Mitten in der überfülltesten aller Social-Media-Galaxien, dort, wo Sterne so schnell verglühen, wie sie entstehen, starrt eine junge Chinesin in einen Spiegel, der ihr sagt, dass sie die Schönste von allen ist.
Nai Nai wohnt seit Kurzem in Shanghai und teilt ihr Leben mit jedem, den es interessiert: Wo sie steht und geht, trägt sie ihr Smartphone an einem Selfie-Stick vor sich her und sendet online, was sie gerade tut. „Livestreamer“ wie sie sind in China so populär wie in keinem anderen Land.
Meistens wacht Nai Nai gegen Mittag in ihrer makellosen 20-Quadratmeter-Wohnung auf. Sie bestellt per App einen chinesischen Brunch, dann schminkt sie sich. Schließlich blickt sie wieder auf ihr Handy: In Echtzeit hellt eine App digital ihre Haut auf, vergrößert ihre Augen, moduliert ihr Kinn.
„Hallo, Freunde!“ Fröhlich spricht Nai Nai mit ihrem retuschierten Spiegelbild. Sehen kann sie ihre „Freunde“ nicht: hauptsächlich chinesische Männer zwischen 15 und 30 Jahren, aus allen Schichten der Gesellschaft. Aber Nai Nai erhält Nachrichten und digitale Geschenke von ihnen, sichtbar für alle, die sich in ihren Chatroom einloggen.

Botschaften gleiten über ihr Antlitz auf dem Bildschirm und sagen Nai Nai, „du bist schön“, „ich liebe dich“, zeig uns deine Beine“, „zeig uns deine Brüste“, „schlaf mit mir“ . . .
Wer während eines Livestreams neben Nai Nai steht, denkt mitunter, sie sei verrückt geworden: Es kann vorkommen, dass sie mitten im Satz das Thema wechselt, mit den Fingern ein Herzzeichen macht, mit einem „Danke, großer Bruder“ auf ein Geschenk antwortet und dazu in ihrer unnachahmlichen Art kichert.
Nai Nai reagiert auf mehrere Fan-Kommentare gleichzeitig, die über ihren Bildschirm huschen. Jedes ihrer Worte, jede Geste soll ihren Gönnern mehr Gaben entlocken.
Sie ist vielen eine virtuelle Freundin, aber niemandem eine treue Begleiterin. Die größte Aufmerksamkeit schenkt Nai Nai jenen Followern, die eine hohe Punktzahl haben, weil sie ihr viele digitale Geschenke machen: ein Flugzeug (13 Euro), eine Rakete (65 Euro), eine Superrakete (258 Euro). Deren Nachrichten sind größer, heller und bleiben länger auf dem Bildschirm sichtbar.
Die Präsente kosten echtes Geld und werden später zurückgetauscht. Eine Top-Livestreamerin, die geschickt auf Geschenke reagiert und den Geber vor den Augen aller feiert, kann viele Millionen Yuan im Jahr verdienen. Selbst ein mittelgroßer Star, wie Nai Nai es ist, kommt auf monatlich rund 80.000 Yuan netto, etwa 10.000 Euro. Das ist viel Geld für eine frischgebackene Hochschulabsolventin, die normalerweise weniger als ein Zehntel dessen erwarten könnte.
Kurtisane im Onlinereich
Nai Nais wirklicher Name ist ist Shiqi Gan. Sie kam 1996 auf die Welt, ein Jahr nachdem China das Internet für die Öffentlichkeit freigeschaltet hatte. Sie wuchs als Kind wohlhabender Eltern in Nanchang auf, einer mittelgroßen Stadt im Osten Chinas, und sie liebte es, zu tanzen. Mit elf Jahren ging sie auf eine strenge Tanzschule, später studierte sie an einer Kunsthochschule in Xi’an. Nach ihrem Abschluss im Jahr 2018 aber hatte sie keine Lust, wie ihre Kommilitoninnen Tanzlehrerin zu werden. Stattdessen begann sie, ihren Alltag mit dem Handy zu filmen und mit Livestreaming zu experimentieren. Seither nennt sie sich Nai Nai.
Ein Start-up in Shanghai wurde auf sie aufmerksam: Chuxin Entertainment, Ende 2016 von Borix Xu gegründet, einem früheren Wirtschaftsprüfer. Spezialisiert auf Livestreaming und digitale Geschenke, setzte Chuxin bereits im ersten Jahr mehr als 16 Millionen Euro um. Die gesamte Branche in China hat heute einen Marktwert von mehreren Milliarden US-Dollar.
Chinas Livestreaming-Plattformen zählten im Jahr 2018 rund 425 Millionen Nutzer – mehr als die Hälfte der chinesischen Internet-Teilnehmer. Immer mehr junge Chinesinnen wie Nai Nai streben eine Karriere als Livestreamerin an.
Chuxin Entertainment vertritt mehrere Hundert solcher Onlinestars. Die Agentur behält von Nai Nais Einnahmen zehn Prozent als Provision. Dafür bietet sie Unterstützung bei der Repräsentation, Produktionsplanung, Ausrüstung und Sponsorensuche.
Agenturchefin Zoe Dai sagt, sie habe Nai Nai wegen ihres natürlichen Aussehens ausgewählt, das noch unberührt sei von aller Schönheitschirurgie. Hinzu komme Nai Nais klassische Tanzausbildung, ihre Leichtigkeit im Auftreten. Aber vor allem wisse Nai Nai, wie man mit Männern spricht.
Borix Xu, der Gründer, drückt es unverblümter aus: „Als reicher Mann verstehe ich sofort, dass sie genau die Art von Mädchen ist, auf die wohlhabende Männer stehen.“
Er vergleicht eine gute Livestreamerin mit einer Kurtisane im kaiserlichen Japan und China, wo Verführung als Kunstform galt, geschliffen durch Training und Erfahrung. „Im Westen gibt es Stripclubs“, fährt Borix Xu fort, „aber die chinesischen Männer sind schüchterner. Sie wollen einer Frau erst durch Geschenke zeigen, dass sie Geld haben. Dabei entwickeln sie langsam genug Selbstvertrauen, um sich ihr zu nähern.“

