Das Hotel „Edelweiss“ ist ein ehrwürdiger Betrieb in Engelberg – Jagdtrophäen und historische Fotografien erinnern an die guten alten Zeiten, die weitläufige Terrasse bietet einen prächtigen Ausblick auf die Dreitausender der Zentralschweiz. Normalerweise.
An diesem Tag aber verwandeln tief hängende Wolken das Haus in ein Nebelschloss. Es ist nasskalt, windig, und auf der Terrasse tun sich seltsame Dinge: Fröstelnd, aber hoch konzentriert hantiert ein Dutzend Gestalten an Kesseln, Kanistern und Kolben, arbeitet mit Lösungen und Tinkturen. Proben werden gezogen und prüfend gegen das fahle Licht gehalten, man rechnet und wiegt.
Die Touristen aus den USA, die im Hotel auf Sonnenschein warten, blicken verwundert hinaus auf das Treiben, doch niemand traut sich zu fragen. Eine Alchemistenküche vor alpiner Kulisse?
Nein, ein improvisiertes Drogenlabor. Das wird hier einmal jedes Jahr aufgebaut, im Juni, wenn die „Schweizerische Medizinische Gesellschaft für Phytotherapie“ (Pflanzenheilkunde) Apotheker, Ärzte und Veterinäre zum Fortbildungskurs lädt.
Drogen – das sind für Phytotherapeuten all jene pflanzlichen Stoffe, die sich als Arzneimittel eignen. Und weil bei deren Verarbeitung intensive Gerüche und mitunter schwer zu entfernende Flecken entstehen, findet dieser praktische Kursteil vorsichtshalber auf der Terrasse des Hotels statt.

Die meisten Apotheker stellen selbst keine Medikamente mehr her
„Die pharmazeutische Verarbeitung von Arzneipflanzen“ lautet dieser Teil des Seminars. Einige Teilnehmer lernen gerade Extraktionsverfahren – also wie man Wirkstoffe aus der Pflanze herausholt. Die Referentin füllt frischen Salbei in eine Küchenmaschine, die das Kraut unter lautem Röhren häckselt. Dann löffelt sie das Rohmaterial in einen Perkolator; das Gerät funktioniert im Prinzip wie eine Kaffeemaschine, nur dass nicht heißes Wasser, sondern ein Ethanol-Wasser-Gemisch als Extraktionsmittel verwendet wird. Aus einem Kolben sickert der Alkohol auf den Salbei. Am Ende tropft ein dunkelgrünes Elixier aus einer Tinkturen-Presse: der Drogenauszug, der weiterverarbeitet werden kann zu Dragees, Tropfen oder Gel.

