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Raute Unterwegs mit Nepals Königen des Waldes: Aus einem Leben abseits der Städte und Konventionen

Martin Zinggl
Sie sind Nomaden, die letzten in ihrer Heimat, einst waren sie ein stolzes Volk. Heute leben die Raute oft von Staatshilfe. Den übrigen Einwohnern Nepals sind sie fremd geworden
Zwei Männer unterhalten sich
Zwei Raute-Männer unterhalten sich im Abendlicht eines nepalesischen Tages, ihr Gespräch führen sie in Khamci, einer Sprache die nur mündlich weitergegeben wird und nirgendwo schriftlich fixiert ist
© Kishor Sharma

Der Ethnologe

Kurz nach sechs Uhr früh zieht Man Bahadur Shahu nervös an seiner ersten Zigarette, knabbert gleichzeitig an trockenen Kokosnusskeksen und spült sie mit Wasser hinunter. Kumuluswolken hängen bedrohlich am Himmel, als wollten sie jederzeit platzen. In diesem Jahr ist der Monsun verspätet eingetreten, Nepal versinkt im Starkregen. Shahu, ein kleiner Mann mit hoher Stirn und gepflegtem Kurzhaarschnitt, marschiert zu jener Stelle, wo er das Lager der letzten nomadischen Jäger und Sammler Südasiens vermutet – die letzte Etappe einer dreitägigen Odyssee, die den Ethnologen von der Hauptstadt Kathmandu in ein verstecktes Tal in Westnepal geführt hat. In der Nähe des 1500-Seelen-Dorfes Bestada sollen seine Forschungssubjekte lagern: die Raute. Der Lebensraum der Nomaden beschränkt sich auf Westnepals Wälder, die sie seit Jahrhunderten durchstreifen. Darum sind sie ban ko raja, die Könige des Waldes.

Punkt sieben Uhr sticht die Sonne über die bewaldeten Hügel, beginnt ihre Reise über das Tal, durch das sich der Fluss Katti Khola schlängelt. Tiefe Schluchten, an deren Hänge sich Laub- und Nadelbäume krallen. Am Straßenrand trocknen Chilischoten, auf der Fahrbahn kleben zerquetschte Schlangen.

Mehrere Frauen stehen nebeneinander, eine raucht eine Zigarette
Zigaretten werden nicht mit Papier, sondern mit Blättern gedreht. Meistens rauchen die Frauen, die Männer bevorzugen Kautabak. Rauch ist auch in den Hütten allgegenwärtig: Von den Feuerstellen steigt er Richtung Zeltdecke, wer sich streckt, steckt mit dem Kopf im Dunst
© Kishor Sharma

Bei einer Abzweigung eine Menschentraube: neugierige Bewohner des nahen Dorfes. Durch ein Dickicht aus Bäumen, Stauden und Sträuchern spähen sie hangabwärts in das Lager der Raute: 144 Menschen, 46 Zelte, einige Ziegen und Hühner, dazwischen verkokelte Feuerstellen, aus denen Rauch aufsteigt. Axtschläge, gefolgt von Blätterrascheln und einem dumpfen Knall. Eine Gruppe junger Männer fällt Bäume, barfüßig und eingehüllt in beige-graues Leinen. Ernste Blicke, verfilzte Haare, auf ihren Köpfen steife, schwarze Hüte ohne Krempen. "Raute", ruft der Ethnologe, als hätte er ein Wildtier im Gebüsch erspäht.

Erschienen in GEO 01/2024