Arktis-Expedition Forschungsschiff "Polarstern" kehrt vom Nordpol zurück – mit einer guten Nachricht

Arktis-Expedition: Die "Polarstern" ließ sich im Rahmen der MOSAiC-Expedition ein Jahr lang im arktischen Ozean. Aktuell ist der deutsche Forschungseisbrecher wieder im hohen Norden unterwegs.
Die "Polarstern" ließ sich im Rahmen der MOSAiC-Expedition ein Jahr lang im arktischen Ozean. Aktuell ist der deutsche Forschungseisbrecher wieder im hohen Norden unterwegs.
© Esther Horvath / Alfred-Wegener-Institut
Eine Anomalie im Wetter hat das Eis der Arktis vor der Rekordhitze dieses Sommers geschützt. Das bestätigt eine Expedition des deutschen Eisbrechers "Polarstern" im Nordpolarmeer. Welchem Phänomen wir das zu verdanken haben, erklärt Fahrtleiterin Antje Boetius im Interview

Derzeit fährt der deutsche Forschungseisbrecher "Polarstern" mitten durch den arktischen Ozean und hat auch den Nordpol erreicht – aber Eis brechen musste er dafür kaum, so dünn war die weiße Decke. Trotzdem hätte der Hitzesommer 2023 viel Schlimmeres bringen können. Verhindert hat das eine Anomalie im Wetter, wie Antje Boetius erzählt. Sie ist Direktorin des Alfred-Wegener Instituts für Meeresforschung und als Fahrtleiterin mit an Bord.

Die Fahrt soll die Erkenntnisse der MOSAiC-Expedition vertiefen, die vor genau vier Jahren in Tromsö startete und sich ein Jahr lang im arktischen Ozean treiben ließ. Damals waren die Forschenden erschüttert über den Zustand des Eises am Nordpol: Sie fanden zersplitterte Schollen und durchweichtes Eis, löcherig wie ein Schwamm. Wie sieht es heute am Nordpol aus?

GEO: Die "Polarstern" ist gerade auf dem Rückweg, vor zwölf Tagen hat sie den Nordpol erreicht. Wie ist die Situation am nördlichsten Punkt der Erde? 

Antje Boetius: Auf diese Vermessung des Nordpols haben wir uns sehr gefreut. Wir haben uns zeitgleich Wetter, Eis, Ozean und Tiefseeboden angeschaut. Dank unserer Beobachtungen und im Abgleich mit Zeitreihen können wir dieses Jahr sogar schon einordnen: Obwohl die Erde einen der heißesten Sommer aller Zeiten erlebt hat, blieb das Eis der Arktis insgesamt durch eine Anomalie im Wetter einigermaßen geschützt. Das saisonale Meereisminimum ist daher niedriger als in den vergangenen zwei Jahren, aber nicht extrem. 

Was ist das für eine Anomalie? 

Eine Kette von Tiefs hat sich über die Arktis gelegt, die die Zirkulation der Transpolardrift veränderte. So blieb das Eis auf dem sibirischen Schelf zusammen und wurde nicht in warmes Wasser weiter westlich transportiert.

Arktis-Expedition: Antje Boetius ist Direktorin des Alfred-Wegener Instituts für Meeresforschung und als Fahrtleiterin mit an Bord der "Polarstern"
Antje Boetius ist Direktorin des Alfred-Wegener Instituts für Meeresforschung und als Fahrtleiterin mit an Bord der "Polarstern"
© Ragnar Axelsson, Ilulissat Grönland / Alfred-Wegener-Institut

Das klingt erstmal wie eine gute Nachricht.

Ja, es hätte auch anders kommen können. Dann hätten wir – wie es von Eismodellierern vorhergesagt war – ein neues dekadisches Meereisminimum erlebt. So, wie während der MOSAiC-Expedition im Sommer 2020. Dieses Mal haben wir eine völlig andere Landschaft vor uns als damals. Es gibt zum Beispiel fast keine Schmelztümpel auf dem Eis, es hat ungewöhnlich viel Schnee und starke Schmelzspuren von unten. Aber auch wenn die Schollen so im Durchschnitt etwas dicker waren als zuvor, mussten wir fast kein Eis brechen und sind unglaublich schnell zum Nordpol gelangt. Es gibt auch sehr wenig Leben im Eis und daher kaum Nahrungseintrag in die tieferen Meeresschichten. Weil die Eisalgen fehlen, die sonst die Landschaft von unten prägen. 

Was bedeutet das?

Dass das Meereis und seine Rolle für das Leben in der Arktis variabler wird, weniger vorhersagbar. Und: Veränderungen wirken in der Arktis extrem schnell von der Oberfläche bis in die Tiefsee und setzen sich in alle Bereiche des Lebens fort.

Was genau untersuchen die Forschenden auf dieser Fahrt?

Wir vermessen alle Stockwerke des arktischen Ozeans gleichzeitig. Wir schauen in der Tiefsee den Seegurken beim Grasen zu, bestimmen, wie sich das Meerwasser zusammensetzt und messen die Meereisdicke darüber. Das alles sind Messungen, die man nicht vom Satelliten aus machen kann, für die man vor Ort sein muss.

Vor genau vier Jahren ist der AWI-Forschungseisbrecher zu MOSAiC gestartet, der größten Arktisexpedition aller Zeiten. Treten Sie damit in deren Fußstapfen?

