Sie gilt als die Königin, die das Fundament für Englands Aufstieg zu einer globalen Macht legte: Elisabeth I., die letzte Herrscherin aus dem Hause Tudor. 1559 bestieg sie als 25-Jährige den englischen Thron, Zeit ihres Lebens herrschte sie allein, ohne Ehemann, ehrgeizig und kühl kalkulierend. Als die "jungfräuliche Königin" 1603, nach 44 Jahren auf dem Thron, starb, wurde Jakob VI. König, der Sohn ihrer einstigen Rivalin Maria Stuart.
Er war es auch, der den ersten offiziellen Bericht über Elisabeths Regierungszeit in Auftrag gab: Die "Annalen" des Historikers William Camden erschienen ab 1615. Sie zählen zu den wertvollsten Quellen über das frühneuzeitliche Großbritannien. Die British Library in London, Großbritanniens Nationalbibliothek, besitzt eine handschriftliche Urfassung.
Dutzende Stellen wurden überklebt
Allerdings: Das Manuskript wurde vor der Veröffentlichung stark verändert. Auf hunderten von Seiten sind Passagen überschrieben oder großflächig überklebt. Jeder Versuch, die Seiten aufzutrennen, hätte unweigerlich zu deren Zerstörung geführt. Was also verbirgt das mehr als 400 Jahre alte Dokument?
Expert*innen der British Library ist es nun durch ein hoch entwickeltes Bildbearbeitungsverfahren gelungen, die bislang unsichtbaren Passagen von Camdens Handschrift lesbar zu machen – und so neue Einblicke in die Regierungszeit der Königin zu gewinnen. Die ersten Ergebnisse legen nahe: Womöglich hat Camden sein Werk selbst zensiert oder umgeschrieben – um Elisabeths Nachfolger (und Camdens Auftraggeber) Jakob VI. in ein möglichst günstiges Licht zu rücken.
Dazu zählt beispielsweise die Erzählung, die kinderlose Elisabeth habe Jakob noch auf dem Sterbebett zu ihrem Nachfolger ernannt. So steht es in der überarbeiteten Fassung des Manuskripts. Eine Analyse der Stelle zeigt jedoch, dass die Szene auf dem Sterbebett ursprünglich so gar nicht vorkam, sondern nachträglich ergänzt wurde. Camden fügte sie vermutlich ein, um Jakobs Legitimierung als Thronfolger zu unterstreichen. Tatsächlich dürfte Elisabeth in ihren letzten Stunden zu krank gewesen sein, um zu sprechen.
Viel Stoff also für Historiker*innen, die nun wohl noch mehr Mythen aus Elisabeths Regierungszeit revidieren müssen. Die Mitarbeiter*innen der British Library hoffen außerdem, dass mithilfe der neuen Technologie viele weitere Manuskripte im Bestand der Bibliothek ihre Geheimnisse preisgeben werden.