaat New Haven: "Die Hauptbotschaft von Spiekman und Kollegen ist, dass die evolutionären Fähigkeiten der Reptilienhaut viel merkwürdiger sind als bislang gedacht." Neben Federn hätten Reptilien noch andere erstaunliche Auswüchse aus ihrer Haut wachsen lassen.
Die Stuttgarter Mirasaura-Fossilien wurde in den 1930er Jahren im Elsass von dem Fossiliensammler Louis Grauvogel entdeckt - nach dessen Namen die Art benannt wurde: Mirasaura grauvogeli – Grauvogels Wunderreptil. Die private Grauvogel-Sammlung ging 2019 an das Stuttgarter Naturkunde-Museum. Dort wurden die farnartigen Hautauswüchse dann erkannt.