Achtsames Atmen So verbessert verlangsamtes Luftholen unsere Hirnfunktionen

  • von Astrid Viciano
Sylvain Laborde zeigt Atemübung
15 Minuten lang kontrolliert in sechs Zyklen zu atmen hilft Sylvain Laborde, sich abends zu entspannen und besser einzuschlafen
© Marcel Maffei
Immer mit der Ruhe: Langsames, kontrolliertes Luftholen hat enorm positive Auswirkungen auf zahlreiche mentale Prozesse, wie der Sportwissenschaftler Sylvain Laborde herausgefunden hat. Spezielle Atemtipps können helfen, Schlafprobleme, Stress oder Müdigkeit zu überwinden

Als kleines Kind rang Sylvain Laborde häufig nach Luft. Schon früh in seinem Leben musste der Psychologe und Sportwissenschaftler erfahren, dass er wegen seines Asthmas nicht so schnell und nicht so stark sein konnte wie seine Freunde. Aus diesem Grund kämpfte er immer wieder darum, seine Atmung zu verbessern. "Das beschäftigt mich bis heute", erklärt Laborde, der an der Deutschen Sporthochschule in Köln forscht.

Längst geht es ihm jedoch nicht mehr nur darum, seinen eigenen Körper mit genügend Sauerstoff zu versorgen. Mittlerweile hat er in einer Vielzahl wissenschaftlicher Studien untersucht, wie sich langsames, kontrolliertes Atmen auf die Gesundheit auswirkt. Erwachsene beispielsweise holen normalerweise zwölf- bis zwanzigmal pro Minute Luft – das summiert sich auf etwa 20 000 Atemzüge pro Tag.

Langsames Atmen aktiviert den Vagusnerv

Was aber geschieht, wenn ein Mensch seine Atmung verlangsamt und nur noch sechsmal pro Minute Luft holt? Das hat Laborde mit Freiwilligen getestet. Seine Probanden sollten dann jeweils vier Sekunden lang einatmen und sechs Sekunden lang ausatmen.

"Es ist sehr wichtig, dass die Ausatemphase länger ist als die des Einatmens", so Laborde. Das aktiviert den Vagusnerv, einen Nerv des autonomen Nervensystems, der im Hirnstamm entspringt und viele Körperfunktionen herunterfährt, unter anderem auch den Herzschlag. "Für mich ist der Vagusnerv eine Art Superheld", sagt der Psychologe. In einer spanischen Studie an Hundertjährigen zeigte sich zum Beispiel, dass bei ihnen der Vagusnerv besonders aktiv war.

So verbessert der aktivierte Nervenstrang etwa die Gehirnfunktion, berichteten Laborde und Kollegen im "Journal of Psychophysiology". Die Probanden, die 15 Minuten lang besagte Atemtechnik angewendet hatten, schnitten in kognitiven Übungen besser ab als andere: Sie ließen sich weniger ablenken und konnten schneller neue Anweisungen umsetzen. "Die langsame, kontrollierte Atmung wirkt sich also positiv auf unsere Hirnfunktion aus", erklärt Laborde. Vermutlich, weil sich die Informationsübertragung in den zuständigen Netzwerken des Gehirns beschleunigt.

Auch das Gefühlszentrum im Gehirn profitiert

Auch dämpft das langsamere Atmen vermutlich den Mandelkern, also jenes Gefühlszentrum des Gehirns, das bei depressiven Patienten überaktiv ist. Wie Forschende der Universität Graz im Jahr 2020 berichteten, ging es ihren depressiven Probandinnen und Probanden nach fünf Wochen mit der üblichen Standardtherapie plus Atemübungen deutlich besser als denjenigen, die das gezielte Atemtraining nicht durchgeführt hatten.

