Wie lebendig sowohl die Kunst als auch die Geschichte in Antwerpen sind, dafür steht ausgerechnet ein Totenkopf. Von der Dachterrasse des Museums aan de Stroom (MAS) erblickt man den Schädel: ein 40 mal 40 Meter großes Mosaik auf dem Vorplatz. Der belgische Künstler Luc Tuymans hat den "Dead Skull" aus 96 569 Granitsteinen zusammengesetzt. Die Vorlage, und damit wäre der Bogen zur Geschichte gespannt, ziert eine Gedenktafel an der Liebfrauenkirche, erbaut im 16. Jahrhundert, einer Epoche, in der die Stadt ihren Reichtum in Stein verewigte. Die Tafel ist Quinten Metsijs (1466–1529) gewidmet, einem Mitgründer jener Antwerpener Malerschule, die Peter Paul Rubens hervorbrachte. Wie reich die Stadt war, zeigen auch jahrhundertealte Gildehäuser am Grote Markt, das Quartier der Diamantenschleifer und die Belle-Époque-Paläste der Händlerdynastien.
Antwerpen hat etwa so viele Einwohner wie Nürnberg, aber eine Avantgarde, die es mit Berlin aufnehmen kann. Künstler, Modemacher und Architekten haben sie davor bewahrt, Städtchen zu sein. Allein drei Weltausstellungen richtete sie aus. Und sicher liegt ihre Offenheit auch daran, dass die Welt per Schiff zur Stadt kommt. So besinnt sich Antwerpen heute seiner Wasserlage und belebt die Hafenviertel an der Schelde neu. Das 60 Meter hohe MAS, im Stile eines Containerstapels aufgetürmt, ist seit 2011 das Symbol für die Wiederentdeckung des Wassers. Pioniere dieser Rückeroberung waren die "Antwerpen Six": sechs Absolventen der Königlichen Akademie der Schönen Künste, die ihre Stadt Ende der Achtziger als Modemetropole etablierten. Designer wie Ann Demeulemeester und Dries van Noten zeigten ihre ersten Kollektionen in verwaisten Speicherhäusern. Antwerpens neue Kleider riefen Architekten und Stadtentwickler auf den Plan, die Stadt und Schelde wieder zusammenführten. Die Entwicklung hält an.
Eine Schiffslänge vom MAS entfernt blüht Antwerpens jüngstes In-Viertel auf: Het Eilandje, "das Inselchen", ein von Kanälen und Docks gefasstes Hafenareal, ein neues Zentrum des Nachtlebens und der Kunstszene mit Clubs und Ateliers. Avantgarde bleibt eben Antwerpens Markenzeichen.