Zwar kursieren zahlreiche Geschichten, dass reiche Männer als Gegenleistung für ihre Großzügigkeit sexuelle Gefälligkeiten erhalten, aber so etwas sei nicht im Interesse einer Livestreamerin, so Xu. „Sobald sie eine Beziehung mit einem Fan beginnt, reißen die Geschenke ab. Sex sollte ein nie erfülltes Versprechen bleiben.“
Die Agentur erkannte Nai Nais Potenzial. Obwohl sie noch eine Anfängerin war, bekam sie einen Dreijahresvertrag, eine Wohnung für 800 Euro Miete in Agenturnähe, eine Produktionsassistentin – und einen persönlichen Agenten, Jiabin Wang, 26. Denn mit Nai Nai würden sich neue Geschäftsfelder erschließen lassen.

Während die meisten Livestreamerinnen von zu Hause oder einem Studio aus senden, vermarktet sich Nai Nai als „Outdoor“Moderatorin. Es ist eine Nische, die normalerweise von männlichen Streamern besetzt ist, die zum Beispiel über Abenteuer, Autoshows oder Restaurants berichten. Nai Nai nimmt ihre Fans, die meist den ganzen Tag im Klassenzimmer oder im Büro hocken, zu virtuellen Spaziergängen mit, „damit sie rauskommen, besonders bei schönem Wetter“.
Dazu zählt ein Frühlingsausflug zur Kirschblüte; der Besuch eines Straßenmarktes, um stellvertretend für ihre Follower das Essen zu kosten; ein Tanzkurs, in dem sie zu koreanischem Pop schwitzt; ein Spaziergang entlang Shanghais berühmter Uferpromenade „The Bund“.
Dai, die Agenturchefin, prophezeit, dass Ausdauer Nai Nais größte Herausforderung sein wird: Viele Livestreamerinnen gäben aufgrund der unerbittlich langen Arbeitszeiten nach einigen Monaten auf.

