Ming schliesst die Tür zu seinem vollgestopften Schlafzimmer. Dann holt er sein Testament aus einer versteckten Kiste. Mit leiser Stimme liest er vor: „Ich bin ein Hongkonger, ich will, dass Hongkong Demokratie und Freiheit genießt ...“ So beginnt, was eines Tages die letzten Worte des Studenten sein könnten. „Auch wenn ich das nicht zu meinen Lebzeiten erreichen kann, so möchte ich doch wenigstens dieses Geschenk an die Nachwelt weitergeben. Ich habe diesen Brief geschrieben, weil ich mich vor dem Tod fürchte und weil ich Angst habe, meine zukünftigen Kinder nicht zu sehen.“
Für den Fall, dass er tatsächlich tot aufgefunden werden sollte, erklärt Ming* in einem zweiten Brief, dass er niemals Selbstmord begehen würde. Damit seine Mörder nicht mit der Vertuschung ihrer Tat davonkämen. „Ich bin bereit zu sterben, aber nicht umsonst“, flüstert der 22-Jährige mit dem pausbäckigen Gesicht seinem Gast zu, einem Journalisten. Niemand jenseits dieser dünnen Wände darf seine Worte hören. Dort hackt seine Mutter Fleisch fürs Abendessen. Geräusche, die Ming, wie er wispert, an einen unerträglichen Ort zurückversetzen. Der Schädel eines Polizisten. Beton. Schreie. Blut. Für Ming ist die Hongkonger Polizei der Inbegriff von Brutalität – entweder würde er sie besiegen oder selbst untergehen.
Er zuckt zusammen, als seine Mutter mit lautem Klappern dampfende Teller auf einen Klapptisch stellt.
„Los, esst, solange das Essen noch heiß ist!“, sagt sie lächelnd. Dem Gast erzählt sie stolz: „Wir konnten Ming immer vertrauen. Nie würde er einen falschen Weg einschlagen.“ Wenn sie von ihrem einzigen Sohn spricht, wird ihr Gesicht mild. „Er ist nicht so wie diese Kinder, die an vorderster Front kämpfen und so viel zerstören.“
Ming zwingt sich zu essen und mit seinen Eltern zu plaudern, zu lachen. Sie dürfen nicht ahnen, dass er während der Hongkonger Demonstrationen einige der brutalsten Taten begangen hat und dass er bald dafür seine Strafe erhalten könnte.
Marsch der Millionen
Der Wandel des Studenten Ming vollzieht sich in nur sechs Monaten. Am Anfang steht ein friedlicher Demonstrant, am Ende ein Todeskrieger. Mings Generation ist im Juni 2019 politisch erwacht, nachdem Hongkongs Regierungschefin Carrie Lam ein Gesetz auf den Weg gebracht hatte, das Auslieferungen an die Justiz auf dem chinesischen Festland ermöglicht.
Am 9. Juni gehen mehr als eine Million Menschen auf die Straße. Ming kommt mit seiner Freundin. Wie die meisten Demonstranten tragen sie weiße T-Shirts, um Frieden zu signalisieren. Es ging nur zentimeterweise voran, erinnert er sich. Hand in Hand schiebt das Paar sich am Hafen entlang vom Victoria Park bis zum Viertel Admiralty, mit ruhiger Entschlossenheit, bewaffnet allein mit Stimmen und Plakaten.
Ming weint, als er sieht, dass manche ihre ganze Familie mitgebracht haben, zur Verteidigung all dessen, was er und viele andere als Hongkongs Grundwerte bezeichnen: Freiheit und Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und eine saubere Regierungsführung. „Ich war gerührt, dass es eine Million Menschen gibt, die Hongkong so sehr lieben“, sagt Ming. Berichten zufolge wird an jenem Tag kein Auto zerkratzt, keine Scheibe eingeschlagen. Junge Leute teilen Wasser aus. Bussen und Krankenwagen macht die Menschenmenge Platz. Hongkongs Polizei, als „Asia’s Finest“ bekannt, hält freundlich Abstand.

In diesen ersten Wochen liegt Hoffnung in der Luft. An lauen Abenden spricht Ming mit seinen Freunden auf offener Straße über den gewaltfreien Widerstand von Gandhi und Mandela. Darunter die 20-jährige Denise, selbst ernannter Shopaholic und Foodie; Tim, der junge Mitinhaber eines Restaurants; Fifi, gerade zurück von ihrem Studium im Westen und jetzt Versicherungsmaklerin; und ein paar Künstlertypen, mit denen Ming experimentelle Filme dreht.
Ming hofft, Hongkongs Widerstand würde Menschen auf der ganzen Welt ermutigen, für ihre Grundwerte ein zutreten. Am Rande einer friedlich verlaufenden Kundgebung deklamiert er: „Hongkong ist ein Leuchtfeuer, das ganz China erhellen wird.“
Drei Tage nach der ersten Großdemonstration versucht die 62-jährige Regierungschefin Carrie Lam, das Gesetz bei einer zweiten, letzten Lesung durchzubringen. Mehrere Tausend Demonstranten, darunter Ming, blockieren den Regierungssitz und stoppen die Lesung. Doch die Euphorie verflüchtigt sich schnell: Die Polizei treibt Hunderte unbewaffnete Demonstranten mit Gummigeschossen in einem Bürogebäude zusammen und feuert dann Tränengas hin ein. Chaos bricht aus.
