Riskante Medikamente Antidepressiva könnten Demenz beschleunigen

Gefährlicher Zerfall: Bei Demenzkranken seien die Hirnstrukturen wahrscheinlich schon so verändert, dass Antidepressiva hier nicht die gewünschte Wirkung entfalten könnten, vermuten Forschende
Gefährlicher Zerfall: Bei Demenzkranken seien die Hirnstrukturen wahrscheinlich schon so verändert, dass Antidepressiva hier nicht die gewünschte Wirkung entfalten könnten, vermuten Forschende
© Sean Gladwell / / Getty Images
Menschen mit Demenz leiden oft auch an einer depressiven Störung. Antidepressiva allerdings bringen meist wenig. Sie könnten sogar schaden, wie eine neue Studie zeigt

Bestimmte Antidepressiva können einer Studie zufolge bei Demenzpatienten womöglich den kognitiven Abbau beschleunigen. Ob sie wirklich verschrieben werden sollten, müsse darum für jeden Patienten gründlich geprüft werden, warnt das Forschungsteam im Fachjournal "BMC Medicine". Betroffen seien sogenannte selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) wie Citalopram, Sertralin und Escitalopram.

"Diese Ergebnisse muss man ernst nehmen", sagte Peter Berlit, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), der selbst nicht an der Studie beteiligt war. Entsprechende Hinweise habe es auch zuvor schon gegeben, vor allem für Trizyklische Antidepressiva (TZA), die daher bei Demenzkranken nicht verwendet werden sollten. Ohnehin sei der Einsatz solcher Medikamente in dieser Gruppe von Patienten meist nicht sinnvoll: "Es ist schon lange bekannt, dass Antidepressiva bei Demenzkranken überwiegend kaum bis gar keine Wirkung haben."

Illustration: Eine Pille auf einer Handfläche

Depression "Antidepressiva sind Placebos mit Nebenwirkungen"

Das Thema Antidepressiva spaltet die Fachwelt in Befürworter und Kritiker. Die Studienlage ist uneindeutig, die Wirkungsweise der Medikamente nicht restlos geklärt. Der Psychologe Reinhard Maß sah den Einsatz von Antidepressiva jahrzehntelang als Selbstverständlichkeit an. Heute ist er ein entschiedener Gegner der Medikamente, die zunehmend verschrieben werden. Im Interview legt er dar, was hinter seinem Sinneswandel steckt

Hintergrund sei womöglich, dass die entsprechenden Hirnstrukturen bei den Betroffenen bereits beschädigt seien und sich nicht mehr durch solche Wirkstoffe beeinflussen ließen, erklärte Klaus Fließbach, Oberarzt am Uniklinikum Bonn. Auch könnten die Mechanismen hinter bestimmten Symptomen ganz andere sein als bei Menschen ohne Demenz. Von Apathie zum Beispiel sei rund die Hälfte der Patienten mit der Demenzform Alzheimer betroffen - sie sei bei ihnen aber kein Zeichen einer Depression. Vor diesem Hintergrund sei nicht verwunderlich, dass Antidepressiva in solchen Fällen nicht wirkten.

Generell hängen Depression und Demenz durchaus eng zusammen: Ein großer Teil der Demenzerkrankten zeigt Symptome, wie sie auch für eine Depression typisch sind, wie Schlafstörungen, geringeren Appetit, Unruhe, Aggressivität oder traurige Stimmung. Depressive Störungen wiederum können die kognitiven Fähigkeiten beeinträchtigen.

Derzeit gingen Ärzte davon aus, dass SSRI- und sogenannte SNRI-Antidepressiva keine schädlichen Folgen für Demenzerkrankte haben, sagte Fließbach, Neurowissenschaftler am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Bonn. Verwendet würden sie zum Beispiel bei Unruhe, gestörter Impulskontrolle oder eben der bereits erwähnten Apathie. "Bei vielen neuropsychiatrischen Symptomen wird probiert, sie mit Antidepressiva zu behandeln."

Experten beklagen: Antidepressiva werden zu häufig verschrieben

Auch schon zu Beginn einer Demenz würden Antidepressiva in Deutschland nach wie vor häufig verschrieben, erläuterte Berlit. "Oft vom Hausarzt, der das zunächst nicht als Frühsymptom einer Demenz erkennt." Mehr Vorsicht bei Verordnungen für ältere Patienten sei durchaus angebracht - vor dem Hintergrund der neuen Ergebnisse erst recht: SSRI-Antidepressiva kommen dem DGN-Generalsekretär zufolge bei Älteren häufig zum Einsatz.

Wie auch die Forschenden um Sara Garcia-Ptacek vom Karolinska-Institut in Solna selbst zu bedenken geben, hat die Studie Einschränkungen, und die Ergebnisse sollten durch weitere Analysen geprüft werden. "Die Symptome der Depression können selbst schon zur Verschlechterung der Demenz beitragen", nannte Berlit ein Beispiel. Welcher Anteil der Beschleunigung darauf und welcher auf die Antidepressiva zurückgehe, lasse sich mit den vorliegenden Daten nicht bestimmen.

Noch gibt es große Unsicherheiten

"Die Ergebnisse sind extrem schwer zu interpretieren", betonte auch Fließbach. Die Studie zeige nur einen möglichen kausalen Zusammenhang - nachgewiesen sei er mit den Daten nicht.

In die Analyse waren knapp 19.000 Menschen mit einem Durchschnittsalter von 78 Jahren einbezogen worden, bei denen eine Demenz neu diagnostiziert wurde und denen bis zu sechs Monate vor der Demenzdiagnose Antidepressiva verschrieben worden waren. Die kognitive Funktion jedes Patienten wurde mittels des sogenannten MMST (Mini-Mental-Status-Test) erfasst, mit dem die Orientierung und das Kurzzeitgedächtnis gemessen werden.

Während der Nachbeobachtungszeit von im Mittel 4,3 Jahren erhielten 23 Prozent der Patienten ein neues Rezept für ein Antidepressivum. Überwiegend handelte es sich um SSRI (65 Prozent der Verschreibungen). Höhere SSRI-Dosen waren mit einem höheren Risiko für eine schwere Demenz verbunden, definiert als eine stärkere Verschlechterung der MMST-Werte eines Patienten. Bei Männern verlief die Verschlechterung schneller als bei Frauen.

Die Studie lieferte zudem Hinweise auf ein höheres Risiko für Knochenbrüche und eine höhere Gesamtmortalität bei Patienten, denen bei oder nach der Demenzdiagnose mindestens ein SSRI-Antidepressivum verschrieben wurde. Die Forschenden vermuten, dass sich bei weiteren Studien womöglich auch für eine andere Antidepressiva-Gruppe, die Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI), solche Zusammenhänge zeigen könnten.

Fließbach Fazit lautet, dass es sich um interessante Hinweise handelt, die aber zusätzlicher Abklärung bedürfen. Die Ergebnisse seien ein weiterer Grund, die Indikation für Psychopharmaka bei älteren Menschen zurückhaltend zu stellen. "Es sollte streng geprüft werden, ob wirklich eine Notwendigkeit besteht." Dies sei auch aufgrund der möglichen Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten stets geboten. Gerade Senioren nehmen häufig eine Reihe verschiedener Präparate ein - wie diese sich gegenseitig beeinflussen, ist vielfach noch gar nicht genau bekannt. 

dpa