Lebenskunst Die Psychologie des Herbstes: Was wir jetzt durch Innenschau gewinnen

Frau vor roten Herbstblättern mit Wolke vor dem Gesicht
Kopf in den Wolken: Der Herbst eignet sich, um loszulassen - und nichts zu tun 
© FRANCESCO CARTA / Getty Images
Die Sommertage sind vorüber, der Herbst ist da. Was die Jahreszeit mit unserem Innenleben macht – und warum das so wertvoll ist 

Plötzlich ist er da, der Moment: Der Sommer kippt in den Herbst. Morgens und abends liegt plötzlich ein anderer Geruch in der kühlen Luft. Torfig, modrig, manchmal riecht es auch süß nach reifen Äpfeln, wenn ich an der Hecke zum Kirchgarten vorbeischlendere. Das Licht ist anders, klar, und da ist diese eigenartige Stimmung am Kipppunkt der Jahreszeiten. Irgendwo zwischen Melancholie und Gemütlichkeit. 

Ich mag es zwar, wenn die Lampions an milden Frühabenden in den Bäumen leuchten, durch die schon ein kleiner Windhauch fährt. Wenn Cafés Laternen nach draußen rücken und Besucher noch ein letztes Mal in die Herbstnacht hinaus lachen. Es ist eine Stimmung irgendwo zwischen Wohligkeit und Abschied. Doch: Der Herbst schickt uns zugleich das Signal, mehr als die Hälfte des Jahres ist vergangen. Wieder ein Jahr geht vorüber. Was ist aus deinen Plänen geworden? Was aus dir selbst? Wie war das Jahr eigentlich? Ein Schrecken weht uns an. Endlichkeit auch. Und genauso, wie wir jetzt wieder in Innenräumen sitzen, ins Theater gehen, so bewegt sich auch der Blick nach Innen. 

Die Blätter fallen, die Sommerhitze weicht der Kühle – und im Grunde genommen ist dies phänomenologisch die beste Jahreszeit, das eindrücklichste Signal, um Dinge loszulassen. Allen voran natürlich unser verwegenes und flockig-leichtes Sommer-Ich. Jenes, das von Picknick zu Bootsfahrt tänzelte. Das auf dem Balkon grillte, im Biergarten lachte und mückenumschwirrt am Steg saß, das seine Runden im Freibad zog, die Zehen in den Sand bohrte. Das gutes Essen genoss, Eis schleckte, Wein und Aperol trank. Doch auch dieses üppige Genießen, wie der Philosoph Wilhelm Schmid sagte, macht auf Dauer nicht glücklich, es überfordert. Es braucht das andere, die Askese, die Ernsthaftigkeit, das Leise und Stille, um zu verzaubern. Genauso hat das Jahr sein Maß. Wer würde schon einen ewigen Sommer ertragen? Eben. 

Ernten bedeutet Bestandsaufnahme 

Auf den Aufschwung von Frühling und Sommer kommt der Abschwung im Herbst. Unser Ich braucht Philosophen zufolge diese Rhythmik. Auf Licht und verschwitzte Sommertage folgen Schatten, Kühle und Nebel. Aber keinesfalls ist das nur ein melancholisches Loslassen und Runterfallen: Der Herbst erntet zugleich auch, fängt einiges auf, fährt unsere Resultate und Früchte ein. Blätter liegen nicht nur matschig auf den Gehwegplatten, sondern leuchten auch golden und in purpurrotem Stolz von berankten Hauswänden.

Ernten bedeutet psychologisch Bestandsaufnahme des Jahres. Wie war mein Frühjahr, wie war mein Sommer? Wer Innenschau hält und reflektiert, kann nützliche Bilanz ziehen. Was waren die Erfahrungen des Jahres, was die Tiefpunkte, welche Streitereien gab es, welche Erkenntnisse, was war der berührendste Augenblick in der Natur? Im Job? Welche Freunde haben mich überrascht, mir geholfen oder mich so richtig enttäuscht? Die negativen Erfahrungen: let it go. Psychologen empfehlen, sie wie Herbstblätter auf einem Fluss innerlich davontreiben zu lassen, zu genießen, wie ihre Macht über uns schwindet. Alte Ziele, Pläne, alte Wut, all der Mist und Ballast kann gehen. 

Was passiert da aber genau mit unserem herbstlichen Innenleben? Die Leichtigkeit der Sommertage ist definitiv vorbei, mit den Wollpullis und der hervorgeholten Tageslichtlampe zieht auch eine neue Ernsthaftigkeit ein. Langzeitstudien von Sozialpsychologen konnten zeigen, dass Menschen sich ab dem Herbst mehr nach konservativen Bindungswerten sehnen, einem Partner, ja dass sie sogar moralischer in ihren Urteilen und zugleich fairer werden, wenn sie sich in ihren Herbstbau zurückziehen. Die Forschenden brachten das mit saisonal erhöhten Angstwerten zusammen, die nach mehr Zusammenhalt suchen ließen als im Sommer. Und in Rainer Maria Rilkes elegischem Gedicht "Herbsttag" heißt es: Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben. Wird in den Alleen hin und her unruhig wandern, suchen, Briefe schreiben. 

Jahr und Selbst haben ein eigenes Tempo 

Das klingt nach düster-prophetischer Endzeitstimmung – und nach romantischer Sehnsucht. Das schwindende Licht färbt ganz sicher auf unser Inneres ab, das nachdenklicher wird, ruhiger. Sogar unser Gehirn zeigt im Magnetresonanz-Scan nachweisbar im Herbst Bestleistungen, wenn es um den Bereich Gedächtnisarbeit geht. Was für ein Gewinn! Man setzt sich hin, lässt Erlebtes Revue passieren. Entweder stellt sich die Einsicht ein, alles ist perfekt so, wie es ist. Oder der Mensch im Herbst merkt im Rückspiegel, dass er irgendwo neu abbiegen möchte – in der Beziehung, im Job, im Alltag knirscht es vielleicht schon lange, ein Burn-out kündigt sich in der Ferne an. Eigentlich wollen wir doch noch etwas ganz anderes beginnen. 

Das müde, träge gewordene Herbst-Ich muss sich jetzt aber keineswegs sofort optimieren, neu justieren und erneut mit Plänen bis zum Jahresfinale traktieren. Wer wollte schon jetzt in der Herbstmüdigkeit neu starten, sich ekstatisch neu motivieren, ja neu erfinden? Jetzt ist Pause. Schließlich haben Jahr und Selbst ein eigenes Tempo. Nein, das Herbst-Ich braucht rein gar nichts zu tun. Es kann Tee trinken, Kekse knabbern, die Apfelzimt-Duftkerze anzünden, die Lichterkette im Schrank suchen, seine Bücherliste abarbeiten. Allein die Erkenntnis wird in den Wintermonaten weiterarbeiten, den Winter-Blues begleiten. Und im Januar schmieden wir dann einfach euphorisch neue Pläne – schwingen uns zu neuen Ideen auf, um im kommenden Herbst am Kipppunkt des Jahres in die Stille kurz zu erschrecken, und die Decke enger um unser verwundbares Herbst-Ich zu ziehen.