Die MOSAIC Expedition war eine ganzjährige Drift-Expedition und daher anders als diese Expedition, die sehr große Bereiche der Arktis untersucht und verglichen hat. Wir sind aber auch in die MOSAiC-Startregion gefahren und haben uns noch einmal die Übergangsphase angeschaut – zum Ende des Sommers, wenn es gleichzeitig Gefrier- und Schmelzprozesse gibt. So können wir verschiedene Jahre unter ihren klimatischen Bedingungen miteinander vergleichen. Wir brauchen solche Zeitreihen: Nur so können wir verstehen, wie sich das Meereis verhält.

Wenn Sie zurückblicken: Was ist von MOSAiC geblieben?

MOSAiC ist noch in vollem Gange! Nur die Driftexpedition endete 2020, die internationalen Teams arbeiten seitdem eng zusammen, um ihren gigantischen Datenschatz zu veröffentlichen. Ziel ist es, die Vorhersageparameter für das Zusammenspiel von Atmosphäre, Eis und Ozean zu verbessern. Die arktische Region ist Teil unserer Wetterküche in Europa. Nur wenn wir verstehen, was hier passiert, werden wir zum Beispiel die Chance haben, Extremwetter vorherzusagen. Und darin müssen wir viel besser werden. 

Fast gleichzeitig ist auch der Eisbrecher "Xue Long 2" zum Nordpol gereist, im Auftrag des chinesischen Ministeriums für Naturressourcen. Gab es so etwas wie einen Wettlauf? 

Nein, wir hatten keinen Kontakt, aber hörten davon. Zwischen Forschungsschiffen gibt es keinen Wettlauf am Nordpol – früher war man ohnehin zu zweit unterwegs, damit ein Schiff das Eis brechen kann, falls das andere feststeckt. Dass Schiffe alleine zum Nordpol fahren, ist eine Konsequenz des Klimawandels und des Abschmelzen des Eises, das wäre sonst schwer möglich. Auch Kreuzfahrtschiffe fahren zum Nordpol, einem sind wir begegnet. Wenn es da Überschneidungen gäbe, wäre das einfach zu klären.

China will "Großmacht in der Arktis" werden und eine "polare Seidenstraße" aufbauen. Die US-Marine schickt mehr Schiffe in die Region, das Pentagon hat eine eigene Arktis-Abteilung eingerichtet. Und Russland hat gerade Öltankern zum ersten Mal die Erlaubnis erteilt, auf der Nordostpassage nach China zu fahren. Muss man sich deswegen Sorgen um die Arktis machen?

Ja, weil der Schiffsverkehr wächst – auch die Kreuzfahrt. Man muss sich um die Arktis Sorgen machen und um die Menschen auf den Schiffen. Noch gibt es keine Hafeninfrastruktur, keine Rettungsdienste, keine Ölbekämpfungsschiffe im Arktischen Ozean. Das ist ein Riesenproblem, denn eine Rettung im Notfall kann mehrere Tage dauern. Kommt es zu einem Unfall, gibt es außerdem keine Methode, ausgelaufenes Öl unter dem Eis wieder einzufangen. Wir bezeichnen die Arktis als sensitives Ökosystem, weil ein hoher Anteil der Arten endemisch ist: Sie kommen nur dort vor und kein zweites Mal auf der Erde. Auf dieser Fahrt untersuchen wir etwa Seeberge, die von einer einzigartigen Lebensvielfalt besiedelt sind. Hat man Pech und ein Unfall trifft solche Gebiete, kann das eine ganze Gemeinschaft auslöschen. 

Würde mehr Schiffsverkehr die Arktis nicht in jedem Fall verschmutzen?

Es sind immer noch sehr wenige Schiffe hier unterwegs und es gelten strengere Regeln als anderswo. Schlimm ist derzeit eher die Fernwirkung: von Stoffen, die über Flüsse, Meeresströmungen oder die Atmosphäre hierher gelangen. Es regnet Plastikpartikel mit dem Schnee herunter, dieses Jahr haben wir sogar die erste Plastiktüte gefunden. Ein sehr großes Problem sind toxische Stoffe wie Quecksilber und nichtabbaubare Chemikalien, die hierher transportiert werden, sich in den Nahrungsketten anreichern und Tiere und die Gesundheit der indigenen Völker rund um die Arktis bedrohen. 

Also bedroht der Rest der Welt die Arktis mehr, als wenn ein paar Länder dort ihre Interessen verfolgen?

Das ist schwer voneinander zu trennen, denn es passiert gleichzeitig. Beides hängt mit dem Energiehunger und umweltschädlichen Subventionen zusammen. Die größte Bedrohung ist die Klimaerwärmung, durch die pro Dekade 13 Prozent des Meereises verloren gehen, aber auch Permafrost und Eismassen an Land tauen. Natürlich sollte man auch die geostrategischen Aktivitäten betrachten. Wird die Arktis zu einer Verkehrsstraße oder einem Zivilisationsraum, wird es darum gehen, wem welche Wege gehören, wer den Zugang reguliert und wer wo Forschung machen darf. Wir haben derzeit schon das Problem, dass der Zugang zu fast einem Drittel der Arktis für uns verschlossen bleibt, weil wir keine kooperative Situation mehr mit Russland haben, wegen des Angriffskrieges auf die Ukraine. Es bleibt eine wichtige Frage, wie Wissenschaft und wie Nationen in einem so sensiblen Raum zusammenarbeiten können. Wir müssen sie immer wieder stellen.