Die Frau war knapp so alt wie Andy Spyra, der Fotograf aus Deutschland. Sie war Mitte zwanzig und hieß Lilian Janan Sa’deed, und sie saß in ihrer Wohnung auf einem viel zu großen Sofa und schaute ins Leere. Es gab sonst nicht viel in dieser Flüchtlingswohnung in der Stadt Karakosh im Norden des Irak. Ein paar Bilder an den Wänden, einen einsamen Couchtisch, auf dem ein Kinderbuch lag, My Little Book About God. Lilians Tochter, ein süßer Fratz im Schleifenjäckchen, steckte sich das Buch in den Mund und gluckste fröhlich vor sich hin. Ihre Mutter saß auf dem Sofa und blickte in eine unerreichbare Ferne, und sie erzählte in stockenden Worten ihre Geschichte.
Es war eine Geschichte, wie wir sie so oder so ähnlich schon mehrmals gehört hatten in den vergangenen Tagen, Andy Spyra und ich, der GEO-Reporter. Und Andy Spyra hatte so etwas sogar noch viel öfter erlebt, weil er schon seit dem Frühjahr 2011 dem Exodus der Christen aus dem Nahen Osten nachspürt. Spyra ist in der Türkei gewesen, in Ägypten, im Irak, er plant Reisen nach Israel und nach Gaza und in weitere Länder. Man kann sagen, dass Andy Spyra so etwas wie ein Experte geworden ist für die Verbrüderung von Glaube und Gefahr, ein Detektiv, der den Zeichen des Verschwindens nachspürt, ein Experte für die schizophrene Lage von Menschen, die auf dem Bleiben beharren und doch vom Ausland träumen, die stolz sind auf die uralte Geschichte ihrer Kultur – und Angst haben vor der Zukunft.
In Zahlen und Fakten ausgedrückt: Um das Jahr 1900 war jeder fünfte Bewohner des Nahen Ostens, der Ursprungsregion des Christentums, nun ja, christlich. Heute ist es noch jeder zwanzigste. Es gibt die offene, brutale Variante wie im Irak, wo im Bürgerkrieg nach dem Sturz Saddams etwa 1000 Christen ermordet wurden; von wo seitdem geschätzt jeder zweite Christ geflohen ist, nach Detroit oder in die deutsche Provinz oder sonst wohin. Und es gibt die versteckte Variante, das schleichende Wirken der Demographie: Wirtschaftsmigration; schrumpfende Geburtenraten; ein langsam tröpfelnder Abfluss.
Von all dem erzählt Andy Spyra mit seinen Schwarz-Weiß-Bildern, er hat einen Blick für die Macht von Ritualen und Traditionen, und er hat einen Blick für die Wucht von Landschaften, die uralte Kulturräume sind, mit Friedhöfen und Klöstern und Kirchen aus den Anfangszeiten des Christentums; auf seinen Fotos wirken diese Landschaften wie gemacht für einen Western, irgendeinen Alles-oder-nichts-Film, der in längst vergangenen Zeiten spielt. Und natürlich hat Andy Spyra einen Blick für das Leid der Menschen, die er trifft, für Bedrohungen und Lebensbrüche, die sich in Gesichter gegraben haben; er hat einen Blick dafür, was eine Geste verraten kann, ein Blick, eine einsam wehende Gardine im Empfangszimmer einer viel zu leeren, viel zu kalten, viel zu traurigen Wohnung.
So war es bei Lilian Janan Sa’deed. Sie erzählte ihre Geschichte: von den Einschüchterungen, denen ihre Familie sich im Irak ausgesetzt sah, nur weil sie Christen waren. Von der Flucht nach Karakosh, einer Stadt mit neun Kirchen, 2000 Mann unter Bewaffnung, 45.000 Einwohnern, davon 98 Prozent Christen – Karakosh ist heute die größte christlich geprägte Stadt des gesamten Nahen Ostens. Von ihrer Heirat erzählte Lilian, als endlich alles gut zu werden schien. Und von dem Tag, als sie, hochschwanger, morgens mit ihrem Mann telefonierte. Davon, wie er kurz darauf losrannte, weil er die Fahrer mehrerer Busse, voll mit christlichen Studenten aus Karakosh, vor der Explosion einer Bombe am Straßenrand warnen wollte. Wie die Busse zwar abdrehen konnten, der Körper ihres Mannes aber von der Bombe zerfetzt wurde. Heute feiern sie ihren Mann als Märtyrer, aber Lilian versinkt in der Traurigkeit.
Man muss vielleicht an einem Ort wie Karakosh gewesen sein, um zu ermessen, was es bedeuten kann, heute noch Christ zu sein. Lilian flehte uns an, sie aus dem Irak zu bringen, nur fort von hier, aber wir konnten nichts für sie tun, natürlich. Wir baten sie, Fotos von ihr machen zu dürfen, und sie stimmte zu, weil sie, irgendwo am Grund ihrer Verzweiflung, darauf hoffte, dass ihr Porträt, über ihre Geschichte gelegt, irgendetwas bewirken, von irgendetwas erzählen könnte, das ihr wichtig war.
Es quälte diese depressive junge Frau in der Uniform der irakischen Witwen, dem langen schwarzen Kleid, sich einem Fotografen zu stellen. Aber sie wollte es so und wünschte es. Und also schickte ihr Andy Spyra ein aufmunterndes, fast schüchternes Lächeln hinter seiner Mittelformatkamera hervor, und dann fotografierte er sie.