Ming sieht ungläubig und verletzt aus, als von dem Tag erzählt, der seinen Blick veränderte. „Die Leute spuckten weißen Schaum. Ich rang nach Luft und wurde ohnmächtig“, erinnert er sich in einem Café. „Warum hat die Polizei die Menschen fast umgebracht, statt einfach die Demonstration aufzulösen?“ 32 Demonstranten, die in den vordersten Reihen mit Metallstöcken und Steinen geworfen hatten, werden festgenommen. Die Polizei bezeichnet die Proteste als „Krawall“. Am folgenden Wochenende demonstrieren zwei Millionen Menschen.
Diesmal tragen sie Schwarz.

Lam bietet an, das verhasste Auslieferungsgesetz „auszusetzen“, weigert sich aber, es zurückzuziehen. Ihr Hochmut, heißt es, beleidigt die Bevölkerung. Die Proteste würden nie wieder so aussehen wie zuvor. Von Anfang an organisieren sich die Demonstranten wie Ming und Denise in wechselnden anonymen Gruppen, online, spontan und ohne Führer. Sie wollen „wie Wasser“ sein – eine Lehre, die sie von dem verstorbenen Kampfsportstar Bruce Lee übernehmen. Wasser, das so hart wie Beton sein kann und im nächsten Moment wegfließt; das plötzlich eine Polizeistation umflutet, eine Hauptstraße blockiert, U-Bahn-Türen oder einen Flughafen. So sollten die Demonstranten später die Stadt zum Stillstand bringen und tagelang den Betrieb eines der verkehrsreichsten Flughäfen der Welt stören.
Jederzeit, das ist klar, könnte ihr mobiles Internet gestört werden. Und so lernen sie, Warnungen und Nachschubwünsche von der Front per Zeichensprache weiterzugeben, bilden Menschenketten, um Schirme, Schutzhelme und Masken zu transportieren.
Für Ming und viele andere ist es der größte Nervenkitzel ihres Lebens. Sie sind wie elektrisiert von ihrem gemeinsamen Ziel. „Hongkong war noch nie so geteilt und doch so vereint“, sagt Ming, beseelt von seiner Mission.
Das Ende der Freiheit?
Ming wuchs auf in einem Wohnblock für ärmere Familien, aber entbehren muss er nichts: Eine hoch moderne U-Bahn bringt ihn von seiner Universität zu Kinos und Cafés, dann weiter nach Hause zu fürsorglichen Eltern; mit Freunden fliegt er in die Ferien. Sein Leben ist so frei wie die Wirtschaft Hongkongs – eine der liberalsten der Welt. Der digital vernetzte Nachwuchs fühlt sich Gleichaltrigen in San Francisco oder Berlin näher als denen in Beijing oder Shanghai. Im Gegensatz zu „Festlandchinesen“ genießen sie ein grenzenloses Internet und weitgehend unzensierte Medien. Zugleich kennen sie die Volksrepublik dank ihrer Familien, Reisen und Arbeit auch von innen.
Was sie dort sehen, erfüllt viele mit Sorge: Bei Kundgebungen und in Onlineforen ist immer häufiger davon die Rede, wie Beijing Menschenrechtsaktivisten und Menschen anderer Glaubensrichtungen behandelt; wie im Westen Xinjiangs die Uiguren rund um die Uhr überwacht und in Umerziehungslager gesteckt werden.
Könnte es den Hongkongern eines Tages ähnlich ergehen, wenn im Jahr 2047 die Sonderverwaltungszone vollständig dem Festland unterstellt wird? „Wenigstens haben wir jetzt noch die Möglichkeit zu protestieren und internationale Unterstützung zu mobilisieren. Wenn wir so wie Xinjiang werden, wäre es zu spät“, sagt Ming nachdenklich. Und zum ersten Mal: „Ohne Freiheit würde ich lieber sterben.“
Regierungschefin Carrie Lam zieht das Auslieferungsgesetz nicht zurück. Die Demonstranten erweitern ihre Forderungen um vier Punkte: Einsetzung einer Kommission zur Untersuchung mutmaßlicher Polizeibrutalität, die Rücknahme der Klassifizierung der Protestierenden als „Randalierer“, eine Amnestie für verhaftete Demonstranten und ein allgemeines Wahlrecht.
In den folgenden Wochen des Protests klingt der Ton immer hasserfüllter, und die Gewalt wächst. Die Polizei nennt die schwarz gekleideten Demonstranten „Kakerlaken“, diese titulieren die Polizisten als „Hunde“. Beide Seiten tragen ab jetzt Masken. Die Polizisten sehen mit ihrem schwarzen Gesichtsschutz aus wie Robocops, während sich die Demonstranten mit langer Kleidung und reflektierenden Überhängen verhüllen, um nicht identifizierbar zu sein.
