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REISEIDEE Berlin: Radeln auf dem Mauerweg

Auf 160 Kilometern Länge umschloss die Mauer West-Berlin. Heute kann man den ehemaligen Grenzverlauf per Fahrrad erkunden

Manchmal macht sie sich unsichtbar, die Geschichte. Und nur das Wissen, dass sie einst diesen oder jenen Ort berührte, lässt sie noch eine Gewissheit sein. Meine Blicke suchen den Boden ab, streifen die Häuserfassaden, die Masten der Straßenlaternen. Aber: nichts. Ich scheitere am Versuch, in Berlin den Verlauf der Mauer abzuradeln. Einst teilte sie die Stadt: Hinterlandmauer, Kontaktzaun, Wachtürme, Hundelaufanlagen, Lichttrassen, Kolonnenweg, Todesstreifen, Graben und schließlich die Betonplattenwand mit Graffiti auf West-Berliner Seite. Verblüffend, wie wenig vom einstigen Wahrzeichen der Stadt noch steht.

Wer 25 Jahre nach der Wende den ehemaligen Grenzverlauf erkennen will, muss nach oben sehen – und nach unten: In 3,60 Metern Höhe, dem Mauermaß, finde ich Wegschilder mit einem stilisierten Wachturm. Und auf dem Boden entdecke ich eine Doppelreihe Kopfsteinpflaster, die den Verlauf des "antifaschistischen Schutzwalls" symbolisiert. Mehr ist nicht geblieben als eine Spur der Steine. Fred kennt ihren Verlauf, er ist Stadtführer bei "Berlin on Bike" und wird einem Pärchen aus München, fünf Rheinländerinnen und mir in vier Stunden zwölf Kilometer deutschdeutsche Vergangenheit zeigen. Wir starten am Prenzlauer Berg. Klamottenläden reihen sich an Bioburger-Buden, an Kneipen, an Cafés. Digitale Bohème, Freiberufler, Mittdreißiger-Mütter und Studenten sitzen vor Latte Macchiato oder Biobrause und genießen den neuen Schick im sanierten alten Osten.

Im Mauerpark schlendern Bürger und Besucher über den Flohmarkt, spielen Boule und schieben Kinderwagen. Bis zur Wende verlief hier die Grenze zwischen Prenzlauer Berg und Wedding. Vom ehemaligen Todesstreifen blieb ein Rest Hinterlandmauer, der Graffiti-Künstlern als Open-Air-Atelier dient. Schließlich stehen wir an der Stelle, wo vor der Grenzöffnung der Straßenzug Bernauer-Eberswalder Straße unterbrochen war. Auf bundesdeutscher Seite befand sich ein Podest, erklärt Fred. Für West-Berliner und Touristen, die einmal einen Blick in die DDR werfen wollten.

Gedenkstätte Berliner Mauer: erst abgerissen, dann nachgebaut

Auch Michael Cramer stieg auf seiner ersten Reise nach Berlin auf diese Aussichtsplattform. 1963 war das. Cramer, von 1989 bis 2004 verkehrspolitischer Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen und seit 2004 im Europäischen Parlament, hatte schon 1989 die Idee für den "Mauerweg". Doch erst zum 40-jährigen Gedenken des Mauerbaus ließ sich sein Vorschlag durchsetzen. Und Cramer schrieb einen der Radreiseführer dazu. Der 160 Kilometer lange Rundweg um die ehemalige Enklave West-Berlin macht die jüngste Vergangenheit auch an einem verlängerten Wochenende erfahrbar. Für die gesamten 1400 Kilometer des deutsch-deutschen Radwegs von der Ostsee bis zur tschechischen Grenze hingegen bräuchte man mindestens zwei Wochen.

