Es ist vorbei. Das unerträgliche Gemetzel ist ausgestanden, der Krieg gewonnen. Seit der Nachricht vom 10. April 1865, dass die Hauptarmee des Südens kapituliert hat, liegt Washington im Triumphrausch. Selbst der kontrollierte, zuletzt von der "Schlächterei" niedergedrückte Abraham Lincoln ist ausgelassen. Eine Last fällt in diesen Tagen von ihm ab. Vier Jahre Krieg, ruhelose Nächte und Albträume, der Zerschleiß seiner Gesundheit, die ewigen Befehle, die den Tod Tausender junger Männer bewirken: vorbei.
Vergangenheit auch jener große Schandfleck der amerikanischen Republik, die Sklaverei. Am Tag nach der Einnahme durch Unionstruppen hat Lincoln Richmond besucht, die ehemalige Hauptstadt des abtrünnigen Südens, und war tief gerührt von den jubelnden Schwarzen, die ihn als Befreier feierten.
Vorbei schließlich der Druck, der seine Ehe belastete. Die Sorgen und Arbeit ihres Mannes haben Mary Lincoln vereinsamen lassen; er weiß das. Auf einer Spazierfahrt mit der Kutsche am Nachmittag des 14. April, Karfreitag, sagt Lincoln zu Mary: "Wir müssen in Zukunft beide wieder heiterer sein." Vielleicht ergibt sich die Möglichkeit zu reisen, an die Westküste oder nach Europa.
Lincoln entspannte bei einer Komödie – dann fiel der Schuss
Zunächst aber steht ein Theaterabend an. Im "Ford's Theatre" wird "Unser amerikanischer Cousin" gespielt, eine Komödie, in der ein ungehobelter Hinterwäldler aus Vermont seine aristokratischen englischen Verwandten besucht. Ein launiges Spiel mit Klischees und kulturellen Missverständnissen. Der Theaterfreund Lincoln genießt solche Boulevardstücke genauso wie die Dramen William Shakespeares.
Gegen 20.30 Uhr treffen Abraham und Mary Lincoln im "Ford's Theatre" ein, begleitet von einem befreundeten Paar. Als der hagere, fast zwei Meter große Präsident auf der Galerie erscheint, brandet Applaus auf, die Menschen erheben sich, das Orchester spielt die Präsidentenhymne "Hail to the Chief". Minutenlang feiern die Zuschauer ihren Kriegsherrn, der in einer Loge verschwindet. Mancher mag da schon ahnen, dass dieser Mann als einer der größten Führer der Nation in die Geschichte eingehen wird. Nicht aber, wie nah der Moment ist.
Abseits der belebten Hauptstraßen ist die Stadt dunkel. Niemand sieht den Mann, dessen Pferd wenige Minuten nach 21.30 Uhr die Baptist Alley hinauftrottet, eine Stallgasse hinter dem "Ford's Theatre". Der Reiter sitzt ab und betritt das Gebäude durch den hinteren Bühneneingang. Er kennt den Bau genau, weist sogar einen Mitarbeiter an, kurz sein Pferd zu halten: John Wilkes Booth ist Schauspieler, ein Star, und in diesem Theater wie zu Hause.
Durch einen schmalen Gang gelangt er auf die Straße vor dem Theater, von dort begibt er sich ins Foyer. Booth erkundigt sich beim Portier nach der Uhrzeit. Dann geht er wieder hinaus und in den "Star Saloon" nebenan, bestellt Whiskey und Wasser, scherzt mit dem Barmann. Als er erneut das Theater betritt, ist es kurz nach 22 Uhr, es wird gerade der dritte Akt gespielt.