Frankenstein Mary Shelley: Die Frau, die ein Monster erschuf

  • von Carlotta Wagner
Die Schriftstellerin Mary Wollstonecraft Shelley
Kind berühmter Eltern, skandalös Liebende und die Schöpferin von Frankenstein: Schriftstellerin Mary Shelley
© Album / Fine Art Images / akg-images
Frankenstein feiert seinen Netflix-Start. Doch wer war die Frau, die eine der berühmtesten Horrorgestalten der Geschichte erschuf? Und war sie es wirklich? Die Geheimnisse der Mary Shelley

"Ich machte mich als Kind nicht zur Heldin meiner Geschichten", schrieb Mary Shelley einmal, "Ich konnte mir nicht vorstellen, dass romantische Leiden oder wunderbare Ereignisse je mein Schicksal sein sollten." Wie hätte sie in so jungen Jahren wissen sollen, dass sie mit 16 Jahren von Zuhause weglaufen würde? Dass sie durch ganz Europa ziehen, vier Kinder gebären und drei davon wieder verlieren sollte – und ein Werk über Schöpfer und Schöpfung schreibt, über das die Welt seit 200 Jahren spricht 

"Frankenstein oder Der moderne Prometheus" begründete das Genre der Science-Fiction und inspirierte zahllose weitere künstlerische Verarbeitungen, jetzt wurde der Stoff mit einem Budget von 120 Millionen Dollar erneut verfilmt. Shelleys Autorinnenschaft wurde lange in Frage gestellt, einen solchen Plot traute der Kulturbetrieb Frauen lange nicht zu. Das hätte Shelley ahnen können. Schon ihre Mutter hatte gesagt: "Ich wünsche Frauen keine Macht über Männer. Aber die Macht über sich selbst."

Ein junges Mädchen mit grauenhafter Fantasie 

Als 1831 die dritte Auflage erschien, bat der Verlag Mary Shelley um ein neues Vorwort zum Roman. Shelley, die sonst ungern über sich selbst schrieb, willigte ein, um "ein für allemal Antwort auf die Frage" geben zu können, die ihr so oft gestellt wurde: "Wie ich als noch junges Mädchen auf einen so entsetzlichen Gedanken verfallen und mich darüber so ausführlich auslassen konnte."  

Ihre Antwort: "Es ist durchaus nichts ungewöhnliches, dass ich als Tochter zweier literarischer Berühmtheiten schon sehr früh auf den Gedanken kam, zu schreiben." Tatsächlich waren ihre Eltern zwei der radikalsten Geister der englischen Aufklärung.  

Ihre Mutter Mary Wollstonecraft, Schriftstellerin und Frauenrechtlerin: In ihrem berühmtesten Werk "A Vindication of the Rights of Woman" fordert sie bereits 1792 gleiche Bildungschancen, wirtschaftliche Selbstständigkeit und politische Teilhabe für Frauen. Frauen seien Männern im Verstand nicht unterlegen – nur das Bildungssystem und die Gesellschaft hielten sie zurück.

Bei ihren Versuchen, sich aus diesen gesellschaftlichen Zwängen zu befreien, flieht sie nach Frankreich, nach einer enttäuschten Liebe zu einem Schweizer Maler, der sie nicht als zweite Partnerin in seiner Ehe akzeptieren wollte. Sie wird schwanger, von einer weiteren Affäre und bekommt eine Tochter: Fanny Imlay. Zurück in London trifft sie auf William Godwin, Mary Shelleys Vater.  

Sie verliebt sich in den Gleichgesinnten: William Godwin, Schriftsteller und Sozialphilosoph gilt mit seinem Hauptwerk "Enquiry Concerning Political Justice" als Begründer des Anarchismus in England. Er ist überzeugt: Der Mensch ist von Natur aus vernunftbegabt, nur Staat und Gesetze sorgen für das Übel in der Gesellschaft. An die Ehe glaubte er nicht.  

Und bricht doch bald mit seinen Prinzipien, als er Mary Wollstonecraft heiratet: Aus gegenseitiger intellektueller Bewunderung entsteht Liebe – und ein Kind, das seine Mutter das Leben kostet. Mary Wollstonecraft Godwin wird am 30. August in London geboren, ihre Mutter stirbt im Kindbett. 

Mary Shelley wächst in einer Patchwork-Familie auf 

Marys Vater Godwin steht allein mit zwei Töchtern da. Er beschließt wieder zu heiraten, eine Witwe, die einen Sohn und eine Tochter mit in die Ehe bringt. Mary wächst also einer Patchworkfamilie auf, nicht unüblich im frühen 19. Jahrhundert.  