Darin übt sich gerade das andere Dutzend Seminarteilnehmer. Im Fernsehzimmer des Hotels stellen die angehenden Phytotherapeuten ein Kamille-Gel her. „Mit dem Schneebesen unter ständigem Rühren das Geliermittel in die Tinktur geben“, lautet die Anweisung der Referentin, „13,2 Gramm Alcoramnosan in 6oo Milliliter Chamomilla, Achtung: dabei Knollenbildung verhindern!“ Nun das Gel mit einer Kelle in die Tube einfüllen, bloß nicht zu viel, mit der Zange das Ende zusammenquetschen und umschlagen, etikettieren – fertig ist das entzündungshemmende Mittel gegen sommerliche Insektenstiche.
Medikamente im Do-it-yourself-Verfahren? Ist das nicht riskant? In Engelberg geht es um harmlose Arzneien, die Apotheker auf Rezept maßschneidern. Die Grenze zieht in Deutschland die Bundesvereinigung der Apothekerverbände mit einer Liste unter dem Titel „Bedenkliche Rezepturarzneimittel.“ Demnach darf etwa Arnika-Tinktur nicht in Präparate zur inneren Anwendung gemischt werden, weil es unter anderem zu Herzrhythmusstörungen kommen kann.
Doch restriktiver als diese Liste ist der Markt. „Wenn Sie nicht zufällig einen Heilpraktiker in der Nähe haben, bekommen Sie kaum noch ein Phytorezept zu sehen“, klagt ein Pharmazeut aus Freiburg beim Abendessen. Die Kosten für Pflanzenmedikamente werden von den gesetzlichen Krankenkassen nur noch in Ausnahmefällen erstattet. Dennoch verkaufen sich einige von ihnen noch immer ausgezeichnet, allen voran Bestseller wie das Ginkgo-Präparat Tebonin gegen Gedächtnisschwäche.
Im Labor hinter dem Verkaufsraum aber gibt es für einen Apotheker immer weniger zu tun. Oft wird selbst die Teemischung vorgefertigt beim Lieferanten bestellt, weil das billiger ist, als sie selbst herzustellen.
Diesem Trend verweigern sich die Teilnehmer des dreitägigen Seminars in Engelberg. „Die Apotheke war stets ein Hort des Wissens um die Heilkräfte der Natur“, sagt Rita Marusic, die in Locarno eine Farmacia führt. „Wir müssen achtgeben, dass wir nicht bloße Verkaufsstellen für Fertigprodukte werden.“
Mit der Heilpflanzenkunde drohe ein uraltes Menschheitswissen verloren zu gehen, ohne dass es je wissenschaftlich überprüft worden sei, ergänzt der Kursleiter Beat Meier, der an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Wädenswil (Kanton Zürich) Phytopharmazie lehrt. Sie schöpfe zwar aus jahrtausendealten Erfahrungen – was da aber im Einzelnen wirke und wie, sei nur in Ausnahmefällen mit modernen Analysemethoden ermittelt worden.

Für die Pflanzenheilkunde gelten strenge Prüfmethoden
Pflanzenmittel sind, anders als chemische Präparate, keine Einzelstoffe mit klar definierter Struktur, sondern mitunter ein Cocktail aus Hunderten unterschiedlicher Moleküle. Was nach Ansicht der Phytopharmazeuten oft von Vorteil ist, denn solche Vielstoffkombination stellen dem Organismus ein ganzes Arsenal von Abwehrmethoden zur Verfügung. „Der Körper nimmt sich, was er braucht – wie bei der Nahrung“, erkärt Meier.

Im Johanniskraut sieht er den Beleg für diese These: Wissenschaftler haben daraus den Stoff Hyperforin isoliert, der eine antidepressive Wirkung zu haben schien. Doch allein verabreicht, ist diese Substanz weniger wirksam als ein Mittel, das aus dem ganzen Kraut gewonnen wird.
Etwa 300 Arten gelten in Europa als Arzneipflanzen, von der Artischocke bis zur Zwiebel, vom Anis bis zum Zimtbaum. „Ständig höre ich, Regenwälder seien die natürlichen Apotheken unseres Planeten – dabei haben wir die vielen Schätze vor unserer Haustür noch gar nicht gehoben“, sagt Meier.
Dies Potenzial zu nutzen – dazu will das „Institut für Naturheilkunde“ am Universitätsspital Zürich beitragen, es ist dort gleichberechtigt neben 41 weiteren Instituten und Kliniken etabliert. Geleitet wird es von Reinhard Saller, der im Hotel Edelweiss ein Grundsortiment von 18 Pflanzen vorstellt, mit denen sich jeder Phytotherapeut auskennen sollte.
Die moderne Pflanzenheilkunde arbeitet mit streng wissenschaftlichen Methoden. Bevor ein pflanzliches Arzneimittel auf den Markt kommt, muss es ähnlich aufwendige Zulassungsprozeduren durchlaufen wie jedes andere Medikament auch. Allerdings misstrauen die Pflanzenheilkundler dem schematischen Ursache-Wirkung-Denken – und stoßen damit auf breite Zustimmung bei den Patienten. Mehr als 80 Prozent der Deutschen, ergab eine Umfrage aus dem Jahr 2007, ziehen pflanzliche Medikamente chemischen Präparaten vor.
Das bekommen auch Apotheker und Ärzte zu spüren, wie die Vorstellungsrunde am ersten Abend des Kurses deutlich macht. Ihr Chef habe sie auf den Lehrgang geschickt, damit sie besser auf Kundenwünsche reagieren könne, erklärt die Mitarbeiterin einer Zürcher Apotheke. „Früher ist das Wissen um die Heilkraft der Pflanzen in der Familie weitergegeben worden, heute lesen die Leute darüber im Internet und fragen uns nach pflanzlichen Mitteln“, ergänzt eine Ärztin aus Schaffhausen.
Und ihre Kollegin aus Basel bekennt, sie habe sich eingehend mit Traditioneller Chinesischer Medizin befasst und schließlich gefragt: „Was ist eigentlich aus der traditionellen europäischen Medizin geworden?“
Das Interesse an der Pflanzenheilkunde entspricht dem Bio-Boom bei Nahrungsmitteln, der kulinarischen Wiederentdeckung vergessener Obst- und Gemüsesorten. Aber das Kräuterweiblein, das mit seinem Korb durch Feld und Flur zieht, bestimmt nicht mehr das Bild. Längst wächst Echinacea, der Sonnenhut, auf weiten Feldern, werden Johanniskraut und Kamille maschinell vom Acker geerntet. Der kontrollierte Anbau von Heilpflanzen ist nicht nur rationell, er bietet auch die beste Gewähr für eine gleichbleibende Qualität.

