Eine Reihe mysteriöser Ereignisse erschütterte in den 1970er Jahren die ostwestfälische Gemeinde Lengerich nördlich von Münster. Ja, beinahe schien es, als habe jemand die Gegend rund um ein Zementwerk verflucht. Bäume verloren schon im Sommer ihre Blätter. Salatpflanzen vergilbten. Und Tiere starben: darunter Schafe und ein paar Kaninchen, deren Fell zuvor in Büscheln ausgefallen war. Lange Zeit konnte sich niemand das rätselhafte Siechtum erklären.
Bis Chemiker in einem Labor zwei der betroffenen Tiere gründlich untersuchten – und in deren Haaren schließlich auf Spuren einer hochtoxischen Substanz stießen: Thallium. Woher das Schwermetall stammte, war schnell klar: Die Dyckerhoff AG verwendete bei der Herstellung von Zement thalliumhaltiges Eisenoxid – und so war das Gift aus den Schloten in die Atmosphäre gelangt und im Umkreis der Fabrik heruntergerieselt.
Womöglich ebenfalls aus ehemaligen Zementproduktionen stammend könnte Thallium bald in viel größeren Maßstab als damals in Lengerich Schaden anrichten: So warnen Forschende derzeit davor, dass das Schwermetall aus Sedimenten in die Ostsee gespült und so zu einer dramatischen Gefahr für das sensible marine Ökosystem werden könne.
Doch was genau ist Thallium eigentlich? Wo kommt es vor? Weshalb wirkt es tödlich? Und anhand welcher Symptome äußert sich eine Vergiftung?
Thallium ist gut löslich und kann leicht in den Körper eindringen
Chemisch gesehen gehört Thallium zu den natürlichen Elementen (Elementsymbol Tl), wozu unter anderem auch Sauerstoff, Schwefel oder Gold zählen. In der Natur existiert das Metall allerdings so gut wie nie in Reinform, vielmehr findet es sich als Spurenelement in Mineralen. Auf ein Kilogramm Erdkruste fällt im Mittel gut ein halbes Milligram Thallium.
Der Name des Metalls geht auf den britischen Chemiker Sir William Crookes zurück, der die Entdeckung der Substanz 1962 als Erster publizierte. Crookes taufte das neue Element Thallium (von griechisch thallos für "grüner Zweig"), da er auf dessen Existenz durch eine auffallend grüne Spektrallinie stieß.
Viele Thallium-Verbindungen sind extrem gut löslich und werden leicht über die Atemwege, die Haut und den Magen-Darm-Trakt resorbiert. Dass sich bereits geringe Mengen der Substanz fatal auswirken können, beruht unter anderem auf einer Verwechslung: Gelangt Thallium in den Körper von Mensch und Tier, behandeln die Zellen den Giftstoff so wie Kalium – ein Element, das eine lebenswichtige Rolle im Stoffwechsel spielt. Und bauen das Toxin irrtümlicherweise in körpereigene Moleküle ein.
Eine Vergiftung mit Thallium stellt sich als besonders tückisch dar. Denn die verheerenden Effekte zeigen sich meist etliche Zeit nach der Aufnahme des Giftes. Zwar spüren Betroffene anfänglich Übelkeit, müssen sich übergeben. Dann aber schweigt das Toxin für zwei, drei Tage, die Symptome scheinen verflogen. Jedoch nur, um dann ihre verhängnisvolle Wirkung mit Wucht zu entfalten: Vergiftete leiden unter Bauchschmerzen, Durchfall, schütteln sich in Brechkrämpfen. Tage später folgen Taubheitsgefühle, Kribbeln, Schmerzen bei Berührung, Ohnmacht. Mitunter steigt der Blutdruck stark an, es kann zu Sehstörungen, zur Erblindung, zum Hörverlust kommen. Und die Haare fallen aus, zunächst auf dem Kopf, später am ganzen Körper.
Schon kleinste Mengen des Stoffes reichen, um den Organismus massiv zu beeinträchtigen. Lediglich 800 Milligramm Thallium können bei Erwachsenen zum Tod führen. Wer eine Vergiftung überlebt, muss zuweilen mit dauerhaften Lähmungen zurechtkommen, mit Gedächtnisproblemen, eingeschränkter Orientierungsfähigkeit.
Immer wieder kam es zu tödlichen Unfällen – und auch zu Morden
Ähnlich fatal wie bei uns wirkt sich das Toxin auch im Körper vieler Tiere aus. Kein Wunder, dass Thallium (in Form von Thalliumsulfat) lange Zeit als Rattengift oder zur Schädlingsbekämpfung von Schaben oder Ameisen Verwendung fand. Da es allerdings immer wieder zu tödlichen Unfällen kam, auch zu Morden und Suiziden, sind thalliumhaltige Mittel in Deutschland wie auch in vielen anderen Ländern längst vom Markt genommen worden.
Doch obwohl das Gift so schwer erhältlich ist, gerät es bisweilen in die falschen Hände: Erst im vergangenen Jahr hat das Landgericht Köln einen Mann wegen mehrfachen Mordes verurteilt. Der 42-Jährige hatte zunächst seine Ehefrau und wenig später auch die Großmutter seiner neuen Lebensgefährtin getötet. Schließlich kam auch sie mit Vergiftungssymptomen ins Krankenhaus – und überlebte. In der Wohnung des Tatverdächtigen fanden Ermittler ein Glasgefäß mit einer hochgefährlichen Chemikalie: Thallium.