Profis sind sechs bis acht Stunden täglich online. Streamingfreie Zeiten bedeuten noch längst keine Pause. Denn von den Streamerinnen wird erwartet, ihre großzügigsten Fans auch in privaten Chats zu umgarnen, ihren Sorgen zu lauschen oder mit ihnen Videospiele zu spielen.
Als Vorbild für Nai Nai nennt Xu den größten Star seiner Agentur: He Jin, eine 22-jährige Sängerin aus der süd-westchinesischen Stadt Chongqing. Sie verdient umgerechnet 640.000 Euro netto im Jahr und ist kürzlich in eine schicke Wohnung im Zentrum Shanghais gezogen, mit einem eigenen Zimmer für ihre drei Katzen.
Doch während He Jin online eine Schönheit ist, wirkt sie im wirklichen Leben gebrochen. Sie klagt, dass sie unter chronischem Stress leidet, unter schmerzhaften Perioden und Haarausfall. Da die Zahl ihrer Follower nachts am größten ist, muss sie bis in die frühen Morgenstunden arbeiten. Sie ist in so schlechter Verfassung, dass Jins Mutter eingeflogen ist, um sich dauerhaft um den Internet-Star zu kümmern.
Der Megastar im Ferrari
Trotz allen Geredes über reiche Fans – Nai Nais Ritter auf dem weißen Pferd kommt völlig unerwartet aus einer ganz anderen Richtung.
Drei Tage nach Neujahr 2019, Nai Nais Liveübertragung verfolgen gerade mal 800 Fans, erscheint ein Überraschungsgast auf ihrem Bildschirm: Bo Jiang, einer der beliebtesten „Outdoor“- Streamer in China. Öffentlich lädt der 25-Jährige Nai Nai zu einer gemeinsamen Onlineshow ein.
Es ist, als würde sie von einem berühmten Popstar zum Duett gebeten.
Bo ist aus Wuhan, Zentralchina, zu Besuch in Shanghai, um eine Auszeichnung entgegenzunehmen. Und nebenbei will er schnell eine Sendung mit einer Co-Moderatorin machen. Durch eine App, die aktive Livestreamer in der Nähe lokalisiert, hat er Nai Nai gefunden. Er hält nicht viel von ihrem Auftritt, findet sie aber hübsch genug.
Nai Nai kann ihr Glück kaum fassen. Schnell ruft sie ihren Agenten an und bittet um Zustimmung. Binnen wenigen Minuten tritt sie mit Bo vor seinen 1,24 Millionen Onlinefans auf.
„Ich war so nervös“, erinnert sie sich. „Ich war eine Anfängerin und Bo Jiang ein Megastar mit großer Ausstrahlung.“

Vor den Augen ihrer Follower erscheinen Nai Nai und Bo auf einem geteilten Bildschirm. Sie wählen eine Spielfunktion, mit der sich zwei Streamer online duellieren können. Um ihre Fans zu beeindrucken, beschließen sie, ihre jeweilige Schlagfertigkeit zu testen. Während die Kontrahenten versuchen, einander mit witzigen Fragen und Antworten zu übertrumpfen, zeigt ein Balken oben auf dem Bildschirm die Bewertung an. Sie wird in Echtzeit errechnet anhand der Geschenke, die von den Followern eingehen.
Obwohl Bo 1.500 mal mehr Fans hat als Nai Nai, wechseln viele im Verlauf des zehnminütigen Wettkampfs auf ihre Seite. Als Strafe für Bos Niederlage fordern die Follower, dass er Nai Nai eine Packung Tampons überreichen müsse. Eine in China nicht ungewöhnliche Form der Demütigung.
Bo gehorcht.
Als er Nai Nai in ihrer Wohnung besucht, findet er sie noch schöner als ihre digital retuschierte Version, wird er später erzählen. Er flirtet, setzt sich auf ihre Matratze und testet deren Federkraft. Schließlich lädt er sie vor den Augen ihrer beiden Fangemeinden zum Abendessen ein.

