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Rell und ihre Verehrer
Rell ist begehrliche Blicke gewohnt. In L. A. pfeift man ihr aus Autofenstern hinterher, an der Ampel fragen wildfremde Männer nach ihrer Adresse. Und als sie die letzte Kurve zum Jalama-Beach-Campingplatz nimmt, stürzt ein bärtiger Verehrer auf sie zu. "Ich kann ein Stück nach rechts rücken" ruft er und winkt zu seinem verrosteten Camper, der einen der raren Panoramaplätze mit Ausblick über den Pazifik besetzt. Der Bärtige zündet eine Sturmlampe an. Romantisch ist es hier. Vorn fischen Pelikane in den Wellen, im Hintergrund erscheinen die Santa Ynez Mountains als Scherenschnitt in der untergehenden Sonne.
Wer mit Rell Sunn reist, muss sich um Bekanntschaften nicht sorgen. Unter Kaliforniern verkörpern VW-Bullis wie unser 73er Pop-Top-Model das Lebensgefühl einer unbeschwerteren Zeit: Surf-Vehikel, Love-and-Peace-Mobil, Freiheit auf vier Rädern. In weniger als zwölf Stunden mit Rell müssen wir ein Kaufangebot abschlagen, zwei Teenager beruhigen ("this car is ... sick" – was als Kompliment gemeint ist) und nun die Avancen des bärtigen Andy abwehren, der zärtlich an Rells Hula-Vorhängen nestelt. Er zeigt uns, wie man ihr Dach mit zwei Handgriffen lüftet und so den Himmel über dem Alkoven öffnet. Mein Mann plädiert fürs Himmelbett. Mein Hund für die bessere Matratze. Chuck ist 1,94 Meter groß. Lotti ist ein Mischling und charismatischer als George Clooney. Wir schlafen unten.


Rell ist das Geschöpf von Bill Staggs. Ein altersmilder Surfer, der vor Jahren auf Oahu ein Schlüsselerlebnis mit einem VW-Bus hatte: Auf einmal nahmen die hawaiianischen Wellenreiter ihn, den Eindringling, in ihrer Mitte auf. Der Bus als Egalisator, als Kontakt-Turbo, als Gefährte. Eine Geschäftsidee war geboren. Heute vermietet Bill acht liebevoll restaurierte Bullis aus seiner Garage in Costa Mesa. Rell Sunn, benannt nach einer hawaiianischen Surferin, ist die Attraktivste seiner Flotte. Wie alle echten Schönheiten ist sie nicht perfekt. Auf dem Flechtledersitz aus einer jüngeren Baureihe sitzt Chuck derart hoch, dass er mit den Knien beim Lenken die Scheibenwischer aktiviert und schon bald seiner kurzwüchsigeren Frau das Steuer überlässt. Die Tankuhr versagt den Dienst. Und eine kapriziösere Kupplung ist mir seit meinem Peugeot 104, Baujahr 76, nicht mehr untergekommen. Der erste Gang lässt sich nur im Stehen einlegen, für den dritten muss man so weit nach rechts rühren, dass der Schaltknüppel dem Beifahrer ins Bein boxt. Rückwärtsparken verlangt eine Mischung aus Tücke und Gewalt.
Ein Kalifornien, von dem die Menschen träumen
Und doch: Nach 100 Kilometern hat man das dringende Bedürfnis, Joan Baez zu hören. Kauft im Bioladen bei Santa Barbara Müsli, um den inneren Hippie zu nähren. Findet es rührend, dass Rell nur bei Rückenwind und abschüssiger Straße auf Höchstgeschwindigkeit kommt – ganze 125 Stundenkilometer.
Keine Straße Kaliforniens böte sich besser an für die Entdeckung der Langsamkeit als der Highway One, der Pacific Coast Highway, den Eingeweihte nur PCH nennen. Bei L. A. regt sich noch etwas wie Wettbewerbsgefühl, wenn einen selbst Sattelschlepper links und rechts überholen. Doch schon in Santa Barbara hat die Gelassenheit das Steuer übernommen. Von dort sind es knapp 100 Kilometer nach Jalama Beach, trotzdem gilt der Campingplatz als "Geheimtipp". Wahrscheinlich, weil man für die letzten 25 Kilometer auf einer engen Schotterstraße hinunter zum Strand fast eine Stunde braucht. Wer etwas vergessen hat, kauft unten im Kramladen ein: Enthaarungsgel, Dosenbohnen, was der Dauergast so braucht.