„Eine Maske verleiht dir Macht, weil dann die ganze Gruppe die Verantwortung für dein Handeln mitträgt“, sagt Ming, dessen Kampfgasmaske sein Gesicht komplett bedeckt. Die größte Lehre, die Ming und seine Mitstreiter aus dem Scheitern der friedlichen, aber wirkungslosen Regenschirm-Bewegung im Jahr 2014 gezogen haben, ist: Pazifismus funktioniert nicht. Zumindest nicht in einem Hongkong, das sich für sie zunehmend wie das chinesische Festland anfühlt.
Die Kakerlakenjäger
Die Proteste beginnen die Stadt zu spalten. Einige Hongkonger hegen mehr Vorbehalte gegen die Demonstranten als gegen die Polizei. Und manche sind so wütend, dass sie zu Denunzianten werden. Lynn, eine zierliche 40-Jährige, hat an der Börse, mit Immobilien-Spekulationen und Pferdewetten ein kleines Vermögen gemacht. Die Protestler verabscheut sie: „Sie sind wie die Kakerlaken, weil sie dauernd ihre Masken aufsetzen. Und ihre Kleidung ist ganz dunkel. Sie sind schmutzig, verstohlen und verstecken sich tagsüber.“
Bei einem Mittagessen mit Freunden klagt sie, dass ihre „Heimatstadt völlig zerstört“ sei. Die U-Bahn sei demoliert, die Aktienkurse fielen, Menschen wanderten aus. Darum macht Lynn Jagd auf Demonstranten: Von ihrer Luxuswohnung aus hat sie eine Straße im Blick, die die Protestierenden regelmäßig als Fluchtweg nutzen.
Durch einen Spalt im Vorhang beobachtet sie dann mit ihrem Fernglas für Pferderennen, welche Autos Flüchtende aufnehmen. Die Kennzeichen schickt sie an die Polizei – ebenso Lebensmittel, Schlafsäcke und Geld. „Diese armen Beamten haben keine andere Wahl, als ihre ganze Schicht lang dort zu stehen, um Hongkong zu beschützen. Sie haben keine Zeit zu essen, nicht einmal Zeit zum Pinkeln, im Gegensatz zu den Kakerlaken, die jederzeit nach Hause gehen können, um sich von ihren Müttern verwöhnen zu lassen“, sagt Lynn. Ein paar Freunde haben ihr schon die Freundschaft gekündigt, ihr Vater redet nicht mehr mit ihr.

„Es ist nicht so, dass ich China liebe“, erklärt Lynn. „Aber diese Kakerlaken finde ich schlimmer als die Kommunistische Partei. Sie behaupten, dass sie für die Demokratie kämpfen, aber sie verprügeln Leute mit anderen Ansichten“, sagt sie. Was Lynn am meisten ärgert: „Die Menschen in Hongkong genießen so viel Reichtum und Freiheit, trotzdem schwenken sie ausländische Flaggen, betteln um internationale Unterstützung und spielen ständig das Opfer. Ich schäme mich!“
Der Sturm aufs Parlament
Jedes Jahr am 1. Juli feiert die ehemalige britische Kolonie Hongkong seit 1997 die Wiedervereinigung mit dem Mutterland China nach dem Modell „Ein Land, zwei Systeme“. Und jedes Jahr gehen Zehn- oder sogar Hunderttausende auf die Straße: Sie fühlen sich beeinträchtigt in jener Freiheit, die ihnen das Grundgesetz Hongkongs doch garantiert. Die Proteste zum 22. Jahrestag beginnen schon vor Sonnenaufgang. Einige Demonstranten, darunter Ming, verbringen die Nacht vor dem Parlament, dem Legco (Legislative Council), um es zu „bewachen“.
Sie verbarrikadieren Zufahrtsstraßen, um die morgendliche Fahnenzeremonie zu stören. Ming fotografiert an vorderster Front, um Aktionen seiner heldenhaften Kameraden, vor allem aber die Aggression der Polizeikräfte zu dokumentieren. Die reagieren mit Tränengas, Schlagstöcken und Verhaftungen. Ming erleidet chemische Verbrennungen. Mittags lassen die gewalttätigen Zusammenstöße nach, Ming und andere von der Front gehen nach Hause, um zu duschen. Hunderttausende friedliche Demonstranten füllen ihre Reihen auf und marschieren in Richtung Legco.

Dann taucht plötzlich in ihrer Mitte ein Trupp ultraradikaler Demonstranten auf, rammt einen Metallwagen und Eisenstangen in die Glasfront des Legco. Drinnen halten Polizisten Wache. Verstärkung kommt wegen der vielen Menschen auf der Straße nicht durch.
In der Nacht dringen erste Demonstranten in das Gebäude ein. Sie nennen sich „Todeskrieger“. Ming folgt ihnen mit der Kamera.
Die Demonstranten zerschlagen die Überwachungskameras, und ein Team findet den Server, der die Bilder aufzeichnet. Sie entfernen die Laufwerke und gießen Wasser in die Geräte.
Etwa hundert Menschen folgen ihnen. Sie verwüsten den heiligen Plenarsaal und verunstalten das Emblem von Hongkong. Einer der Demonstranten drapiert die Flagge der britischen Kolonie Hongkong.