Draußen vor dem Wohnblock wartet Bos weißer Ferrari 458: Höchstgeschwindigkeit 325 km/h und ein für die meisten unvorstellbarer Preis von mehr als 600.000 Euro.
Bo filmt sich, während er mit einer sanften Bewegung den Sicherheitsgurt um Nai Nais schmalen Körper legt. Doch damit endet seine Galanterie. Er weiß nicht, wie der Rest des Wagens funktioniert. Nach ein paar Minuten gelingt es ihm zwar endlich, den Motor zu starten, aber den Schalter, um das Seitenfenster zu schließen, findet er nicht. Als er Gas gibt, wird Nai Nai von eisiger Winterluft umfangen. Bo steuert die Zapfsäule einer Tankstelle an, rollt zu weit und schafft es dann nicht, den Ferrari zurückzusetzen.
Vor laufender Kamera macht sich Nai Nai über Bo Jiangs Unbeholfenheit lustig. Es ist ganz offensichtlich, dass der schicke schnelle Wagen dem Megastar nicht gehört.
„Bo wollte mich beeindrucken, aber dabei verknotete er sich Arme und Beine“, erzählt sie später lachend. Seine Attraktivität bewertet sie mit fünf von zehn Punkten.
Während beide live senden, fahren sie in den angesagtesten Stadtteil von Shanghai. Sie essen Teigtaschen mit einem anderen Livestreamer-Paar, das ebenfalls in einem weißen Ferrari gekommen ist.
Nai Nai ist zwar unbeeindruckt von Bo, aber überwältigt von dem Erfolg, den er ihr beschert. Innerhalb weniger Stunden ist die Zahl ihrer Follower auf mehr als 12.000 hochgeschnellt. Das reicht aus, um sich ein Leben in Chinas glitzerndster Stadt leisten zu können. Zweimal trifft sie ihn in den folgenden Tagen noch, dann fährt Bo zurück nach Wuhan.

Für seine Fans ist Nai Nai nur ein weiteres hübsches Mädchen, das, kaum dass es Bos Livestream-Welt betreten hat, auch schon wieder durch die Drehtür hinaus ist.
Aber das echte Leben ist chaotischer. Bo kann dieses Mädchen nicht vergessen. Er umwirbt sie per SMS, und in den frühen Morgenstunden, nach ihren Livestreaming-Sessions, spielen sie zusammen online Videospiele.
Nai Nai schmilzt dahin.
Als es Februar wird, bittet Bo sie, mit ihm am Valentinstag auszugehen, online begleitet von ihren Fans. Nai Nais Agent Wang hat Bedenken gegenüber diesem zudringlichen Mann, aber Nai Nai fühlt, dass dies ein Angebot ist, das weder ihr Herz noch ihr Verstand ablehnen können. Schließlich gewinnt sie bei jedem Kontakt zu dem Megastar viele neue Follower.
Ihr Agent ermahnt sie, sich möglichst unnahbar zu geben und auf keinen Fall wie Bos Freundin zu wirken: Die Währung einer Livestreamerin ist ihr Sex-Appeal – und sie verfällt, wenn das zumeist männliche Publikum sie in einer Beziehung sieht.
Aber Nai Nai hört nicht auf Wang. Während eine Million Follower zusehen, zeigt sie Bo ihre Gefühle.
Sofort greifen Nai Nais eifersüchtige Fans den Megastar und seine Anhänger verbal an. Ein wahrer Nachrichtenkrieg entbrennt, der Valentinsabend ist endgültig vermasselt. Bo Jiang beendet den Livestream im Zorn.
Zum Geburtstag ein Fake-Fan
Zu Nai Nais 23. Geburtstag im März lädt Agent Wang „ungefähr 12 ausgewählte Verehrer“ aus ihrer mittlerweile 40.000-köpfigen Fangemeinde in ein gehobenes Restaurant ein. Der Abend soll live übertragen werden, die Follower sollen mit Onlinegeschenken gratulieren. Als der Sendetermin näher rückt, wirken Nai Nai und Wang enttäuscht: Nur zwei der 12 eingeladenen Follower sind gekommen. Um die Zahl zu erhöhen, gibt sich Wang als Fan aus.
Nai Nai und die drei Männer sitzen am Kopfende der Tafel, die Kamera ist so ausgerichtet, dass die Runde voller wirkt. Wang spricht mit Nai Nai, als würde er ihr zum ersten Mal begegnen.