Pflanzen zeigen ihre Heilkraft nur in Ausnahmefällen sofort
Peter Frey, seit 22 Jahren Allgemeinmediziner am Zürichsee, hat seine Praxis zum Teil auf Pflanzenheilkunde umgestellt – ein Schritt, der einer Verwandlung eines konventionellen landwirtschaftlichen Betriebes in einen Bio-Hof gleicht. Nun will Frey die Ärzte unter den Kursteilnehmern dazu ermuntern, es ihm nachzutun.

Er quält sie nicht mit den Problemen von Zulassung und Anerkennung, wichtiger ist ihm die Motivation: „Ihr müsst die Gewissheit mitbringen, dass viele Krankheiten oder Störungen mit pflanzlichen Mitteln günstig zu beeinflussen sind. Ihr solltet im Patienten den Wunsch nach Mitarbeit wecken, bei der Zubereitung und Anwendung von Tees oder Dampfbädern etwa. Und ihr müsst von ihm Geduld fordern.“
Viel Geduld. Denn Pflanzen zeigen ihre Heilkraft nur in Ausnahmefällen sofort. Ihre Stärke entfalten sie bei langfristiger, unterstützender Verwendung, bei chronischen Krankheiten – so wie etwa die afrikanische Teufelskralle bei Arthrose.
„Phytotherapie ist kein Allheilmittel“, sagt Peter Frey. „Meist geht es um leichte bis mittelschwere Fälle.“ Er erzählt von einem angehenden Anwalt im Prüfungsstress, dem er erfolgreich pflanzliche Entspannungs- und Schlafdragees verschrieben hat. Von einer überlasteten Versicherungsangestellten, gegen deren Bluthochdruck er eine Tinktur aus Schlangenwurzel, Buschklee, Weißdorn und Goldmohn einsetzte – vier Pflanzen statt eines Betablockers.
Am Nachmittag stapfen zwei Dutzend Hobbybotaniker, ausgestattet mit Regenschutz und Bestimmungsbuch, im Gänsemarsch durch die Wiesen von Engelberg. Efeu wuchert an einem Zaun. Die Apothekerin Rita Marusic krümelt Blätter in ein Glas, schüttelt es, das Wasser darin schäumt auf.
„Auf diese Weise lässt sich das Saponin im Efeu nachweisen“, erklärt sie. „Saponin-Drogen eignen sich zur Hustentherapie, gegen Schleim im Hals, sie stimulieren die Bronchien.“
Ein Pferdegespann trappelt vorbei, bringt Touristen vom Bahnhof ins Hotel, Kuhglocken läuten im Nebel. Es beginnt zu regnen, die Wanderer suchen Schutz unter dem dichten Blätterdach einer Rosskastanie. Auch dieser Baum zählt zu den wichtigsten heimischen Heilpflanzen, „sehr interessant bei Blutstauungen in den Venen”, doziert Beat Meier, „bis heute wirkt kein synthetischer Stoff besser.“ Jüngst ist der Baum zur „Arzneipflanze des Jahres 2008“ gekürt worden.
Kurze Zeit später stehen die Wanderer am Ufer der Aa, eine Wasseramsel schwirrt vorüber, die Gruppe kaut andächtig Weidenblätter. Gerbstoffe lassen die Blätter penetrant bitter schmecken. Die schmerzlindernde und entzündungshemmende Wirkung der Weidenrinde war schon in der Antike bekannt, im 19. Jahrhundert wurde die Substanz Salicin als der dafür entscheidende Stoff identifiziert und daraus die wirksamere und verträglichere Acetylsalicylsäure abgeleitet.
Dann stößt Kursleiter Beat Meier auf Urtica dioica. Es ist ein wehrhaftes Gewächs, das er da vorsichtig ausrupft, und ein gehaltvolles. Den Raupen von 36 Schmetterlingsarten dient es als Nahrung, war früher Futter fürs Vieh und für den Menschen ein vortrefflicher Vitaminlieferant. Vor allem aber: Das Grünzeug hilft gegen rheumatische Beschwerden, gegen Harnwegentzündungen und Prostataerkrankungen. Die Große Brennnessel wird seit der Antike in der Medizin genutzt, sie galt einst als Königin unter den Heilpflanzen. Heute sieht man in ihr meist nur ein hartnäckiges Unkraut.

