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Reizdarmsyndrom "Eine Heilung gibt es nicht - aber wirksame Mittel gegen die Symptome"

Reizdarm
Priv.­ Doz. Dr. Miriam Goebel­-Stengel ist leitende Oberärztin für Innere Medizin und Gastroenterologie an der Helios Klinik Rottweil und 1. Vorsitzende des Informationsforums für Magen­-Darm­-Erkrankungen MAGDA
 
© peterschreiber.media / Adobe Stock
Ein gereizter Darm kann die Lebensqualität extrem beeinträchtigen, sagt die Expertin Dr. Miriam Goebel-Stengel. Oft hilft es herauszufinden, ob die Ernährung dafür verantwortlich ist

GEO WISSEN: Frau Dr. Goebel-Stengel, ist der Eindruck richtig, dass immer mehr Menschen unter dem Reizdarmsyndrom leiden?

Dr. Miriam Goebel-Stengel: Das ist schwer zu sagen – ich vermute, es ist oft auch eine Frage der Wahrnehmung. Die Menschen achten eben heutzutage mehr auf ihre Körperfunktionen und empfinden Dinge als unangenehm, die vielleicht vor einigen Jahrzehnten noch als normal galten. Flapsig gesagt: Wenn früher jemand häufig Blähungen hatte, hatte er halt Blähungen. Heute aber wird das vermehrt als störend und als soziale Einschränkung empfunden. Derzeit ist es so, dass rund 50 Prozent aller Patienten, die eine gastroenterologische Praxis aufsuchen, an reizdarmtypischen Symptomen leiden. Weltweit sind es rund zehn Prozent der Bevölkerung.

Würden Sie in vielen Fällen sagen: Stell dich nicht so an?

Nein, keineswegs. Es gibt ja kein objektives Kriterium dafür, ob eine Körperwahrnehmung für den Betroffenen belastend ist oder nicht. In vielen Fällen schränkt ein unbehandeltes Reizdarmsyndrom die Lebensqualität sogar stärker ein als beispielsweise eine Diabeteserkrankung oder chronisches Nierenversagen.

Was meinen Sie konkret?

Wenn jemand ständig auf die Toilette gehen muss oder immer wieder Blähungen bekommt, geht der irgendwann viel- leicht nicht mehr auf Partys, weil ihm das peinlich ist. Und gegessen wird dann nur noch daheim, denn viele Betroffene reagieren empfindlich auf bestimmte Nahrungsmittel oder bekommen Beschwerden, wenn sie etwas nicht selbst kochen oder nicht ganz genau wissen, was in ihrem Essen enthalten ist.

Und dann gibt es noch jene Patienten, die über lange Zeiträume starken Durchfall haben und sich nun ständig darauf konzentrieren zu überlegen: Wo ist die nächste freie Toilette? Die trauen sich nicht, mit dem Zug zu fahren, in eine Theatervorstellung oder ins Fußballstadion zu gehen. Gerade für Jugendliche oder junge Erwachsene, die eigentlich in einer sehr aktiven Lebensphase sind, kann das geradezu dramatisch sein.

Gibt es viele Menschen, die schon in diesem jungen Alter an Reizdarm erkranken?

Wir haben inzwischen tatsächlich sehr viele jüngere Patienten. Oft sind es Menschen, die gerade in einem sehr mit Stress besetzten Lebensabschnitt stecken, mit Studium oder dem Einstieg ins Arbeitsleben, mit Partnerschaft, Familiengründung und Aufbau der eigenen Existenz. Und Stress verstärkt nun einmal all die Symptome eines Reizdarmsyndroms.

Und Sie können den Patienten auch kaum Hoffnung auf Heilung machen.

In der Tat können wir leider keine Heilung versprechen, wohl aber eine Symptomlinderung. Bei der Diagnostik und Behandlung des Reizdarmsyndroms gibt es derzeit keine großen Durchbrüche. Und es beschäftigen sich auch viel zu wenig Ärzte klinisch mit dem Krankheitsbild – was unter anderem daran liegt, dass ausführliche Patientengespräche sehr schlecht vergütet werden. Dabei haben die Betroffenen aus guten Gründen einen großen Gesprächsbedarf.

Kann man sich das Reizdarmsyndrom auch herbeiessen – nämlich durch eine falsche Auswahl von Nahrungsmitteln?

Das ist in der Tat so. Ich verbringe sehr viel Zeit damit herauszuf inden, welche Nahrungsmittel meine Patienten wie zu sich nehmen. Wie sich herausgestellt hat, verzichten viele auf das Frühstück, sie essen erst um elf oder zwölf Uhr, und oft nur Obst, nichts anderes. Dann stellen sich prompt die Beschwerden ein.

Was genau sind die Probleme dabei?

Die verursacht vor allem der Fruchtzucker: In einer großen Studie mit 2390 Patienten, die an unklaren Bauchbeschwerden litten, konnten wir etwa zeigen, dass fast zwei Drittel dieser Menschen nicht viel Fruktose vertragen. Wenn dann die erste Mahlzeit des Tages ausschließlich aus Obst besteht, kann sich das durch Schmerzen und Blähungen bemerkbar machen.

Ähnliche Probleme haben Menschen, die viel kohlensäurehaltige Erfrischungsgetränke trinken. Diese enthalten oft enorm viel Fruchtzucker, und der bereitet dem Darm schnell Probleme. Und dann gibt es jene, die den ganzen Tag Rohkost essen – was dazu führt, dass beim Verdauen viele Gase entstehen.