Einer der beiden anderen Gäste nennt sich „Monster“ und ist aus Suzhou gekommen, eineinhalb Autostunden entfernt. Der adrett gekleidete 29-Jährige schenkt Nai Nai mit zärtlicher Geste ein gold-silbernes Swarovski-Armband.
Er ist Gründungspartner einer Agentur, die sich auf die Innenausstattung von Boutiquehotels spezialisiert hat. Seiner Freundin hat er gesagt, er sei bei einem Geschäftstermin in Shanghai. Sie ahnt auch nichts von all der Zeit, die „Monster“ online mit Livestreamerinnen verbringt, geschweige denn, dass er bis zu einem Fünftel seines monatlichen Verdienstes von 13.000 Euro für digitale Geschenke ausgibt.
Nach einem langen Arbeitstag und Onlinechats mit Freunden finde er bei Livestreamern Entspannung, erklärt „Monster“. „Ich habe online eine Existenz, die so virtuell wie ein Videospiel ist, isoliert von meinem Leben offline.“ Das Armband, das er der leibhaftigen Nai Nai geschenkt hat, scheint er vergessen zu haben.
Der andere Gast, der 24-jährige Videospieldesigner „Number One“, teilt seine Shanghaier Mietwohnung mit zwei Freunden und trägt Basketball-Klamotten. Trotz seines bescheidenen Monatseinkommens von knapp 2.000 Euro ist er Nai Nais größter Gönner.
Die beiden Fans sprechen wenig und ziehen es vor, hauptsächlich mit ihren Telefonen zu interagieren. Als Nai Nai vor ihnen steht und ihre Geburtstagskerzen ausbläst, verfolgten sie das auf ihren Bildschirmen.
Nach dem Abendessen bringt Nai Nais Agent Wang die Gruppe zu einem Spukhaus. In den finsteren Räumlichkeiten geistern Männer mit weißen Laken über dem Kopf herum und machen dabei Gespenster-Geräusche. Nai Nai schreit und bebt vor lauter Schreck, während sie ihr Gesicht mit der Handykamera filmt.
„Ihre Fans lieben es, sie verängstigt zu sehen“, erklärt Wang.
Heiss-kalt in Wuhan

Am Nachmittag des nächsten Tages kommt Nai Nai in die Agentur, übersprudelnd wie.immer.In dem schicken Start-up arbeiten 100 junge Leute, die Eingangstür öffnet sich ihnen per Fingerabdruckerkennung. An Nai Nais Zukunft arbeitet ein ganzes Team: Ihr Agent Wang, eine Planerin, eine Produzentin, eine Assistentin und ein Kreativer. Jeder läuft mit mindestens zwei Telefonen gleichzeitig herum, um für Nai Nai Events und Sponsoren zu organisieren. Auch Inhaber Xu schaut vorbei, um nach seinem wichtigsten Nachwuchsstar zu sehen.
Mitten im Gespräch starrt Nai Nai plötzlich auf ihr Telefon. Sie reicht es an ihren Agenten weiter.
Bo hat ihr eine Nachricht geschickt.
Der Megastar lädt sie nach Wuhan ein, um an einer Art Militärtraining teilzunehmen, drei Tage lang. Fünf weitere Livestreamer aus ganz China werden dabei sein, die meisten Megastars wie Bo, mit jeweils mehr als einer Million Fans – und entsprechenden Millionenumsätzen.
Die Wettbewerber haben sich offenbar zusammengetan, um ihre Follower mit ungewöhnlichen Einfällen bei Laune zu halten. Denn die drohen zu neueren Formen der Onlineunterhaltung überzulaufen.
„Livestreaming ist nicht mehr das, was es zu seinen Anfängen vor vier Jahren war“, erklärt Bo später. „Damals konnte man senden, was man wollte, und einen Haufen Geldv erdienen.“
Bo bittet Nai Nai, in weniger als 24 Stunden in Wuhan zu sein.