Sylvain und Praktikantin Pauline beim Belastungstest
Um ihre Leistung zu steigern, können Sportlerinnen und Hobbyathleten eine bestimmte Atemtechnik verwenden, fand Sylvain Laborde bei Experimenten mit Freiwilligen heraus
© Marcel Maffei

Inzwischen konnte der Psychologe in einer Studie außerdem zeigen, dass Atemübungen die Impulskontrolle bei erschöpften Sportlern deutlich verbessern können. Dann wäre es, davon ist Laborde überzeugt, auch nicht zu dem legendären Kopfstoß des französischen Nationalspielers Zinédine Zidane gegen einen italienischen Spieler im Endspiel der Fußballweltmeisterschaft 2006 gekommen. Der Fußballstar sei in der Situation gestresst und erschöpft gewesen. "Die Fähigkeit des Gehirns, die Impulse zu kontrollieren, war nicht mehr gegeben", erläutert Sylvain Laborde.

Wenn Sportler vor einem Wettkampf oder in Pausen Atemübungen praktizieren, könnte das womöglich dazu beitragen, dass Wettkämpfe künftig fairer ablaufen.

ATEMTIPPS

Was hilft gegen Stress?
Dafür sollte man langsam und kontrolliert atmen, in nur sechs Atemzyklen pro Minute. Das Einatmen sollte vier Sekunden dauern, das Ausatmen dagegen sechs. Wichtig ist es, in den Bauch zu atmen, zur Kontrolle kann man eine Hand auf den Brustkorb legen, um sicherzugehen, dass er sich nicht bewegt. Die Luft sollte am besten durch die Nase eingesogen werden, dann ist sie sauberer, wärmer und feuchter. 15 Minuten lang derart kontrolliert zu atmen hilft, sich abends nach der Arbeit zu entspannen und schneller einzuschlafen.

Können Atemübungen auch gegen Schläfrigkeit helfen?
In dem Fall hilft es, schnell zu atmen, etwa 30 Atemzüge, eine Minute lang. Dann ist man sofort wach, aktiv und kann sich besser konzentrieren. Gerade nach dem Mittagessen kann dies die übliche Schläfrigkeit lindern, im besten Fall sogar den Kaffee ersetzen. Das Einatmen und Ausatmen sollte dabei gleich lang sein und immer jeweils eine Sekunde dauern. Manche schaffen es, sogar 60- bis 120-mal pro Minute zu atmen, das nennt man dann "breath of fire", also Feueratmung. Aber das ist Laien sicher nicht zu empfehlen, weil es dann zu Symptomen wie Schwindel, Herzrasen und Engegefühl im Brustkorb kommen kann.

Wie bekommt man tagsüber den Kopf frei?
Dafür sollte man eine Schüssel mit kaltem Wasser bereitstehen haben. Zwischendurch ist es nämlich sehr erfrischend, das Gesicht ins Wasser zu tauchen und die Atmung anzuhalten – so lange, wie man es schafft. Sofort schlägt das Herz langsamer und kräftiger. Das Ganze wirkt auf den Menschen so ähnlich wie ein Neustart am Computer. Je länger es gelingt, die Luft unter Wasser anzuhalten, desto größer der Effekt. Vorher eine Zeit lang schnell zu atmen erlaubt es, den Atem im Anschluss länger anzuhalten. Dem Niederländer Wim Hof gelang es mithilfe solcher Atemübungen, fast zwei Stunden lang in Eiswasser zu baden. Zu Anfang sollte man es mit dem Luftanhalten allerdings nicht übertreiben.

Wie können Sportler Atemübungen nutzen?
Zum einen können sie spezielle Geräte verwenden, bei denen sie gegen einen Widerstand einund ausatmen. Das trainiert die Atemmuskulatur und steigert so die Leistung. Im Wettkampf dagegen kann die langsame, kontrollierte Atmung helfen, Nervosität abzubauen. Die schnelle, kurze Atmung dagegen aktiviert den Sportler und macht ihn hellwach.

GEO WISSEN Gesundheit Nr. 21 (2022)