Bridget Atkinson ist 72 Jahre alt, als sie im Jahr 1804 einen Brief an ihren Sohn Matthew schreibt. Der lebt weit weg von England in Jamaika. Die Mutter beendet den Brief mit folgenden Worten: "Ich möchte noch hinzufügen, dass ich Muscheln so gern mag wie zuvor, egal ob von Land, aus dem Süßwasser oder aus dem Meer." Sie bittet Matthew, ihr einige Exemplare zu schicken.
Als Atkinson einige Jahre später stirbt, umfasst ihre Muschelsammlung 1200 Exemplare. Dabei hat sie selbst England nie verlassen. Sie fuhr auch selten aus der Grafschaft Cumbria hinaus, wo sie zu Hause war. Ihre Sammlung aber stammt von Orten aus der ganzen Welt.
Immer wieder schickten Freunde und Familienangehörige ihr Muscheln per Schiff und mit Kutschen von fernen Kontinenten. Atkinsons Sohn Michael war als Angestellter der Britischen Ostindien-Kompanie in Bengalen stationiert, ihr Schwager Besitzer zweier Zuckerplantagen in Jamaica. Wie viele britische Familien jener Zeit profitierte auch die Familie Atkinson vom Kolonialismus Großbritanniens.
Atkinson lernt in einer "Akademie" nähen und weben
Das Interesse für Biologie und Natur wurde Bridget Atkinson nicht in die Wiege gelegt. Sie war die Tochter eines wohlhabenden Bergbauingenieurs, der früh starb. Ihre Mutter zog mit den zwei Töchtern zurück in ihre Heimat Cumbria. An einer "Akademie" lernten die Mädchen nähen und weben. Lesen und schreiben brachte die Mutter den Kindern vermutlich selbst bei.
Im 18. Jahrhundert war es durchaus üblich, dass Frauen Muscheln sammelten. Sie dekorierten damit zum Beispiel Möbel. Bridget Atkinson allerdings sammelte aus Interesse an der Natur, aus Neugier. Sie besaß ein Bestimmungsbuch, um neu eingetroffene Exemplare richtig einzuordnen. Ihre Sammlung war eine lebenslange Leidenschaft. Ein Enkel verglich das Haus seiner Großmutter einmal mit einem Museum.

Zur Sammlung gehörten Muscheln von über 200 Arten. Darunter eine Atlantische Stachelauster, die entlang der amerikanischen Atlantikküste von North Carolina bis in die Karibik vorkommt und mit fast fünf Zentimeter langen Stacheln bewehrt ist. Turbanschnecken erhielt Atkinson von George Dixon, der an der dritten und letzten Expedition James Cooks auf der "HMS Resolution" als Waffenschmied teilnahm. Zu den besonderen Stücken der Kollektion gehörte das Gemeine Perlboot, Nautilus pompilius. Der Kopffüßer, der in der Muschelschale lebt, hat bis zu 90 Fangarme.
Atkinsons Sammelleidenschaft sprach sich herum. Als im Jahr 1813 in Newcastle-upon-Tyne eine "Gesellschaft für Antiquare" gegründet wurde, ernannte man sie zum ersten Ehrenmitglied – denn als ordentliche Mitglieder waren Frauen nicht zugelassen. Atkinson, die auch über eine beachtliche Münzsammlung verfügte, schenkte der Gesellschaft einen prähistorischen Steinhammer und Münzen aus dem 12. und 13. Jahrhundert.
Lange galt Bridget Atkinsons Sammlung als verschollen
Die Wohltätigkeitsorganisation "English Heritage" verwaltet heute die staatlichen Denkmäler und archäologischen Stätten Englands. Ihr Kurator Frances McIntosh nennt Bridget Atkinson "eine bemerkenswerte Frau mit großer Neugier auf die Natur." Auf der Webseite der Organisation heißt es: "Wir wussten schon immer von ihrer Sammlung, hatten sie aber verloren geglaubt."
Atkinsons umfangreiche Kollektion war in Familienbesitz, bis sie im Jahr 1930 verkauft wurde. Danach wurden viele Exemplare im Zoologischen Institut der heutigen Universität von Newcastle ausgestellt. Als dessen Büros und Ausstellungsräume in den 1980er-Jahren umziehen mussten, verschwanden die Muscheln und galten fortan als verschollen.

Doch nun wurde bekannt, dass ein Meereszoologe der Universität, John Buchanan, die Sammlung bei dem Umzug rettete – aus einem Müllcontainer. Buchanan selbst ist schon vor einiger Zeit gestorben. Vor Kurzem aber entdeckte seine Familie die Herkunft der Muscheln, die fast 40 Jahre lang in ihrem Haus gelegen hatten. Die Buchanans übergaben sie an "English Heritage". Die Organisation sichtete die Muscheln, katalogisierte sie und eröffnet eine neue Ausstellung. Kurator McIntosh: "Dass die Muscheln nicht nur überlebt haben, sondern die ganze Zeit sicher und behütet aufbewahrt wurden, grenzt an ein Wunder."
Bridget Atkinson gilt heute als eine der ersten Frauen, die eine wissenschaftlich bedeutsame Sammlung zusammengetragen haben. Von ihr überliefert ist auch eine Kollektion mit Rezepten und Heilmitteln, unter anderem gegen Würmer und Bisse von "wahnsinnigen Hunden".