Fernsehgeschichte "An American Family": Wie die Urmutter aller Reality-Shows das Publikum schockierte

Familienportrait einer siebenköpfigen Familie mit zwei Hunden
Die Familie Loud aus Santa Barbara: Kevin, Grant, Delilah, Lance, Michelle, Pat und Bill (von links oben nach rechts unten)
© Everett Collection / imago images
Lange bevor die Kardashians ihren Alltag filmen ließen und Prominente im Dschungelcamp um Aufmerksamkeit rangelten, sorgte in den USA die Familie Loud für Schlagzeilen. Ihr Fernsehauftritt war die Geburtsstunde des modernen Reality-TV

Im Januar 1973 beschrieb die US-amerikanische Ethnologin Margaret Mead, eine Forscherin von Weltruhm, eine bahnbrechende Entdeckung. Sie habe "eine neue Kunstform" kennengelernt, notierte sie, eine Innovation, deren Bedeutung man mit der "Erfindung des Schauspiels und des Romans" vergleichen müsse. Für diese Erkenntnis brauchte Mead, die früher indigene Gesellschaften in Neuguinea studiert hatte, nicht in die Ferne zu reisen. Es reichte aus, sich eine neue Fernsehserie anzuschauen. Ihr Titel: "An American Family".

Diese "amerikanische Familie" war keine Fiktion wie die Waltons oder die Cartwrights aus "Bonanza", es gab sie wirklich – und das war der Clou an der Sache. Pat Loud (46) und ihr Ehemann Bill (52) aus Santa Barbara in Kalifornien, Eltern von fünf Teenagern, hatten dem Filmemacher Craig Gilbert erlaubt, sie sieben Monate lang mit der Kamera zu begleiten. Der schnitt danach 300 Stunden gefilmten Familienalltag zu zwölf einstündigen Folgen zusammen. Das Ergebnis war ein völlig neues Fernseherlebnis, das selbst eine Wissenschaftlerin wie Margaret Mead in seinen Bann zog. "Ich denke, wir brauchen einen neuen Namen dafür", schrieb sie. Heute weiß jeder, wie man eine solche Sendung nennt. Die Premiere von "An American Family" am 11. Januar 1973 war zugleich auch die Geburtsstunde des modernen Reality-TV.

Die Serie wurde schnell zu einem gewaltigen Erfolg, Millionen von Amerikanern schalteten Woche für Woche den Sender PBS ein, auch weil hinter der eleganten Fassade der Louds genau das lauerte, was diese Formate zum Leben brauchen: ein Konflikt. Denn trotz ihres Wohlstands, trotz Pool und Pferd, war Pat Loud unglücklich in ihrer Ehe. Vor laufenden Kameras verkündete sie ihrem Mann Bill, einem erfolgreichen Unternehmer, dass sie genug habe von seinen Affären, dass sie sich scheiden lassen wolle. In der neunten Folge setzte sie ihn vor die Tür. 

Das erste Coming-out im amerikanischen Fernsehen

Das allein hätte ausgereicht, um das Publikum zu schockieren. Doch dabei blieb es nicht. Denn im Laufe der Serie machte Lance, der älteste Sohn der Louds, seine Homosexualität öffentlich – als erste TV-Persönlichkeit in der amerikanischen Fernsehgeschichte. Seine Eltern hatten damit kein Problem, aber das Coming-Out befeuerte eine Debatte, die den Louds lange nachhängen sollte.  

Das Nachrichtenmagazin "Newsweek" hob die Familie aufs Cover. Titelzeile: "Broken Family", eine kaputte Familie. Plötzlich wurden fast alle Probleme der amerikanischen Gesellschaft – die tatsächlichen wie auch die nur behaupteten – am Beispiel der Louds diskutiert. Sie, die vor der Ausstrahlung völlig unbekannt gewesen waren, waren nun berühmt, aber geliebt wurden sie nicht. Im Gegenteil: Sie wurden angefeindet, bekamen den "Hate" ab, wie man heute sagen würde, selbst Qualitätsmedien wie "Newsweek" beschimpften sie als "wohlhabende Zombies". 

Noch während die Serie lief, starteten die Louds eine Gegenoffensive. Sie traten in einer bekannten Talkshow auf und beklagten, was auch heute noch Reality-Stars gern zu ihrer Verteidigung vorbringen: Sie seien durch den Schnitt falsch dargestellt worden. Das wiederum lenkte die Kritik auf den Macher der Serie, Craig Gilbert, einen Kriegsveteranen und Harvard-Absolventen. Er galt nun vielen als skrupelloser Manipulator, der die Louds erst zur Trennung gedrängt habe. Gilbert zog sich daraufhin aus der Öffentlichkeit zurück. Er sollte bis zu seinem Tod im Jahr 2020 keine weitere TV-Dokumentationen mehr drehen.

Eine Geschichte mit Happy End

Die Louds dagegen kehrten später noch mehrfach ins Fernsehen zurück. Im Jahr 1983, genau ein Jahrzehnt nach der Premiere der ersten Staffel, gab es ein Wiedersehen. Auch als Lance im Jahr 2001 im Sterben lag – die Folge einer Infektion mit HIV und Hepatitis-C – fand die "American Family" noch einmal auf dem Bildschirm zusammen.

Pat und Bill erfüllten ihrem Sohn seinen letzten Wunsch. Deshalb hat die "American Family" ein für das konfliktträchtige Reality-TV eher ungewöhnliches Ende genommen: Die Louds kamen wieder zusammen, so wie Lance es gewollt hatte. Und diesmal trennten sie sich nicht mehr. Bill Loud starb 2018, seine Frau Pat drei Jahre später. Da waren sie längst kein Skandalpaar mehr, sondern ein Stück Fernsehgeschichte.