Während Nai Nais Team all ihre Termine für die Woche absagt, nimmt ihr Agent Wang sie für ein langes Briefing zur Seite: Nai Nai solle diesmal gegenüber Bo distanziert bleiben und auf keinen Fall wieder online ihre Zuneigung offenbaren.
Am nächsten Morgen erwischt Nai Nai in allerletzter Sekunde den Hochgeschwindigkeitszug nach Wuhan. Sie trägt ein hochgeschlitztes schwarzes Kleid und schminkt sich, als sie vier Stunden später in die gläserne Halle eines 20-gleisigen Bahnhofs einfährt.
Nervös sieht sie sich nach Bo Jiang um. Aber der Megastar ist nirgendwo zu entdecken. Nai Nai zerrt ihren Koffer durch die dichte Menge der Wartenden, läuft vorbei an aufdringlichen Taxifahrern und durch einen überfüllten Busbahnhof.
Endlich, da steht er, weit entfernt. In alten Klamotten lehnt er an einem zerkratzten roten Hyundai, den er auf dem Bürgersteig geparkt hat. Er wartet, bis Nai Nai bei ihm ist.
Das Auto ist voller leerer Dosen, Flaschen, Einkaufsbelege. Die edle Ferrari-Kutsche hat sich in eine alte Gurke verwandelt, und Prince Charming ist das offenbar egal.
„Ich habe sie nur eingeladen, weil wir noch ein weiteres Mädchen brauchten“, erklärt er kühl, während Nai Nai neben ihm auf dem Beifahrersitz sitzt, die nackten Knie ihm zugewendet.

Aber abends, als die beiden in einem Meeresfrüchterestaurant mit Bos Team den Ablauf der folgenden Tage diskutieren, streiten sie wie ein Liebespaar. Bo hat eine Nachricht auf Nai Nais Handy entdeckt. Er schnappt sich das Gerät und schiebt die protestierende Nai Nai zur Seite, um den Text zu lesen. Als Bo hinausstürmt, rennt Nai Nai hinterher.
Durch das Restaurantfenster kann das Team die beiden im sanften Regen streiten sehen. Nai Nai schluchzt, und mit mürrischer Miene saugt Bo derweil an seiner Zigarette. Als er sich abwenden will, zieht sie ihn an sich. Schließlich kehren die beiden zu den anderen zurück, als wäre nichts gewesen. Die heiß servierten Meeresfrüchte sind inzwischen kalt geworden.
»Old Metal«, der Goldjunge
Die anderen Livestreamer, alle ungefähr in Nai Nais und Bos Alter, treffen am nächsten Morgen ein. Der berühmte Komiker „Old Metal“ ist mit Freundin Amy aus der Industriemetropole Shenyang eingeflogen; „Ya Ya“, ein Sänger mit grünen Haaren und rosafarbenen Kontaktlinsen, kam mit dem Zug aus Nanjing; „Face Mask“, ein Sportwagenspezialist in Louis-Vuitton-Turnschuhen, fuhr aus der Küstenprovinz Fujian hierher; der einzige Einheimische ist „Big Uncle“, ein scharfzüngiger Redner und Bos Geschäftspartner.

Gastgeber Bo, Künstlername „Righteous Host“, Gerechter Moderator, hat in einem chinesischen Restaurant einen Raum reserviert. Bevor sich alle setzen, installiert die Hälfte schon ihre Smartphones auf Ministativen. Dann erzählen sie ihren Fans euphorisch von den bevorstehenden Abenteuern, und es regnet Geschenke.
"Old Metal“ ist ein Onlinewunder. Er hat früher in einer Kugellagerfabrik pro Monat 290 Euro verdient, jetzt ist er dank seines Humors einer der angesagtesten Livestreamer. Im Vorjahr haben ihm Dutzende Millionen von Geschenken 390.000 Euro Gewinn eingebracht. Genug, um eine Wohnung zu kaufen und einen Mercedes E 300. „Bald kann ich die Kugellagerfabrik kaufen“, scherzt er mit heiserer Stimme.
Ein Erfolg, der verwundert, wenn man mal mit „Old Metal“ am Esstisch sitzt. Zwischen den Zügen an seiner Zigarette öffnet der übergewichtige 26-Jährige Bierflaschen mit den Zähnen, nimmt daraus tiefe Schlucke und rülpst.
Bo erklärt: „Reiche Jungs aus weniger angesagten Städten lieben es, „Old Metal“ zuzuschauen und sich dann wie der von hübschen Mädchen antörnen zu lassen. Für sie ist er einer von ihnen, und sie wollen ihn mit ihren Geschenken unterstützen.“
Die Macht der Fans

