Verborgene Prüfsteine der Arktis
Baffin Island, 15. Mai 2008: Eigentlich müssten die fünf Männer zufrieden sein, glücklich sogar. Tagelang haben sie in der senkrechten Welt der "Bastions" gelebt: in einer Granitwand, die an der Küste des Buchan Gulf etwa 700 Meter hoch über das arktische Packeis ragt.
An diesem Felsmassiv sind die Kletterer immer weiter emporgestiegen - sich ständig bewusst, dass schon ein einziger Fehler den Absturz bedeuten könnte. Sie haben gefroren, geschuftet, ihre Hände zerschunden, Steinschlag ertragen, in hängenden Zelten verschnauft. Und schließlich, bei Windstille und im Schein der Polarsonne, doch noch den Gipfel erreicht - einen Punkt, an dem bis dahin noch kein Mensch gestanden hatte.
Dies war ihr Traum; er hat sich endlich erfüllt. Sie haben die Ruhe genossen, die Aussicht auf die menschenleere Weite von Baffin Island, auf diese riesige, weltenferne Insel im kanadischen Eismeer; und nach einer Stunde etwa haben sie sich wieder abgeseilt bis zum Wandfuß.
Sie könnten sich ausruhen. Aber sie wissen, dass sie längst nicht in Sicherheit sind. Im Gegenteil, die größten Strapazen werden jetzt erst beginnen. Denn die Kletterer müssen mit ihren 75 Kilogramm schweren Schlitten noch bis zur nächsten Siedlung marschieren: nach Clyde River, 350 Kilometer entfernt.
Ihr Weg dorthin führt über die eisbedeckten Fjorde von Baffin Island. Doch das Packeis beginnt schon zu schmelzen. Mit jeder Stunde mehr wird die Zuversicht brüchiger, hier unbeschadet wieder herauszukommen.
Statt Walfängern und Kapitänen landen nun Bergsteiger auf der Insel
Vier Wochen zuvor: Minus 20 Grad Celsius zeigt das Thermometer, als die Turboprop-Maschine mit dem Expeditionsteam an Bord in der winzigen Inuit-Siedlung Pond Inlet landet, ganz im Norden von Baffin Island. Von hier aus wollen die Extrembergsteiger Stefan Glowacz und Robert Jasper, begleitet vom Fotografen Klaus Fengler und den Kameramännern Holger Heuber und Mariusz Hoffmann, in den Fjorden der Insel nach niemals bezwungenen Felstürmen suchen.
Was diese Formationen so herausfordernd macht, ist nicht ihre Gipfelhöhe - die ist verglichen mit dem Mount Everest oder dem Nanga Parbat fast lächerlich klein. Besonders hoch und steil aber sind die Wände der Felsen; und bei den extremen Wetterbedingungen in der Arktis machen sie jeden Aufstieg zum Wagnis.
Als die fünf Kletterer aus dem Flugzeug steigen, brennt die trockene Luft schon nach wenigen Atemzügen in ihren Lungen. Auf dem Weg in die Siedlung beginnen ihre Nasen zu bluten, so kalt ist es. Trotzdem spielen Kinder auf den vereisten Straßen Fußball, die Pelzkrägen ihrer Jacken geöffnet. Niemand trägt eine Mütze. Dies sei, sagen die Inuit, der erste wärmere Tag nach einem langen und harten Winter: der Anfang des Frühlings.
"Mittimatalik"
"Mittimatalik" nennen die Bewohner Pond Inlet: Landeplatz. Die Insel, auf der er liegt, erhielt ihren Namen nach dem britischen Entdecker William Baffin, der 1615 die Südküste und 1616 die Ostküste absegelte. Ihm folgten wagemutige Kapitäne wie John Ross, William E. Parry, John Franklin und Roald Amundsen, die auf der Suche nach einem schiffbaren Weg durch das Eismeer auch die Küsten von Baffin Island erforschten, später kamen Walfänger und Missionare.