Während sie die Porträts der politischen Führer von den Wänden reißen, Parolen malen und Möbel zerschlagen, hält Denise, Mings Shopaholic-Freundin, vor den Regalen mit Antiquitäten und wertvollen Büchern Wache. „Wir sind hier, um die politische Struktur zu zerstören, aber nicht, um Menschen zu verletzen oder unser Erbe zu beschädigen“, erklärt sie sachlich. Die anderen befolgen ihre Anweisung.
Einige Demonstranten hinterlassen im Kantinenkühlschrank Geld für Getränke, andere fegen zerbrochenes Glas zusammen. Die Polizei kündigt an, sie sei auf dem Weg. Den Protestierenden bleibt eine letzte Chance, zu fliehen. Diejenigen, die freiwillig gehen, zerren die anderen mit hinaus. Minuten später rückt die Polizei mit Schlagstöcken und Tränengas an, um die Menschenmassen auseinanderzutreiben. Beamte betreten den verwüsteten Regierungssitz, um forensische Beweise zu sichern. Sie lassen die meisten Demonstranten laufen, die unversehrt die U-Bahn erreichen.
Später, in Tims lärmerfülltem Restaurant, erzählt Denise, wie sie und Tim durch die dunklen Korridore des Parlamentsgebäudes rannten, um nach der Polizei Ausschau zu halten, wie sie ihre Ohren an verschlossene Türen drückten. „Es war beängstigend ruhig“, erinnert sie sich. Und die junge Frau, deren größtes Vergehen bis zu diesem Tag darin bestanden hatte, mit einem Kinderticket in der U-Bahn zu fahren, erklärt, sie sei jetzt bereit, für zehn Jahre ins Gefängnis zu gehen.
Ein Stück Kunststoff
Die Märsche gehen in den folgenden Wochen weiter, doch zwei Ereignisse am Sonntag, dem 21. Juli, markieren einen Wendepunkt.
Nach einem verhältnismäßig friedlichen Marsch am Sonntagnachmittag versammeln sich die Demonstranten um die höchste Vertretung der chinesischen Zentralregierung und bewerfen das Staatswappen der Volksrepublik mit Tintenbomben. Das rote kommunistische Emblem mit fünf Sternen ist für viele Hongkonger ein fremdartiges Symbol, das ihnen nicht viel bedeutet. „Es ist bloß ein Stück Kunststoff“, sagt ein Hongkonger Journalist zu seinen Kollegen, mit denen er die Demonstranten beobachtet. „Es kann morgen ersetzt werden.“
Die staatlich kontrollierten Medien auf dem Festland aber beenden von diesem Moment an ihr Stillschweigen über die Proteste und berichten von „anti-chinesischen Ausschreitungen“ in Hongkong, unterstützt von „ausländischen Machenschaften“.
Viele Festlandchinesen finden, die Hongkonger seien arrogant und wüssten ihre Freiheiten nicht zu schätzen, von denen sie selbst nur träumen können. Die Beschmutzung ihres Nationalsymbols schürte deshalb unter ihnen Ressentiments statt Sympathie. Als Hongkongs Polizei mit Tränengas und Gummigeschossen vorrückt, um das Gebäude zu beschützen, verwandelt sich der Finanzdistrikt in ein Schlachtfeld. Die Polizei verhaftet Dutzende Demonstranten. Protestierende fackeln Papierabfälle ab und attackieren Polizisten mit Straßenschildern, Steinen und Metallstangen. Die meisten ziehen bis Mitternacht ab, aber auf der Heimfahrt kommt es ebenfalls zu Ausschreitungen.

Eine Gruppe Demonstranten sowie andere Fahrgäste werden auf dem Weg in den nördlich gelegenen Distrikt Yuen Long in der U-Bahn von einem Mob aus mindestens 100 Gegendemonstranten mit Holzknüppeln angegriffen. Schädel werden eingeschlagen, Knochen gebrochen. Hunderte Notrufe gehen bei der Polizei ein, doch die Beamten treffen erst nach mehr als einer halben Stunde ein. Mit Entsetzen können Hongkonger verfolgen, wie eine junge Journalistin, die live von den Ereignissen berichtet, brutal angegriffen wird.
Ming sagt, er sei mit zwei Freunden in einem Taxi herbeigeeilt, um seinen Mitstreitern zu helfen. Von einem versteckten Aussichtspunkt aus, so Ming, sahen sie, wie Polizisten und Gegendemonstranten entspannt miteinander plauderten.
Gerüchte machen die Runde, denen zufolge die Polizei den Angriff mit den Triaden koordiniert habe, einem lokalen Verbrechersyndikat.
Diverse Medien berichten, dass in dieser Nacht mindestens 45 Menschen von den Gegendemonstranten verletzt werden, unter den Opfern war angeblich auch eine Schwangere. Aber niemand wurde verhaftet.