Ihr Vater bildet sie und stellt schon früh hohe Ansprüche an das Kind – schließlich müsse es hochbegabt sein, bei den Eltern. Mit zehn Jahren schreibt Mary ihr erstes Buch, das ihr Vater anonym veröffentlicht. Noch lieber als zu schreiben, phantasiert das Mädchen: "Meine Träume gehörten mir allein, ich brauchte sie vor niemandem zu rechtfertigen, sie waren meine Zuflucht, wenn ich verärgert, mein höchstes Vergnügen, wenn ich unbeschäftigt war."

Diese Zuflucht ist wichtig, mit ihrer Stiefmutter kommt Mary nicht gut aus. Das Elternhaus ist nicht sehr herzlich – und dramatisch sind die Schicksale der drei jungen Mädchen von drei verschiedenen Vätern, die hier groß wurden.  

Der Beginn einer dramatischen Liebesgeschichte 

Fanny Imlay, Marys Halbschwester, begeht 1816 im Alter von zwanzig Jahren Selbstmord. Und Mary selbst läuft 1814, 16 Jahre alt, mit dem noch verheirateten Dichter Percy Bysshe Shelley davon. Die beiden kennen sich da erst zwei Monate, das Umfeld ihres Vaters hatte Mary und den jungen Schriftsteller zusammengebracht.  

Pery Shelley, 21, Aristokratensohn, ist rebellisch, politisch und Atheist weshalb man ihn aus Oxford warf. Er war bereits drei Jahre zuvor mit einem anderen Mädchen davongelaufen, hatte sie geheiratet, zwei Kinder mit ihr. Nun wird auch Mary von ihm schwanger.  

Gemeinsam mit Marys Stiefschwester Claire reisen sie durch Frankreich, Deutschland, die Schweiz und Holland. Zurück in England gebärt Mary im Februar 1815 ihre erste Tochter, die zwei Wochen später verstirbt. Der frühe Tod ereilt fast alle ihrer Kinder – auch ihren Sohn William, der ein Jahr später zur Welt kommt. Kurz darauf machen sich die Eltern auf den Weg nach Genf, wo das Monster Shelley zum ersten Mal in ihren Träumen besucht. 

Das Jahr ohne Sommer 

Es ist der Sommer 1816, ein Sommer, der kein Sommer war und der sie unsterblich machen sollte. Ein Jahr zuvor war der Tambora, ein Vulkan in Indonesien, ausgebrochen. Der Ausbruch, einer der größten der Menschheitsgeschichte, schickt eine riesige Aschewolke über die Welt, verändert das Klima. Der Winter kommt – und bleibt. Eine Kälte- und Unwetterwelle erfasst Europa, Dauerregen und Schneefälle bis in den Juli verdüstern die Welt, Ernten fallen aus, tausende Menschen sterben vor Hunger. 

An diesen dunklen Regentagen sitzen Mary Shelley, Percy Bysshe Shelley, der schon damals berühmte Dichter Lord Byron und der Schriftsteller John William Polidori vor dem Kamin beisammen, lesen sich Gespenstergeschichten aus Büchern vor, die sie in dem Sommerhaus fanden. Lord Byron schlägt einen Wettbewerb vor: Sie alle sollten jeweils eine Gespenstergeschichte schreiben. 

Mary sucht tagelang nach einer Geschichte, die "die geheimsten Ängste der menschlichen Natur ansprechen und Schauer des Entsetzens hervorrufen würde", eine Geschichte, die es mit denen der Männer aufnehmen konnte. Oft schon hatte sie die Gespräche von Lord Byron und Percy Shelley verfolgt, eine "andächtige, aber meist schweigsame Zuhörerin."

Das Monster sucht sie in ihren Träumen auf

Eine Unterhaltung zu Dr. Darwins Experimenten lässt sie dabei nicht los: Dieser habe ein Stück Regenwurm so lange in einem Reagenzglas aufgehoben, bis es sich bewegte. So würde wohl kein Leben entstehen – aber was war mit Galvanismus, der kurz zuvor entdeckten mysteriösen Kraft, die Muskeln dazu bringt, sich zu bewegen? Was, wenn man Einzelteile eines Menschen zusammensetzen und ihnen Leben einhauchen würde? 

Frankenstein wie er sein Monster erschafft im neuen Netflix-Film Frankenstein
FRANKENSTEIN. (L to R) Oscar Isaac as Victor Frankenstein and Jacob Elordi as the Creature in Frankenstein.  Cr. Ken Woroner/Netflix © 2025.
© Ken Woroner / Netflix 2025

"Ungebeten hatte meine Fantasie völlig Besitz von mir ergriffen", schreibt Mary Shelley. Sie sieht ihn vor sich, als sie abends im Bett liegt, einen Mann, der Leben geschaffen hatte, grausames Leben, sie sah Frankenstein. Sie sah, wie er einschlief. 

Etwas weckte ihn auf, das Wesen, das er geschaffen hatte, stand an seinem Bett, sah ihn mit gelben, wässrigen, aber forschenden Augen an. "Entsetzt öffnete ich die Augen. Die Vorstellung nahm mich so gefangen, dass mich ein Angstschauer überlief", schreibt Shelley.