Dass nach Seefahrern, Händlern und Geistlichen nun auch Bergsteiger wie Glowacz und Jasper ins Land der Inuit reisen, geht auf den amerikanischen Fotografen Eugene Fischer zurück. Dieser erkundete 1992 Baffin Island zu Fuß und per Flugzeug - und berichtete: "Unter der Polarsonne liegt eine Insel, von der Zeit vergessen und von Menschen unberührt. Doppelt so groß wie Großbritannien, hütet dieser Riese des Nordens ein wundervolles Geheimnis. Nördlich des Polarkreises ist die Küste von Baffin Island über 560 Kilometer von wilden Fjorden und Gletschertälern geformt, die einige der höchsten und steilsten Felswände der Erde verstecken. Es ist schier unglaublich, dass es in einem Zeitalter der Grenzenlosigkeit eine derartige unerforschte Arena gibt, die auf die kommende Generation von Kletterern wartet."
Seit Stefan Glowacz diese Zeilen gelesen hat, träumt er davon, Baffin Island mit eigenen Augen zu sehen. Auch seinen drei Jahre jüngeren Seilpartner Robert Jasper hat der 43-jährige Profi-Bergsteiger aus Garmisch-Partenkirchen nicht lange zu diesem Plan überreden müssen.
In der Abgeschiedenheit Baffin Islands, in der bisher weniger Kletterrouten eröffnet worden sind als in einer einzigen großen Gebirgsflanke der Alpen, suchen Jasper und Glowacz nach einer Wand, möglichst hoch, möglichst steil, möglichst glatt, möglichst abgelegen - und doch so strukturiert, dass man sie ohne technische Hilfsmittel erklimmen kann: "Frei" wollen sie klettern, Seil und Haken nur zur Sicherung nutzend, allein auf die Kraft ihrer Finger, der Arme, der Füße vertrauend. Dafür sind die Bergsteiger in die Arktis gereist: um der Geschichte der Höchstleistungen ein kleines, aber neues Kapitel hinzuzufügen.
Zunächst allerdings müssen sie in Pond Inlet fünf Tage ausharren: sich an die Kälte gewöhnen, die 750 Kilogramm schwere Ausrüstung sortieren und Informationen sammeln - über die beste Route nach Südosten, an der Küste entlang zu den Felswänden des Buchan Gulf, die ihnen schon auf der Karte so vielversprechend zum Klettern erschienen, dann weiter hinab bis Clyde River. Und wenn ihr Zeitrahmen und das Packeis es zulassen, wollen Jasper und Glowcacz auf dieser letzten Etappe auch einige der tief eingeschnittenen, kaum von Menschen erkundeten Fjorde nach weiteren alpinistischen Herausforderungen absuchen.
Im Fels wie im Packeis: jeder Meter ein Sieg
Nach fünf Tagen Fahrt durch das Eis erreichen die Kletterer mit ihrem Konvoi endlich den Buchan Gulf, den eine britische Expedition 1937 erforscht und kartiert hat.
Gleich am Eingang des Golfes türmen sich die "Bastions" auf: ein Felsmassiv, dessen Südwand aussieht, als wäre sie mit Schmirgelpapier geschliffen. Einer überdimensionalen Haifischflosse gleich, ragt sie aus dem Eis, lotrecht vom ersten Meter an. "Ein wahres Juwel", meint Robert Jasper.
Am Wandfuß errichten die fünf Männer aus Schneeblöcken, Skiern, Skistöcken und einer Plastikplane ein winziges Refugium für die kommenden Tage, in denen die Bergprofis Glowacz und Jasper routiniert ihrer Arbeit nachgehen: Abwechselnd arbeiten sie sich den kompakten Fels hinauf. Sie folgen der Linie, die ihnen von Rissen im Granit vorgegeben wird. Denn nur dort, wo sich das Gestein zu Spalten öffnet, ist es möglich, Haken und Klemmkeile anzubringen, um sich selbst und den Kletterpartner zu sichern. Abends fixieren die Bergsteiger ihre Seile am höchsten erreichten Punkt und seilen sich wieder zu ihrem Lager am Wandfuß hinab.
Zwischen 50 und 150 Meter pro Tag kommen sie so voran; die Männer hangeln sich wacklige Schuppen hinauf, schleichen über glatte Platten, an denen sie bloß auf die Reibung ihrer Kletterschuhe vertrauen können.