Verschwinden die Symptome, wenn die Betroffenen ihre Ernährung umstellen?

Vieles wird deutlich besser, aber das Problem lässt sich allein dadurch oft nicht komplett beheben. Dennoch ist die Ernäh- rungsberatung ein wichtiger Teil der Therapie. Es gibt einige sehr simple Verhaltensregeln, die dabei helfen können, dass die Verdauung besser funktioniert. Ich nenne das die „Oma-Regeln“, da es Ratschläge sind, die man vielleicht noch aus seiner Kindheit kennt: zum Beispiel nicht zu heiß essen, nicht zu scharf, nicht zu kalt, nicht zu unregelmäßig – und vor allem ausgewogen. Diese und andere Verhaltensweisen werden bei einer Ernährungsberatung geübt und in der Fachwelt als „traditionelle Reizdarmdiät“ bezeichnet. Das Problem ist, dass sie oft nicht konsequent befolgt werden und die Be- troffenen zu spät eine Ernährungsberatung aufsuchen.

Viele Reizdarmpatienten berichten, dass sie erst eine falsche Diagnose erhalten.

Das kommt in der Tat häufig vor. Und es ist darauf zurückzuführen, dass viele Ärzte bei den ersten Untersuchungen oft auf einen Befund stoßen, der für die Beschwerden verantwortlich sein könnte, es aber nicht sein muss. So haben beispielsweise viele der Patienten, die wir in unserer Klinik per Magenspiegelung untersuchen, eine leicht gerötete Schleimhaut. Jetzt könnte ich ihnen sagen: „Sie haben eine Magenschleimhautentzündung, deshalb geht es Ihnen so schlecht.“ Manche Patienten finden das sehr erleichternd, denn dafür gibt es wirksame Präparate. Und vielleicht fühlen sie sich damit kurzfristig dann tatsächlich besser.

Aber das ist in Wirklichkeit oft nicht die eigentliche Ursache?

Vermutlich nicht. Besser sollte man sagen: „Sie haben da zwar eine Rötung der Magenschleimhaut, aber das erklärt wahrscheinlich nicht, weshalb Sie solche starken Bauchschmerzen und Durchfälle haben und zehnmal am Tag auf die Toilette müssen – ich gehe davon aus, dass Sie das Reizdarmsyndrom haben.“ Damit mache ich es mir als Ärztin allerdings nicht leichter, denn das zieht statt der Verschreibung eines Medikaments viele Folgegespräche über das Essverhalten und die Lebenssituation des Patienten nach sich.

Mittlerweile gibt es Tests im Internet, mit denen man sein Mikrobiom untersuchen lassen kann. Hilft das weiter?

Dafür zahlt man viel Geld und bekommt eine Auswertung, wie viele und welche Bakterien den Darm besiedeln und ob das gut oder schlecht ist. Das ist derzeit aber nur Geldschneiderei. Denn wir wissen noch viel zu wenig darüber, was bei Darmbakterien normal ist und was nicht. Die Patienten kommen dann oft zu mir und fragen: „Ich habe mein Mikrobiom untersuchen lassen, was soll ich jetzt damit tun?“ Doch diese Frage kann zurzeit niemand seriös beantworten.

Die Tests werden oftmals auch von Ärzten aus einem „Wir müssen doch irgendetwas machen“-Gefühl angeboten
und von Patienten gern angenommen. Mit dem Ergebnis stehen sie dann jedoch alleine da. Auch daher ist es ungemein sinnvoll, dass sich die Forschung derzeit intensiv mit der Verbindung zwischen dem Zustand des Mikrobioms und der Entstehung und Behandlung des Reizdarmsyndroms beschäftigt. Es wird hoffentlich irgendwann hilfreiche Erkenntnisse geben.

Wird sich das Reizdarmsyndrom irgend- wann heilen lassen?

Da bin ich mir sicher. Vermutlich wird ein mehrdimensionaler Ansatz nötig sein, der auch eine Ernährungsberatung und psychosomatische Betreuung einschließt. Ich glaube nicht, dass es ein einziges Medikament geben wird, das die Beschwerden verschwinden lässt. Das ist zwar etwas, was sich die meisten Menschen wünschen – aber das ist bei anderen systemischen Erkrankungen wie etwa Diabetes auch nicht so. Daher ärgert es mich, dass viele Ärzte ungern Reizdarmpatienten behandeln, weil sie denken, dass es schwierig und langwierig ist. Das ist bei Diabetes- oder Bluthochdruckpatienten ja nicht anders.

Wie sieht die derzeit beste Behandlung des Reizdarmsyndroms aus?

Wichtig ist vor allem, die Symptome zu lindern. Krämpfe, Blähungen, Durchfall, Verstopfung: Gegen all das gibt es wirksame Mittel. Und darüber hinaus muss man dem Patienten nahelegen, gegebenenfalls seine Ernährung zu ändern – und seinen Umgang mit Stress. Gerade psychotherapeutische Ansätze sind da sehr wirkungsvoll. Langfristige Lebensstiländerungen lassen sich allerdings oft schwer umsetzen. Wenn aber manche Kollegen zu Patienten sagen: „Sie haben nur ein Reizdarmsyndrom, da vermag ich nichts auszurichten“, dann macht mich das traurig.

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