Am nächsten Morgen melden sich die Livestreamer bei einem ehemaligen Militärstützpunkt, der hauptsächlich von Unternehmen für Teambuilding Zwecke genutzt wird. Sie ziehen Uni formen an. Ein früherer Soldat wird sie drei Tage lang drillen. Er lässt sie durch Schlamm waten, „Krieg“ führen und rüttelt sie zu Nachteinsätzen aus dem Schlaf. Bos Assistenten übertragen die Aktionen live über dessen Smartphone und halten einen Lautsprecher daneben, aus dem Militärmusik schallt.
Hunderttausende Fans sehen zu.
Zusätzlich zu den Anweisungen des Soldaten können die Follower weitere „Bestrafungen“ verlangen: 50 Liegestütze für 20 Flugzeuge (260 Euro), 30 Sekunden in der Hocke für 99 Raketen (130 Euro). Bo, der Athletischste von allen, ist stets der Held. Die zarte Nai Nai ächzt und weint – zur Freude der Fans.
„Fans wollen ihre Idole wie in einem Spiel kontrollieren. Sie sind deine Gönner und Kritiker, du bist ihre Geisel“, sagt Bo.

Trotz seiner Popularität ist Bo nicht so reich, wie es scheint. Er braucht das Militärtraining dringend, um Werbung für sich zu machen, denn der jährliche „Wettkampf der Idole“ steht bevor.
Bo, Nai Nai, „Old Metal“ und die anderen werden von der Plattform „Douyu“ gehostet, übersetzt „Kämpfende Fische“. Hunderttausende Streamer sind dort vertreten. Aber noch beeindruckender ist die Zahl der registrierten Zuschauer, um deren Aufmerksamkeit sie buhlen: mehr als 200 Millionen.
Douyu veranstaltet Wettkämpfe, bei denen Livestreamer ihre Fans anfeuern, ihnen so viele Geschenke wie möglich zu schicken. Denn wer es auf der Rangliste ganz nach oben schafft, wird reich und berühmt.
Ehrgeizige Streamer wie Bo kaufen sich deshalb oft auch selbst Geschenke. Die Plattform lässt sie gewähren, denn schließlich behält sie beim Umtausch der virtuellen Gaben in echtes Geld satte 50 Prozent für sich ein.
Mit Geschenken im Wert von über fünf Millionen Euro schaffte es Bo 2018 auf die vorderen Plätze. Aber die Hälfte davon hatte er selbst finanziert, von geliehenem Geld. Nach Abzug der Hälfte für die Plattform blieb ihm kein Gewinn. Als dann auch noch 390.000 Euro an Steuern fällig wurden und 130.000 Euro an Produktionskosten für seine Shows, stürzte er tief in die roten Zahlen. „Ich konnte mir nicht einmal ein Auto kaufen“, sagt Bo und fügt hinzu, dass der zerkratzte rote Hyundai nicht ihm gehöre.
Trotzdem: Sein Wetteinsatz habe sich gelohnt, der eroberte Spitzenplatz würde sich 2019 auszahlen, so der Megastar. Doch der Wettbewerb ist unerbittlich, und er muss ständig nach Wegen suchen, um sich finanziell über Wasser zu halten.
Gefühle verboten