„Die Art und Weise, wie die Polizei mit den Triaden dreist zusammenarbeitet, um Demonstranten zu verletzen, hat mich wahnsinnig gemacht“, sagt Ming, sein einst weiches Gesicht verhärtet von Bitterkeit und Angst. Seine Arme hat er auf den Oberschenkeln abgestützt, den Kopf gesenkt. In den sozialen Medien kursieren nun auch Gerüchte von verschwundenen Demonstranten, nicht identifizierten Leichen und sexuellen Übergriffen während der Haft. Mings Stimme zittert, als er davon spricht. Er macht es sich zur Aufgabe, die Behauptungen zu überprüfen. Je tiefer er gräbt, sagt er, desto mehr fühlt er sein eigenes Schicksal mit dem der mutmaßlichen Opfer verbunden.
Angriff auf einen Polizisten
Nach den Attacken in Yuen Long sucht Ming nach einer stärkeren Waffe gegen die Polizei. Im Internet findet er Rezepte für die Kombination von Benzin und Industriealkohol. Er macht Tests in der Nähe eines Strandes und perfektioniert seine Technik.
„Zur nächsten Demo brachte ich eine Benzinbombe mit. Als die Polizei angriff, warf ich sie. Die Polizisten zogen sich zurück. Es funktionierte!“, erzählt Ming kichernd, während er in einem überfüllten Café an einem Fruchtcocktail nippt.
In jener Nacht aber packt Ming die Panik. Schweißgebadet liegt er wach und fürchtet seine Verhaftung. Einige Wochen später erleidet er durch einen fremden Molotowcocktail Verbrennungen zweiten Grades am Bein. Es ist ihm zu riskant, ins Krankenhaus zu gehen. Er findet einen Arzt, der heimlich Demonstranten hilft. „Ich versuchte, die Flammen zu löschen, aber durch eine klebrige Substanz brannten sie weiter. Ein Teil von mir dachte: Das ist ein tolles Rezept!“, erinnert er sich.
In der Folge fügt er seinen Bomben Verdickungsmittel wie Polystyrol, Vaseline und Motoröl hinzu, damit die Flammen besser auf das Ziel überspringen und dichten Rauch erzeugen. „Ich hätte niemals gedacht, dass ich mein Schulwissen über Chemie einmal so einsetzen würde“, fährt Ming fort. Aber die Benzinbomben sind für Ming nur der Anfang. Die Gewaltbereitschaft in ihm wächst.
Ein Demonstrant erzählt ihm, seine Schwester sei während der Ausschreitungen in Yuen Long verletzt worden und er wolle sich an der Polizei rächen. Ming kennt ihn nicht, verspricht aber, ihm zu helfen. „Ich hatte das Gefühl, alle Demonstranten seien meine Brüder und Schwestern, und ich konnte den Polizisten, die uns verletzt haben, nicht verzeihen“, sagt er. „Es war ein hohes Risiko, aber ich war berauscht von der Wut und stimmte zu.“
Bevor er seine Geschichte fortsetzt, möchte Ming von dem Café in einen leeren Hof wechseln. Dort setzt er sich auf den Boden und lehnt sich an eine Hauswand. Ming erzählt, wie er drei Nächte später mit zwei anderen jungen Männern in der Nähe einer Polizeistation wartete, bis ihr Ziel Feierabend hatte: Schließlich trat ein Mann in den Dreißigern, mit einem kleinen Bauch, in T-Shirt und Turnschuhen vor die Tür. Sie kannten ihn nicht, aber sein stolzer Gang reichte, um ihn als Feind zu klassifizieren.
„Wer zur Polizei gehört, der verdient Strafe, ganz egal, ob er persönlich einen Demonstranten angegriffen hat oder nicht“, sagt Ming sachlich.
Sie folgen dem Polizisten durch belebte Straßen, vorbei an Restaurants und Läden, bis er nach einer Viertelstunde eine schäbige, von Neonschildern erleuchtete Straße erreicht. An Treppenaufgängen stehen Frauen herum, die wohl ihre Dienste anbieten.
Der Anführer drückt dem Opfer ein Handtuch auf den Mund, Ming packt seinen Kopf, der dritte zerrt ihn an der Taille zu Boden. Unbeholfen schleppen sie den Mann in eine dunkle Gasse, in der in Pfützen das Schmutzwasser steht. Ming stopft dem Opfer das Handtuch in den Mund. Dumpf landen die ersten Schläge auf dessen Schädel, gefolgt von einem erstickten Schrei nach Gnade.
„Es hat mir Spaß gemacht, ihn vor Schmerz weinen zu hören“, sagt Ming und lächelt dabei. Er erzählt, sie hätten dem Mann ins Gesicht getreten, ihm mit Stöcken auf die Rippen geschlagen, auf seine Ellbogen und Knie getrampelt, bis er nicht mehr reagierte. Dann habe er noch ein weiteres Geräusch von sich gegeben, einen heiseren Ausstoß zwischen Husten und Erbrechen. „Ich habe so etwas noch nie gehört und will es auch nie wieder“, sagt Ming. Sein Ausdruck des Triumphs weicht Ekel. Er beugt sich vor, weil ihm übel wird.
Der Anführer schlägt vor, den Mann zu erwürgen, doch Ming ist dagegen. „Ich fühle mich mächtig, wenn ich eine Maske trage; aber ich habe ein Gewissen, im Gegensatz zu den Polizisten“, sagt er.