Trotz der widrigen Temperaturen ziehen sie in der Wand ihre Handschuhe aus, um winzige Vorsprünge besser ertasten zu können. Und immer wieder müssen sie zunächst vorsichtig Eis, kleine Kiesel oder gefrorenen Sand aus den Felsrissen kratzen, um sich dann mit Fingern, Händen, manchmal sogar mit dem ganzen Körper im Gestein zu verkanten - und zentimeterweise weiter nach oben zu stemmen. Alle paar Tage jedoch zwingen Schneestürme sie zu Untätigkeit. Und selbst an schöneren Tagen bleibt es in der Wand bitterkalt.
Sonntag, 11. Mai 2008: Als Glowacz und Jasper zwei Drittel der Felswand erklommen haben, erreichen sie ein Gesteinsband aus Eisenkristallen, vielleicht einen halben Meter breit, das die Bastions umschlingt wie ein rostiger Gürtel. Von nun an wäre es zu strapaziös, jeden Abend wieder zum Wandfuß hinabzusteigen. Für ein normales Zelt aber ist der Vorsprung viel zu schmal. Also bauen die Kletterer "Portaledges" auf - Zelte auf Aluminiumgestellen, die in die senkrechte Wand gehängt werden können. Von diesem ausgesetzten Nachtlager aus wollen die Abenteurer die Gipfelwand erschließen.
Drei Nächte lang schlafen Glowacz, Jasper und die drei anderen Schulter an Schulter, einen halben Kilometer über dem Abgrund. Sie bleiben jederzeit angeseilt. Ihre Schlafsäcke, ihre Kunstfaserjacken und -hosen haben sie seit Wochen nicht mehr gewaschen; einer schnarcht in das Ohr des anderen. Doch die Kletterei ist so anstrengend, dass die Bergsteiger genügend Schlaf finden.
Zum Glück bleibt das Wetter nun vier Tage stabil. Lange genug, um den Gipfel zu erreichen. Lange genug, um die meisten Passagen der Route "frei" zu durchsteigen, also ohne sich an Haken oder Keilen hochzuziehen. Aus eigener Kraft meistern Glowacz und Jasper fast jeden Meter - bis zum höchsten Punkt der Bastions.
Der beschwerliche Weg zurück zermürbt die Moral der Abenteurer
15. Mai 2008: Sie sind auf dem Rückweg. Und denken an die zwei Wochen, die sie in der Vertikalen verbracht haben. In der Leere der Arktis war ihnen der Fels der Bastions zu einer willkommenen Zuflucht geworden - ein Rückhalt, der das Unwirkliche um sie herum erträglich machte: das Nebelmeer, das tagelang von einem Deckel kalter Luft am Boden gehalten wurde. Die Mitternachtssonne, die den Granit rötlich beschien. Das reine, unberührte, blau schimmernde Eis - das ihnen nun zusehends unter den Füßen wegtaut.
Eiskalt ist der Wind aus Nordwesten, er treibt Schneefahnen vor sich her, verklebt die Haare und Bärte der Männer mit Raureif. Dennoch freuen sie sich. Denn nun können sie wenigstens ihre "Kites" auspacken: elf Quadratmeter große Lenkdrachen, von denen sie sich auf Skiern über das Eis ziehen lassen. An manchen Tagen legen sie damit bis zu 40 Kilometer zurück: Sie springen über Risse, durch die das Meerwasser dringt, rasen die Eisschollen entlang, umsteuern tückische Schmelzwasserlöcher und tiefblaue Seen.
2. Juni 2008: Kaum jemand nimmt Notiz von den fünf bärtigen Männern, die auf Clyde River zulaufen. Am Himmel ziehen sich dunkle Wolken zusammen. Bald wird wieder ein Sturm aufziehen, Glowacz und Jasper sind froh, endlich angekommen zu sein.
"Take the Long Way Home" taufen sie ihre Route an den Bastions, weil das Ende der Kletterei erst der Beginn ihres Abenteuers war. Sieben Wochen waren sie in der Wildnis. "Eine Lektion in Demut" sei das gewesen, sagt Glowacz: sich stundenlang auf dem Eis zu bewegen, ohne der nächsten Landmarke spürbar näher zu kommen.
Auch dafür kennen die Inuit ein Wort: "Taulittuq" - das Gefühl, zielstrebig unterwegs zu sein und doch niemals endgültig an ein Ziel zu gelangen. Es ist ein Wort, das einen ganzen Lebensweg bezeichnen könnte. Auch den von Stefan Glowacz und Robert Jasper. Sie wollen es sich merken.