Jede Nacht kehren die Livestreamer durchnässt von Regen und Schweiß in die Baracken zurück. Der Schlafsaal der Frauen riecht dezent nach Seife und Parfüm, das Männerzimmer stinkt nach Zigarettenrauch und ungewaschenen Füßen. Trotzdem schleicht sich Nai Nai herüber und zwängt sich neben Bo zwischen die Bierflaschen. „Obwohl er mit vielen schönen Mädchen zusammenar beitet, behandelt er mich anders und sagt seinen Followern nette Dinge über mich“, erklärte sie.
An einem späten Abend, als die Kameras ausgeschaltet sind, vertraut Bo den anderen Männern an, dass seine Gefühle für Nai Nai tatsächlich echt seien. Aber er sei sich nicht sicher, ob oder wie er diese online teilen könnte. „Die Einsätze sind immens“, sagt er. „Wenn du dich verliebst und die Fans dich mit ihren Geschenken noch ermutigen, vermischen sich die Hochgefühle, die der Applaus auslöst, mit dem Kitzel der Liebe. Aber wenn die Emotionen dann kippen und die Fans dich plötzlich attackieren, dann stürzt du tief."
Tatsächlich ist der Einsatz für Bo zu hoch. Nai Nai hält sich wieder nicht an die Regeln ihres Agenten und spielt weiter Bos Liebste. Das ist ihr Untergang.
Fans beider Seiten beginnen einen gehässigen Nachrichtenkrieg. Bos Follower behaupten, dass Nai Nai andere Co-Moderatorinnen verunglimpfe, was ihr den Zorn aller einbringt. Angreifer posten, Nai Nai sei „hässlich“, „flach brüstig“, oder „Bos nicht würdig“. Und sie „lache zu viel“.
„Ich leide sehr unter dem, was die Leute schreiben, vor allem meine loyalen Fans“, sagt Nai Nai.
Sogar „Monster“, ihr treuester Follower, wendet sich von ihr ab. „Mal ehrlich, man kann nicht die ganze Zeit auf dasselbe Gesicht starren“, erklärt er.

Als der Tumult immer größer wird, erhält Nai Nai auch keine tröstenden Nachrichten von ihrem Helden mehr. Bo sagt, er sei zu beschäftigt. Und wer, wie Nai Nai, seinem Livestream folgt, kann sehen, dass er tatsächlich sehr be schäftigt ist. Damit, anderen Mädchen hinterherzujagen, die so schön sind wie Nai Nai.
Dabei haben die Frauengeschichten auch wirtschaftliche Gründe. Bos Manager erklärt, dass angestammte Unterstützer es bejubeln, wenn ihr Held eine ganze Entourage von Mädchen hat. Gleichzeitig gewinnt Bo aus den Fan gemeinden der Mädchen neue Follower hinzu.
Endlich Abschalten

Nai Nai, enttäuscht und niedergeschlagen, verkündet ihren Ausstieg. In den frühen Morgenstunden des 1. Mai schreibt sie: „Ich verlasse euch alle und hoffe, dass das Schicksal uns eines Tages wieder zusammenbringt.“
Der Aufschrei ihrer Follower, die nach Erklärungen verlangen, bleibt unbeantwortet.
Stattdessen wacht Nai Nai erst spät am Nachmittag des nächsten Tages auf. Sie fühlt sich frei und bereit für einen Neuanfang. Mit Bo Jiang ist sie endgültig fertig. Zwei Tage lang zieht sie mit einer Freundin, die sie von der Tanzschule her kennt, durch Shanghai. Vielleicht wird sie doch noch das Tanzen zum Beruf machen, überlegt sie. „Mit dem Livestreaming aufzuhören, fühlt sich so richtig an.“
Aber so einfach ist es nicht.
Agent Wang gibt Nai Nai zwei Tage, um „Druck abzulassen“, bevor er sich mit ihr trifft. Als sie weint, tröstet er sie. Dann erinnert er sie an ihren Dreijahresvertrag und dessen ruinöse Kündigungsklauseln, Verlust der Wohnung inbegriffen. „Unser Unternehmen wür de niemals jemanden so einfach ziehen lassen“, sagt Wang.
Am nächsten Tag wacht Nai Nai auf, schminkt sich und schaltet ihren magischen Spiegel ein.
Hallo, Freunde“, sagt sie.
Nachrichten treffen ein, begleitet von Geschenken, die ihr signalisieren: Nai Nai, du bist immer noch die Schönste von allen.