Während der blutüberströmte Mann zuckend und stöhnend zusammengekrümmt auf dem Boden liegt, das Handtuch immer noch in den Mund gestopft, trennt sich das Trio. Ming wirft seine Kleidung weg und löscht ihre Chatgruppe.
In dieser Nacht geht er zu einem Freund und tut so, als sei er betrunken, als Entschuldigung dafür, dass er nach einem Platz zum Übernachten fragt. Zwei Nächte geht er nicht nach Hause, falls die Polizei nach ihm suchen sollte. Dann kehrt Ming zu seinen Eltern zurück. Er vermutet, die Polizei habe den Vorfall vertuscht, um ihre Truppen nicht zu demoralisieren.
Der verlorene Sohn
Es sei schon seltsam, „sich von einem Menschen in einen Teufel zu verwandeln und dann wieder Mensch zu werden, zu arbeiten und zur Universität zu gehen“, sagt Ming. „Als ob nicht ich es sei, der diese Taten begeht. Aber ich bin es.“ Nacht für Nacht, wenn er in den frühen Morgenstunden von den Protesten nach Hause kommt, nach Schweiß und Tränengas stinkend, steht seine Mutter auf, kocht ihm Nudeln und wäscht ihm die Kampfstoffe aus der Kleidung. Ming erzählt ihr, dass er ein Beobachter sei, kein Demonstrant.
Sie sagt, sie glaube ihm. Sie ist aufgewachsen auf dem chinesischen Festland und kritisiert, wie die Demonstranten jetzt Hongkong verwüsten: „Es sieht genauso aus wie während der Kulturrevolution, als Maos Rote Garden plündernd und Parolen skandierend durch die Straßen zogen.“
Sie fragt Ming: „Ist Gewalt und Zerstörung das Antlitz der Freiheit?“ Er wünscht sich, seine Mutter möge verstehen, dass die Demonstranten Gewalt nicht um der Gewalt willen einsetzen, sondern um ein repressives Regime zu bekämpfen.
Aber wie kann er so viel Schaden anrichten und dabei rechtschaffen bleiben? „Es ist eine Revolution – in einer Revolution gelten die Regeln des Herrschers nicht“, rechtfertigt Ming sich und sein Handeln.„Erst dann, wenn das Machtregime zerstört ist, können die Menschen wieder eine Zivilgesellschaft aufbauen, die auf Rechtsstaatlichkeit und Demokratie gründet.“ Das Rad der Geschichte MING STAMMT aus einer Zwischenwelt: Nachdem Großbritannien Hongkong im 19. Jahrhundert China entrissen hatte, lehrte es seine Untertanen, sich auf die Wirtschaft zu konzentrieren; sie bauten ein Finanzzentrum auf, das heute mit New York und London konkurriert.
Als Großbritannien Hongkong 1997 an China zurückgab, versprach Beijing, dass die Sonderverwaltungszone ihre Lebensweise im Rahmen der „Ein Land, zwei Systeme“-Politik für die nächsten 50 Jahre beibehalten könne.

Die Aufregung war spürbar, als die Hongkonger über Nacht zu Bürgern einer schnell aufstrebenden Weltmacht wurden. Manche fürchteten zwar, unter einem strengen Einparteienregime zu leben, aber viele hofften, dass Chinas wirtschaftliche Liberalisierung bald allen politische Freiheit bringen würde. Ming kam etwa zu der Zeit auf die Welt, als die rote Fünf-Sterne-Flagge am Hafen von Victoria gehisst wurde. Seine Generation wuchs weder mit einem Gefühl der Nostalgie für die britische Regierung noch mit der Sehnsucht nach Beijing auf; sie haben ihre eigene Identität.
Am Abgrund
Alle Paarabende trifft sich Ming mit seinen Freunden bei Cocktails und Pasta in Tims Restaurant, um Aktionen zu planen. Anfangs reden sie noch so aufgeregt von den Zusammenstößen, als handele es sich um Schulausflüge, aber im Laufe der Monate schwingt ihre Stimmung in kalte Rache um. Wenn sie schon nicht gegen Beijing gewinnen können, dann möchten sie jedenfalls zusammen untergehen: indem sie Hongkong zerstören – und auf diese Weise China schaden. „Wir sagen der Kommunistischen Partei: Wenn wir brennen, dann brennt ihr mit uns“, so Ming. Worte, die immer populärer werden in dieser Stadt mit 7,5 Millionen Einwohnern, die sich gegen ihr eigenes Land wenden. Gegen ein Land mit der fast 200-fachen Bevölkerung und einer der größten Armeen weltweit. Tim sagt: „Wir müssen den größtmöglichen Schaden anrichten und die chinesische Armee provozieren.“ Denise, Fifi und andere klatschen in die Hände, ungeachtet der Gäste um sie herum, die sie belauschen könnten. Am folgenden Wochenende sehen Denise, Tim und andere live im Fernsehen, wie sich in den Straßen wieder Protest aufbaut.