Wir folgen Fred zur Gedenkstätte Berliner Mauer. Es ist absurd: Erst wird abgerissen und dann nachgebaut. Wir schauen durch die Schlitze zwischen den Betonblöcken des Mauernachbaus auf die vom nachgebauten Kolonnenweg durchschnittene Fläche zwischen nachgebauter Vorderland- und Hinterlandmauer. Nächster Stopp: Spandauer Schifffahrtskanal. Umgeben von Mietshäusern aus den 1990ern steht ein Wachturm, heute Gedenkstätte. Jürgen Litfin, der Bruder des ersten Mauertoten, führt Besucher durch das Mahnmal. Günter Litfin wurde am 24. August 1961 erschossen, als er versuchte, ans westliche Ufer zu schwimmen.

REISEIDEE: Immer an der Wand lang?
Immer an der Wand lang?
© Michel Setboun/Corbis

Tag zwei: Start in Berlin-Mitte

Im Berliner-Schnauze-Tonfall und mit viel Verbitterung erzählt Litfin vom Tod seines Bruders und vom Leben in der DDR. Nach einer guten halben Stunde sind auch die fröhlichen fünf Freundinnen aus dem Rheinland schweigsamer. Wir radeln weiter: Invalidenfriedhof mit Mauerresten. Kunstinstallation "Parlament der Bäume". Brandenburger Tor. Potsdamer Platz. Niederkirchner- und Zimmerstraße mit 200 Metern Originalmauer. Hier hatte im Haus der Ministerien Walter Ulbricht noch am 15. Juni 1961, zwei Monate vor Baubeginn, verkündet: "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten."

Schließlich, am Ende unserer Tour, wieder ein Nachbau: Checkpoint Charlie. Die originale Kontrollbaracke steht im Alliierten Museum in Zehlendorf. Vor der Kopie posieren Touristen. Tag zwei starte ich in Berlin-Mitte. Vorbei an Schülern mit NVA-Mützen und US-Amerikanern auf "Trabi-Safari" radle ich zur East Side Gallery. Rund 1,3 Kilometer Berliner Mauer wurden von Künstlern aus aller Welt bemalt. Über die Oberbaumbrücke geht es nach Kreuzberg (West) und Treptow (Ost), wo ich - auf der Suche nach dem Mauerweg - den Rennradler Guido kennenlerne und ihm stadtauswärts folge. "Früher war jede Himmelsrichtung Osten", sagt er. Ich habe Mühe, das Tempo zu halten.

Wir rasen an der Kleingartenkolonie "Harmonie" vorbei, die im Ostbezirk Treptow schlummert. Rechts liegt der Westen, und dazwischen der Britzer Verbindungskanal. In ihm wurde in der Nacht vom 5. auf den 6. Februar 1989 der 20-jährige Chris Gueffroy erschossen, als er versuchte zu flüchten. An den letzten Mauertoten erinnert eine Stele. Wir erreichen den Stadtrand. Bevor sich Guido von mir verabschiedet, zeigt er auf ein Stück Hinterlandmauer auf einer Wiese. Ab Flughafen Schönefeld fahre ich allein weiter. Links und rechts des Kolonnenwegs Felder, Pferde, Hühner. Wo hier die Mauer verlief, muss man erfragen - sehen kann man die einstige Grenze nicht.

Hinter Kleinmachnow entdecke ich den ehemaligen West-Berliner Kontrollpunkt Dreilinden, links davon die Gebäude des Checkpoint Bravo, dahinter die Ruinen der GÜST Drewitz, einer der größten Grenzübergangsstellen der DDR. Ich erreiche Griebnitzsee. Der Süd-Bahnhof war früher Grenzstation - und deshalb auf DDR-Landkarten nicht verzeichnet. Ein Geisterbahnhof. Den Rest des Mauerwegs spare ich mir für den nächsten Besuch auf. Ich werde wieder auf die Suche gehen, in Wohngebieten und Wiesen nach der Grenze Ausschau halten. Sehr wahrscheinlich werde ich mich verfahren. Werde Berliner kennenlernen und Einblicke erhalten in die Geografie dieser Stadt. In der heute alles Osten ist. Und alles Westen.

GEO SAISON Nr. 05/2009 - Radtouren in Deutschland

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