Geht es noch radikaler, noch kühner? Das Werk prangt oben in der Ecke des Raumes, dort, wo russische Familien sonst ihre Ikonen aufhängen, goldglänzende Heiligenbilder. Aber was, zum Teufel, soll das hier sein? Nichts als ein schwarzes Rechteck umgeben von etwas Weiß, auf einer Leinwand von knapp 80 mal 80 Zentimetern. Gemalt hat es der Russe Kasimir Malewitsch, und heute, am 7. Dezember 1915 in Petrograd, stellt er es zum ersten Mal aus.
Einer Mitarbeiterin erzählt er, er habe nach der Vollendung des Werks eine Woche lang weder essen noch schlafen können. Es ist, als spüre er den historischen Moment. Malewitsch will, wie er sagt, "kosmische Perfektion" erreichen, den "größten Ausdruck reinen Gefühls" – und er vereinfacht sein Bild dafür so kompromisslos, wie es kein anderer Künstler, keine andere Künstlerin vor ihm getan haben.
Das "Schwarze Quadrat", erschaffen vor 110 Jahren, ist ein Höhepunkt der Kunstgeschichte – und zugleich ein Nullpunkt. Eine Ikone der Abstraktion, die die Malerei buchstäblich von der realen Welt befreit und so einen ganz neuen Raum erobert. Offen für zukünftige Kreationen.
Das Abbild der Wirklichkeit wird uninteressant
Über Jahrtausende haben Kunstschaffende zuvor damit gerungen, eine irgendwie geartete Wirklichkeit abzubilden: die natürliche Welt, Menschen, Lebewesen, historische Ereignisse, religiöse Erzählungen oder heilige Figuren. Doch im 19. Jahrhundert, in dem die Darstellung des Realen in den Ateliers in Europa mitunter nahezu fotografische Qualität erreicht, lösen sich einige rebellische Malende zunehmend von dem Anspruch, stets erkennbare Dinge, Gegenständliches auf ihre Leinwände zu bringen.
Der Kubismus etwa zerlegt und vergröbert das Gezeigte in Richtung Unkenntlichkeit, den Anhängern des Expressionismus geht es immer weniger um die Darstellung einer äußeren Welt, mehr und mehr um den Ausdruck von Gefühlen. Zahlreiche Maler bewegen sich so auf unterschiedlichen Pfaden weg vom Konkreten – hin zur Abstraktion.
Einer der Pioniere dieser Strömung ist der Russe Wassily Kandinsky, der sich viel in Deutschland, in und bei München, aufhält. In seinen Gemälden ist der Übergang förmlich in Echtzeit, von Werk zu Werk zu erleben. Burgen und Reiter und Menschenmengen lösen sich auf in Flächen und Farben, sind gerade noch schemenhaft erkennbar. Irgendwann, am Ende dieses Prozesses, scheinen Kandinskys Gemälde nurmehr aus einem freien Spiel von Linien, Formen und Farben zu bestehen, etwa das Bild "Komposition V" von 1911.
Malewitsch ist der Extremste unter den Extremen
Zu den Künstlern, mit denen sich Kandinsky austauscht, zählt auch sein Landsmann Kasimir Malewitsch, der zunächst in seiner Geburtsregion Kiew Zeichnen studiert hat und später die Moskauer Lehranstalt für Malerei, Bildhauerei und Architektur besucht. Malewitsch denkt bald besonders radikal. Denn er will keine Kunst mehr, die sich langsam von den Erscheinungen löst, er will eine Ästhetik, die von vornherein aus Formen besteht, die rein gar nichts mehr mit der Wirklichkeit gemein haben: simple, pure geometrische Elemente.
"Suprematismus" nennt er diesen neuen Ansatz, vom Lateinischen "supremus", der „Höchste“. Demnach hätten die elementaren Formen die klare "Oberhoheit" über die Wirklichkeit, wobei Malewitsch mit den strengen Figuren keine kalte Sachlichkeit verbindet. Im Gegenteil: Für ihn sollen sie ein intensives Gefühl transportieren, das jeder unmittelbar erfassen könne. Es geht ihm um den Ausdruck einer neuen, höheren, umfassenden Wahrheit, die nicht verwässert wird durch die ablenkenden Details, den Ballast der gegenständlichen Welt. Malewitschs Formen haben fast etwas Religiöses.
Scheinbar alles ist nun möglich
Im Dezember 1915 ruft er zum Gottesdienst. Als Teil der Ausstellung "0,10" in einer Galerie in Petrograd, dem heutigen Sankt Petersburg, zeigt Malewitsch erstmals zahlreiche Werke, die seiner neuen ästhetischen Programmatik folgen. Doch das zentrale Objekt ist das "Schwarze Quadrat", das den Ehrenplatz eines Heiligenbildes bekommt. Mit der dortigen Reduktion auf nur eine, maximal schlichte Form treibt er die abstrakte Kunst, die das weitere 20. Jahrhundert prägen wird, auf die Spitze.
Für Malewitsch ist das Bild vor allem ein Neuanfang, nicht weniger als "der Keim aller Möglichkeiten". Entsprechend geht er drei Jahre nach seinem berühmten Schlüsselwerk sogar noch einen Tick weiter: mit seinem Bild "Weiß auf Weiß", das ein weißes Quadrat, kaum noch erkennbar, auf weißen Grund zeigt. Es ist wie das Ende jeglicher Darstellung – als größte Kunst.