Mit 18 Jahren also verfasst sie die Geschichte des Monsters: Der von der Idee einer eigenen Schöpfung besessene Wissenschaftler Viktor Frankenstein schafft ein Wesen aus Leichenteilen, das er jedoch wegen seiner Hässlichkeit schnell verstößt. Das anfangs gutmütige Monster wird einsam und wütend, es ermordet Viktors Angehörige und Freunden. Viktor schwört Rache und verfolgt das Monster bis in die Arktis – wo er schließlich selbst stirbt.   

Das Poster zum Netflix-Film Frankenstein
© Frankenstein / Netflix 2025
Trailer: Frankenstein
© Trailer: Netflix / Frankenstein

Nur Mary Shelley und John Polidori beenden in jenem Genfer Sommer ihre Geistergeschichten, Byron und Percy, die großen Dichter, schaffen das nicht. Shelley verfasst so den ersten Science-Fiction-Roman, Polidori ebnet mit seiner Kurzgeschichte "Der Vampyr" auch dem Grafen Dracula den Weg bevor er sich das Leben nimmt.

Als das Paar nach London zurückkommt, wird die schwangere Harriet Shelley, Percys Ehefrau, tot im Hyde Park gefunden – Selbstmord. Zwei Wochen später heiraten Percy und Mary. 

Im Mai schließt Mary Shelley Frankenstein ab, nur vier Monate später wird ihre Tochter Clara geboren. Im Jahr 1818 wird der Roman veröffentlicht, zunächst anonym, dass Frauen Bücher schrieben, galt damals als kaum möglich. Vor allem nicht bei einer solchen Geschichte: Ein junges Mädchen soll über Forscherhybris und Wissenschaftsethik geschrieben haben? Nur eine Widmung an William Godwin, Marys Vater, stellt eine Verbindung her. Da der begüterte Percy Shelley Godwin bisher finanziell unterstützt hatte, mehren sich nun die Gerüchte, er könne der Autor gewesen sein. 

Eine Debatte, die bis heute andauert. Noch 2007 veröffentlichte John Lauritsen das Buch "The Man Who Wrote Frankenstein", in dem er Mary Shelleys literarische Reife anzweifelte und Percy Shelley als dominante Kraft beschrieb. Eine Analyse von Forschenden der Universität Edinburgh belegte 2023 das Gegenteil. Mittels einer computergestützten Stilometrie bestätigten sie den wissenschaftlichen Konsens: Mary Shelley ist die Autorin von "Frankenstein". 

Das Herz in der Schreibtischschublade

Nach der Veröffentlichung reist das Paar nach Italien, wo sie weiter in literarischen Kreisen verkehren. Die Kinder Clara und William versterben innerhalb weniger Monate. Mary Shelley beginnt ihr nächstes Buch "Matilda", eine schaurige Novelle über Selbstmord und Inzest, die erst 1959 veröffentlicht werden wird. 

Am Ende des Schreibens bringt sie im November 1819 Percy Florence zur Welt, den Sohn, der als einziges ihrer Kinder seine Mutter überleben wird – und seinen Vater. Mary verliert bei einer Fehlgeburt im Juni 1822 so viel Blut, dass sie fast stirbt.

Mary Shelleys Mann stirbt einen Monat später bei einem Bootsunglück. Es hält sich die Erzählung, dass seine angeschwemmte Leiche nicht vollständig verbrannt wurde – und Mary Shelley sein Herz ihr Leben lang in ihrer Schreibtischschublade aufbewahrte. 

Die Autorin als Versorgerin der Familie 

Nach dem Tod ihres Mannes kehrt Mary Shelley nach London zurück, widmet sich der Erziehung ihres einzigen Sohnes und arbeitet intensiv als Herausgeberin der letzten Werke ihres Mannes – sowie als Schriftstellerin. Sie veröffentlicht mehrere Romane, darunter "Valperga", "The Last Man" und "Falkner". 

Am 1. Februar 1851 stirbt Mary Shelley, vermutlich an einem Hirntumor, sie wurde nur 53 Jahre alt. Sie wird bei ihren Eltern begraben – den Menschen, die sie schufen.

In ihren Erzählungen lebt Mary Shelley bis heute weiter. Ihre Frankenstein-Geschichte wurde unzählige Male verfilmt, diese Woche startet eine neue 120-Millionen-Dollar-Produktion auf Netflix. Einige Rezensionen feiern den Film als komplexes Vater-Sohn-Schauermärchen. Wer Shelleys Biografie kennt – die einer Frau, die ihrer Mutter unfreiwillig das Leben nahm, es ihren Kindern schenkte und doch fast alle von ihnen wieder verlor – fragt sich jedoch: Ist es nicht eigentlich eine Horror-Geschichte über Mutterschaft?