Sie warten darauf, dass die friedliche Stimmung kippt und sie mit Gewalt eingreifen können. Denise föhnt ihre Haare und füttert ihr braunes Kaninchen, bevor sie eine Kampfgasmaske in ihre Tragetasche stopft. Dann zieht sie mit Tim los, der Polizeistock, Laserpointer, Benzinbomben und Feuerzeug im Gepäck hat. Ihre Kernidee: so viel Chaos zu entfesseln, bis Beijing Panzer und Maschinengewehre schickt. Daraufhin würde sich die Welt entsetzt von China abwenden. Falls Beijing jedoch Hongkong brennen ließe, würde die Stadt ihre Autonomie zurückgewinnen.

Bei einem harten Schlag besteht für Beijing die Gefahr, dass die Staaten des Westens Sanktionen verhängen könnten. Da die Wirtschaft bereits jetzt vom Handelskrieg mit den USA geschwächt ist, könnte das landesweit Unruhen bewirken und darüber hinaus Beijings Chancen schmälern, jemals die Wiedervereinigung Taiwans mit dem Festland zu erreichen – es wäre eine Kamikaze-Aktion. Die Taiwaner lesen ihre Zukunft gern an der Entwicklung der Dinge in Hongkong ab. Ein Verzicht auf Taiwan, mit rund 25 Millionen Einwohnern und einer Wirtschaft, die global zu den Top 25 zählt, wäre ein allzu hoher Preis für China.
Aber auch ohne dass die Volksrepublik in Hongkong eingreift, kann Hongkong China schaden: indem sich die Stadt für ein Duell zwischen Washington und Beijing rüstet. Mings Freund Pete arbeitet bei der Hongkong and Shanghai Banking Corporation (HSBC), einem der größten Bankhäuser weltweit. Höflich und gebildet, verkauft Pete Investmentfonds oder Sparpläne an wohlhabende Kunden und preist Hongkong als eine felsenfeste Finanzbasis an. Aber wenn er nun Woche für Woche maskiert an den Protesten teilnimmt, wirbt er um Unterstützung aus Washington. Er singt die Nationalhymne der USA, schwenkt eine kleine amerikanische Flagge und fordert, Präsident Donald Trump möge den besonderen Handels- und Finanzstatus, den die USA Hongkong gewähren, aufheben.
„Hongkong ist ein wichtiger Pfeiler für die chinesische Wirtschaft“, sagt Pete. „Wenn Hongkong fällt, wird auch Chinas Wirtschaft zusammenbrechen.“ Hongkongs Währung ist gekoppelt an den US-Dollar. Investitionen aus oder über Hongkong machten circa 70 Prozent der gesamten ausländischen Direktinvestitionen in China aus, erläutert Pete. Noch wichtiger sei: Der Status Hongkongs als regionales Finanz- und Geschäftszentrum mit hoch qualifizierten, englischsprachigen Arbeitskräften, freien Märkten und einem funktionierenden Rechtssystem ließe sich nicht ohne Weiteres durch eine andere chinesische Stadt ersetzen.
Am 27. November 2019 unterzeichnete Trump ein Gesetz, das amerikanische Sanktionen gegen chinesische und Hongkong-Beamte zulässt, die verantwortlich für Menschenrechtsverletzungen sind. Damit reagierte er auf Zehntausende Petitionen aus Hongkong und signalisierte, trotz lauten Protests aus Beijing, Unterstützung für pro-demokratische Aktivisten. Die bedeutendste Maßnahme mit dem Titel „Hong Kong Human Rights and Democracy Act“ verpflichtet das US-Außenministerium, den besonderen autonomen Status, den es dem Gebiet aus handelspolitischen Erwägungen gewährt, jährlich zu überprüfen. Seine Aufhebung könnte die Wirtschaft Hongkongs vernichten.
„Ich weiß, dass es Verrat ist, als Chinese China zu schaden, aber für unsere künftigen Generationen bin ich bereit, diese historische Schuld zu tragen“, sagt Ming. „Hongkong wird eines Tages sowieso zerstört werden, wir könnten es genauso gut jetzt im Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit tun, damit China dafür bestraft wird.“

Diese Perspektive verblüfft jene, die Chinas historische Verbindungen zu Hongkong schätzen. Eine Regierungsbeamtin erzählt dem Journalisten, die Demonstranten hätten durch Anarchie und Gewalt den Verstand verloren und wüssten nicht mehr, was sie tun, wenn sie sich an die USA wenden. „China ist deine Mutter, die USA sind ein Dieb. Wie kannst du einem Dieb die Tür öffnen?“
Der Selbstlose
Die Behauptung, dass die Demonstranten nur eine Minderheit darstellen würden, widerlegten Hongkongs Kommunalwahlen Ende November 2019. Bei einer Rekord-Wahlbeteiligung von mehr als 71 Prozent wurden in 17 von 18 Bezirken pro-chinesische Amtsinhaber durch pro-demokratische ersetzt. Die Hongkonger sind die Gewalt und die Störungen des öffentlichen Lebens zwar leid, aber noch mehr bringt es sie auf, wenn Polizisten Jugendliche in der U-Bahn verprügeln und Tränengas in Einkaufszentren abfeuern, oder wenn sie hören, dass Inhaftierte misshandelt worden seien.
