Das Bild wirkt, als wären zwei verschiedene Zeitalter in ihm vereint. Links die Würdenträger, Journalisten und Zuschauer, ihre Anzüge zugeknöpft, ihre Krawatten akkurat gebunden. Sittsam aufgereiht beobachten sie, wie Reisuke Ishida, der Präsident der japanischen Staatsbahn, ein Eröffnungsband zerschneidet – und damit jenes futuristische Wesen in die Freiheit entlässt, das rechts von ihnen lauert: ein windschnittig designter Superzug, die Nase forsch nach vorn strebend, die Fenster schmal und grimmig. Der Shinkansen. Ein Raumschiff auf Schienen.
Am 1. Oktober 1964 weiht Ishida die erste Strecke der neuartigen Maschine ein, die fortan die Millionenmetropolen Tokio und Osaka verbinden wird. Der Shinkansen erreicht dabei bis zu 220 km/h, mehr als jeder andere Zug im Regelbetrieb, und läutet damit die Ära der Hochgeschwindigkeitszüge ein. Als "Bullet Train" macht er schnell global Schlagzeilen.
Denn in diesen Tagen, in denen er seine Arbeit aufnimmt, blickt die Welt ohnehin schon nach Tokio: Am 10. Oktober werden hier die Olympischen Spiele beginnen. Die ersten in Japan. Die ersten in ganz Asien.
Und so ist der Shinkansen mehr als eine technologische Meisterleistung. Er ist ein Symbol für Japans wiedergewonnene Stärke, für den rasanten wirtschaftlichen Aufstieg des Landes nach seiner desaströsen Niederlage im Zweiten Weltkrieg.
Japan hat das Mammutprojekt innerhalb weniger Jahre gestemmt. In den 1950er-Jahren starten die Planungen, 1959 die Bauarbeiten. Es ist eine Zeit, in der immer mehr Japanerinnen und Japaner mit dem Flugzeug oder dem eigenen Auto reisen – und mancher schon das Ende der Eisenbahn als Massentransportmittel gekommen sieht.
Die Ingenieure entwarfen vorher Kampfflugzeuge
Doch die Bosse der Staatsbahn machen Druck, wollen den Shinkansen unbedingt zu den Olympischen Spielen in Betrieb nehmen – ein Zeitplan, den viele ihrer Angestellten für unrealistisch halten. Umso mehr Ressourcen werfen die Verantwortlichen auf das Projekt, die Kosten steigen auf rund 380 Milliarden Yen, mehr als doppelt so viel wie geplant. Zwei Bahnchefs müssen zurücktreten.
Unterdessen wachsen die Erwartungen der Öffentlichkeit an den neuen Wunderzug – und an die Ingenieure, die an ihm arbeiten. Etliche von ihnen kommen aus der Rüstungsindustrie, haben zuvor etwa Kampfflugzeuge entwickelt. Nun bringen sie ihr Wissen zu Aerodynamik und Geschwindigkeitsoptimierung beim Shinkansen ein.
1962 erreicht der strombetriebene Zug bei einer Testfahrt 256 Kilometer pro Stunde. Weitere erfolgreiche Tests folgen, und 1964 ist klar: Das Ziel, vor Olympia an den Start zu gehen, wird erreicht. Im August berichtet die New York Times anerkennend: "Der Zug bietet 978 Passagieren Platz. Die Waggons sind klimatisiert, ausgestattet mit gepolsterten und verstellbaren Sitzen. Ein Buffetwagen wird für Erfrischungen sorgen."
Nachdem Reisuke Ishida knapp zwei Monate später das Eröffnungsband zerschnitten hat, spielt eine Blaskapelle Marschmusik, als der Shinkansen aus dem Bahnhof Richtung Osaka rollt. Die mehr als 500 Kilometer schafft er in knapp vier Stunden, vorher brauchte man mit der Bahn rund sieben. Der neue Zug macht Tagestrips zwischen den Metropolen möglich, befeuert die prosperierende japanische Wirtschaft so zusätzlich. Bald werden weitere Strecken eröffnet.
Im Jahr 2008 geht die sogenannte Baureihe Null des Shinkansen, mit der heute vor 60 Jahren die Ära der Hochgeschwindigkeitszüge begann, endgültig in Rente. Da sind längst schnellere Nachfolger des Originals im Einsatz. Denn Japan bleibt nach seiner Pioniertat ein Vorreiter der Tempotechnologie auf der Schiene – bis heute. In den kommenden Jahren sollen Magnetschwebebahnen in den regulären Betrieb gehen. Ihre Höchstgeschwindigkeit: rund 600 km/h.