Wir aber brechen schon im Morgengrauen nach San Simeon auf. Dort kann man sich am Größenwahn des Zeitungsfürsten William Randolph Hearst ergötzen, der hier ein gigantisches Fantasieschloss errichten ließ. Nichts gegen das Hearst Castle, aber Lotti interessiert sich nicht so sehr für Architektur. Eher schon für die keine zehn Kilometer weiter nördlich gelegene Touristenattraktion Piedras Blancas. Dort wälzen sich See-Elefanten wie rülpsende Riesenmaden im Sand.
Dahinter beginnt Big Sur, "el país grande del sur", wie die spanischen Konquistadoren die 145 Kilometer Magie zwischen San Simeon und Carmel nannten. "Hier", schrieb Henry Miller, "ist das Kalifornien, von dem Menschen früher träumten." Riesige Felsformationen erheben sich wie Tempel über den Ozean, der mal lagunenblau schimmert, mal grölend in die Buchten tobt. Wolken treiben über den Highway, als führe man direkt durch den Himmel. Als Miller 1957 "Big Sur oder die Orangen des Hieronymus Bosch" veröffentlichte, schien ihm die "große internationale Autostraße", über die wir gen Norden sicheln, wie eine Bedrohung: Big Sur könne als Vorort von Monterey verkommen, orakelte er, "mit (...) Wurstbratereien, Tankstellen, Geschäftsfilialen und all dem widerlichen Firlefanz". Er irrte. Immer noch leben kaum tausend Leute hier, nicht mehr als zu Henry Millers Zeiten. Ihre Häuser ducken sich in Canyons und verstecken sich im Kathedralen-Dunkel der Redwoods. Als die Big Sur Bakery, ein hübsches Restaurant, jüngst in der New York Times gewürdigt wurde, kamen "ein paar Gäste mehr aus dem schicken Carmel", sagt Mike Gilson, einer der beiden Betreiber. Das war’s.
Hier leben heißt: wetterfest sein
Mike verlor sein Haus in dem verheerenden Waldbrand, der im vergangenen Sommer in Big Sur wütete. "Eine kathartische Erfahrung", findet er. Jetzt sorgt er sich, in der Regenzeit könnten Schlammlawinen von den abgebrannten Hügeln auf den PCH rollen und den Ort vom Rest der Welt abschneiden – es wäre nicht das erste Mal. Big Sur lässt sich nicht leicht erobern. Überall locken bestürzend schöne Buchten, die den Zutritt verwehren. Harmlos herzförmige Blättchen des üppig wuchernden Giftefeus verursachen bei Berührung schreckliche Ausschläge. Fast wie im Museum: Look, but don’t touch.


"Wir ordnen uns der Natur unter", sagt Jack Koch, der morgens in der Bakery Kaffee trinkt. Auf Kosten des Hauses – er war einer der freiwilligen Feuerwehrmänner, die Mikes Haus gegen die Flammen verteidigten. Außerdem ist er Bienenzüchter, Klempner, Haussitter und vor 25 Jahren wegen der heißen Schwefelquellen im Esalen Institute hiergeblieben. "Nachts im Regensturm ist es dort am schönsten." Wer hier lebt, ist wetterfest. Ein paar Kilometer weiter südlich (man sollte die Strecke zwischen Santa Lucia und Bixby Bridge unbedingt ein paar Mal auf- und abfahren, der Perspektiven wegen) macht uns Rell mit Torrey Waag bekannt, Manager des historischen Deetjen’s Gasthauses. "In genau so einem Bus", ruft der 62-Jährige, "kam ich 1973 her!" Ein Banker aus New York auf Sinnsuche, der damals am Strand campte und für freiwilligen Küchendienst im Esalen Institute "Atem-Seminare mit gemeinsamem LSD-Konsum" belegen durfte. Torrey erklärt uns den Weg zum Pfeiffer Beach, an dem wir bereits zweimal vorbeigefahren sind.
Ein Strand wie ein Kunstwerk
Eine unbeschilderte Abfahrt führt hinab. Der Strand liegt da wie ein Kunstwerk, Felsen umrahmen die Gischt, auf dem rötlichen Sand dahingestreut Algen, die aussehen wie Aliens. Danach wirkt der populäre 17 Mile Drive zwischen Carmel und Monterey ein wenig steril. Die Hälfte der "schönsten Küstenstraße der Welt" (Eigenwerbung) führt durch die Reichensiedlung Pebble Beach mit dem berühmten Golfplatz, der Rest ist eine manikürte Version von Big Sur. Freche neun Dollar soll die Passage kosten. Da rümpfen wir in unserem Freak-Mobil die Nase.
Außerdem haben wir eine Verabredung. In Santa Cruz wartet Heath Braddock, 30, blond, bronzefarbene Haut und "Direktor" der Club-Ed-Surfschool. Ed ist Big Wave Surfer und Enkel der ersten Frau, die anno 1915 die Wellen von Waikiki im Kopfstand ritt. Heath tut schwer beeindruckt von unserem stilechten Auftritt. Aber wir fühlen uns ein bisschen wie Blender. Es ist nämlich so, dass Rell mein Surfboard auf dem Dach bislang spazierenfuhr, ohne dass es einmal nass wurde. In Malibu war kein Swell. In Monterey braucht man einen Haikäfig. Und den Brecher vor Jalama Beach nennen sie "Tarantula". In Santa Cruz dagegen wellt sich das Meer heute so lieblich wie vor Waikiki, nur rund 20 Grad kühler. Was soll’s – wozu gibt es Neoprenanzüge? Es ist Sonntagnachmittag, auf der Promenade eine Szenerie wie aus dem Summer Of Love. Glückliche Hippies lassen Hula-Hoop-Reifen kreisen. Im Hintergrund leuchtet der altmodische Vergnügungspark. Heath, das Brett unterm Arm, springt von der Klippe ins Wasser. Und auf dem Parkplatz ist Rell nur eine von vielen.
Reise-Infos und Karte
Reiseinfos:
Reisezeit: In Kalifornien ist das Wetter von März bis Mai und September bis November am angenehmsten. Im Sommer ist es eher heiß und teuer.
VW-Bullis mieten: z.B. bei Vintage Surfari Wagons und California Campers
Noch mehr Reisetipps für die USA finden Sie im aktuellen Heft GEO Saison "USA" (Juni 2009)