Viele unterstützen die Demonstranten, führen aber ein Doppelleben, da sie mit China zusammenarbeiten.
Hao ist ein 42-jähriger Verkehrsmanager, der in jeder Woche beruflich auf dem Festland zu tun hat. Er hat noch nie gewählt oder sich für Politik interessiert. Aber in diesem Jahr haben ihn Szenen im Fernsehen, in denen zu sehen war, wie die Polizei junge Leute verprügelt hat, aufgewühlt von seiner Couch springen lassen. Jetzt fährt er bei Großveranstaltungen, oft mehrmals pro Woche, bis zu 18 Stunden lang durch Benzinbombenfeuer und Polizeiblockaden, um „den Kindern“ zu helfen, einer Verhaftung zu entgehen.

Haos Frau, die von zu Hause aus arbeitet und sich um die kleine Tochter kümmert, sagt: „Ich habe Angst, dass mein Mann eines Tages verhaftet werden könnte, aber ich bin auch sehr stolz.“ Das Paar hat überlegt, der Tochter zuliebe auszuwandern. „Aber wer würde dann Hongkong beschützen?“
Hao hat die Ersparnisse der Familie für Benzin, Parkgebühren, Tunnelfahrten und den Kauf von Vorräten für die Demonstranten aufgebraucht. „Geld kann man erneut verdienen, aber die verlorene Freiheit ist für immer verloren“, sagt Hao bei einer Fahrt durch das Protestgebiet.
Kein Weg zurück
Im Laufe der Monate wandelte sich der Protest gegen die chinesische Politik in einen Hass auf alle Chinesen. Demonstranten schlugen auf Anhänger des Establishments ein, traten und beschimpften Bürger der Volksrepublik, die sich kritisch zu den Protesten äußerten: „Geh zurück aufs Festland; fick deine Mutter!“ Die Demonstranten beschädigten chinesische Banken, Nachrichtenagenturen und Geschäfte. Sie hinterließen die Graffiti „Chinazi“ und „Zhina“; Letzteres ist ein Begriff der japanischen Besatzer, die im Zweiten Weltkrieg Chinesen vergewaltigten und ermordeten. Dass dieses zutiefst beleidigende Wort von Hongkonger Mitbürgern benutzt wird, schockiert die Festlandchinesen.
Ein virales Video zeigt einen 57-Jährigen, der sich mit Demonstranten streitet, die ihn daraufhin mit einer brennbaren Flüssigkeit übergießen und in Brand setzen. Auch auf Seiten der Polizei eskalieren die Einsätze. Bis Dezember hat sie nach eigenen Angaben mehr als 12 000mal Tränengas abgefeuert und mehrmals scharf geschossen. Sie hat einen Studenten fast am Herzen getroffen, einen anderen in die Leber. Die am meisten respektierte Polizei Asiens wird nun bespuckt. Fast überall hören die Beamten nun „Tod den Familien der schwarzen (das heißt: korrupten) Polizisten“ und „Ziel’ auf dich selbst!“
Als auf dem Höhepunkt der Gewalt die Hochschulen belagert wurden, unterstützte Ming die Demonstranten an der Chinesischen Universität. Tagelang kämpfte er, in der linken Hand einen Regenschirm und ein Feuerzeug, in der rechten eine Glasflasche mit einem Benzingemisch. 50 Brandsätze habe er allein an einem Tag geworfen, sagt er. Durchgereicht von einem Förderband aus Menschen. In einer Nacht habe die Polizei viermal mit Gummiprojektilen auf ihn geschossen: zweimal auf die Beine, einmal auf den Arm und einmal auf den Rucksack, als er davonlief. Dabei wurde eine Kamera zerschlagen, die er ins Feuer warf. Im Oktober hat Carrie Lam das geplante Auslieferungsgesetz offiziell zurückgezogen. Sie weigerte sich allerdings, auf die anderen vier Forderungen der Demonstranten einzugehen. „Zu wenig, zu spät“ lautete daher die kollektive Reaktion.

Während viele Hongkonger weiterhin friedlich für Veränderungen auf die Straße gehen, behaupten die Hardcore-Demonstranten, dass ihre Zerstörungspolitik den Druck aufrecht erhalte. Da die gewaltbereiten Protestierer erklärtermaßen „zusammen untergehen“ wollen, ist eine Eskalation programmiert.
Bei einem letzten Gespräch mit Ming, auf dem Dach eines Industriegebäudes, wo seine Stimme übertönt wird vom Geräusch der Ventilatoren, sagt er: „Früher brannte ich für das Ideal von Demokratie, aber nun erkenne ich, dass sie ein Mythos ist.“ Gibt es einen Weg zurück? Sieht er eine Chance, seine Gewalt zu beenden und die Unterwelt der Protestbewegung zu verlassen?
„Das geht nicht mehr. Ich stecke bereits zu tief im Kampf“, antwortet Ming und saugt an seiner Zigarette. „Wenn wir nicht gewinnen, dann kommen wir alle ins Gefängnis. Damit diese Bewegung Erfolg hat, müsste einer von uns sterben, dann wäre die Moral auf unserer Seite.“
*Alle Namen wurden geändert