"Alle Wiesen und Matten, alle Berge und Hügel sind Apotheken"
Langsam steigt die Gruppe am Talhang empor, eine ungedüngte Almweide auf 1200 Meter Höhe erscheint Beat Meier als perfekter Platz für ein Kolloquium im Grünen. „Achtet auf die Vegetationszonen: Der Thymian steht an den nährstoffarmen trockenen Standorten, dort oben bei den Felsen, die Heidelbeere dicht am Waldrand, sie kann getrocknet gegen leichten Durchfall eingesetzt werden. Hat schon jemand Tormentill gefunden?“ Er greift zur Schaufel, präsentiert kurze Zeit später mit erdigen Händen die Wurzel dieses Rosengewächses.

Er setzt das Messer an, roter Saft tritt aus – Blutwurz wird die Pflanze genannt. In dem Sekret sind Gerbstoffe enthalten, die gegen Durchfall wirken sollen. Lächelnd sagt Meier: „Eigentlich müsste Blutwurz-Pulver gleich gut wirken wie Imodium.“ Aber das ist wieder solch ein unbestelltes Forschungsfeld.
Ein Bergsalamander schleicht durchs Gras, in der Ferne leuchten für einen Moment Schneefelder durch die Nebelwand. Auch botanische Kostbarkeiten wie Türkenbund und Knabenkraut gehören zum Artenkosmos der Bergwiesen, doch die prächtige Lilie und die seltene Orchidee sind nur Randerscheinungen auf dieser Exkursion.
Hier geht es um innere Werte, hier öffnet sich das Universum der Heilpflanzen in all seiner Vielfalt: Löwenzahn (entgiftend) und Schafgarbe (fördert die Verdauung), Schlangenknöterich (entzündungshemmend) und Schöllkraut (gut für die Galle), Frauenmantel (bei Wechseljahrsbeschwerden) und Storchenschnabel (gegen leichten Durchfall), Primel (hustenlösend) und Kümmel (gegen Blähungen) – all diese Blüten, Blätter und Wurzeln verstauen die Pflanzensucher in den mitgeführten Beuteln.
„Alle Wiesen und Matten, alle Berge und Hügel sind Apotheken“, hatte Paracelsus, einer der Urväter der Phytotherapie, im 16. Jahrhundert erkannt. Von dieser alten Weisheit neu beseelt, kehrt die Gruppe ins Hotel zurück. Durchnässt, glücklich – und mit Unmengen frischer Drogen.